Unsere Verantwortung gegenüber hunderttausendfachem Leid

Vor hundert Jahren verübten die Osmanen Völkermord an den Armeniern. Diese historische Realität hat Bestand, egal ob „nur“ eine halbe oder eineinhalb Millionen Menschen ums Leben kamen und egal, ob die türkische Regierung dies nun anerkennen mag oder nicht: Der Genozid lässt sich nicht leugnen. Völkermord scheint eine Konstante im Miteinander der Menschheit zu sein, schon immer, bis in unsere Zeit. Beim Völkermord in Ruanda wurden bis zu einer Million Tutsi getötet, Angehörige einer ethnischen Minderheit Ruandas. Im Jahr 1994, vor 21 Jahren, nicht vor hundert Jahren. Was derzeit in Syrien passiert, übertrifft dieses unfassbare Leid noch. Auch die Deutschen haben Völkermord verübt, nicht nur einmal. Der Genozid an den Juden hat zu Recht tiefe Spuren in der deutschen Staatsräson hinterlassen. Über den Völkermord an den Hereros hingegen reden wir gar  nicht. Aber wir reden über den Völkermord an den Armeniern, der – wohl mit deutscher Hilfe – während des Ersten Weltkriegs von den Osmanen verübt wurde. Ist es richtig, die Dinge beim Namen zu nennen? Staatskunst, das wissen wir nicht erst seit der Ukrainekrise, besteht unter anderem darin, die Dinge manchmal eher ein bisschen weichzuspülen. Was bringt es der deutschen und der europäischen Politik, den Genozid an den Armeniern ausgerechnet jetzt zu betonen, wo wir der Mithilfe der Türkei bei der Lösung zahlreicher Konflikte — heutiger Konflikte! — eigentlich dringend bedürften?

Diese Frage wirft Yousif S. Toma aus Frankfurt in einem etwas längeren Leserbrief auf, der heute, 28.4.2015, im Print-Leserforum der FR erscheint. Die ungekürzte Version veröffentliche ich hier im FR-Blog als Gastbeitrag.

Unsere Verantwortung gegenüber hunderttausendfachem Leid

Yousif S. Toma

Nehmen wir an, dass das Massaker gegen die Armenier 1915 tatsächlich ein Völkermord war.

Im Hinblick auf die aktuellen Massaker und das unendliche Leiden von Millionen Menschen in der Welt muss aber meines Erachtens diskutiert werden, ob die Bundesregierung, die EU und andere Regierungen in ihren offiziellen Erklärung das auch so nennen sollten / müssen, obwohl die jetzige türkische Regierung nicht bereit ist, das so zu akzeptieren und verärgert reagiert. Kann uns das egal sein?

Eine Lösung der aktuellen Probleme im Nahen Osten kann nur erreicht werden, wenn die wichtigen / einflussreichen Beteiligten Türkei, Iran, Saudi-Arabien USA, EU und Russland (evtl. auch Pakistan, Indien und China) zusammenkommen und ernsthaft nach Wegen suchen, die zur Beendigung der humanitären, ökonomischen und politischen Katastrophen – jetzt schon mit weltweiten Auswirkungen – führen können. Solange das nicht passiert, werden mit jedem Tag mehr unschuldige Menschen sterben (auch im Mittelmeer), verletzt und vertrieben werden und ganze Städte zerstört werden, die Flüchtlingsströme werden fortbestehen und anwachsen.

Das bedeutet, dass die Weltgemeinschaft, insbesondere die oben genannten Staaten, alles machbare tun müssen, was ihrer gegenseitigen Annäherung und der Vertrauensbildung dient. Sie müssen andererseits alles unterlassen, was die Annäherungen und damit eine mögliche Lösung der anstehenden Probleme erschwert bzw. zeitlich verzögert.

Vor diesem Hintergrund erheben sich im Zusammenhang mit der „Völkermord-Diskussion“ viele Fragen: Ist es möglich, dass die offizielle Benutzung des Ausdrucks „Völkermord“ bei der jetzigen türkischen Regierung eine weitere Abkühlung der Beziehungen zwischen der EU bzw. ihren Mitgliedsstaaten und der Türkei bewirken und so negative Auswirkungen auf die dringend notwendige Befriedung im Nahen Osten haben würde? Darf das in Kauf genommen werden?

Die Befürworter der Benutzung des Ausdrucks „Völkermord“ in den offiziellen Erklärungen zum 100-jährigen Gedenktag führen zur Begründung ihrer Haltung u.a. an: Treue zu unseren Werten, Mut zur Wahrheit, nicht vor dem Despoten in Ankara in die Knie gehen und am häufigsten: Unsere Verantwortung gegenüber den armenischen Opfern und die gebührende Anerkennung des erlittenen Leidens. Viele Menschen – ich auch – können das unterschreiben. Aber: Wie steht es denn mit unserer Verantwortung gegenüber den hunderttausenden Syrer, Iraker, Libyer, Jemeniten etc., die in den letzten 5 Jahren getötet wurden (und weiterhin täglich getötet werden) und den Millionen, die unendliches Leid erlitten haben (und weiterhin erleiden)? Wie kann verantwortet werden, dass die mögliche – und dringend erforderliche – Lösung von Problemen, die sich bis nach Europa, in fast jede deutsche Kommune hinein auswirken und zu unglaublichen Katastrophen, auch im Mittelmeer, beitragen durch das Beharren auf die Bezeichnung „Völkermord“ beeinträchtigt wird?

Man kann natürlich argumentieren: Hier würden zwei unterschiedliche Dinge vermischt. Erdogan darf seine Haltung im Nahost-Konflikt von einer Erklärung, die den Ausdruck „Völkermord“ enthält, nicht beeinflussen lassen. Unsere politischen Entscheidungsträger in Berlin und Brüssel müssten aber genau wissen, wie jemand wie Erdogan und seine „Handlanger-Regierung“ ticken! Eine negative Auswirkung hinsichtlich der erforderlichen Zusammenarbeit kann m.E. nicht ausgeschlossen werden. Wer kann das verantworten? Was ist der Gewinn, der diese mögliche Gefahr aufwiegt? Wie kann eine solche Politik gegenüber den Opfern der heutigen Massaker vertreten werden?

In der heutigen Zeit brauchen nicht „Mut zur Wahrheit“, sondern ungeheuer viel Mut, auch einem Despoten entgegenzukommen, wenn dadurch allein die Hoffnung steigt, dass das tägliche Töten und Leiden verringert / beendet werden kann. Kofi Annan hat einmal sinngemäß gesagt: „Um wichtige Ziele zu erreichen habe ich viele Hände geschüttelt, die mit Blut verschmiert waren!“.

Zurück zu den armenischen Opfern: Was würden die 1,5 Millionen getöteten Armenier heute denken und sagen, wenn sie die aktuelle Diskussion um die Bezeichnung „Völkermord“ verfolgen und einen Blick auf das schreckliche Blutvergießen in vielen Teilen der Welt und die Millionen von Opfern der Tötung, Vertreibung, Flucht (Mittelmeer!) und Erniedrigung werfen könnten? Würden sie uns nicht zurufen:  „Macht alles, was die Staaten und Völker einander näher bringt und vermeidet alles, was die Konflikte vertieft und ihre Lösung erschwert“? Ich glaube, dass sie uns genau das zurufen würden.

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13 Kommentare zu “Unsere Verantwortung gegenüber hunderttausendfachem Leid

  1. Der Beitrag spricht einen wichtigen Punkt an , der aktuell auch im Zusammenhang mit der Ukraine ein bißchen vergessen wird – die Welt ist nicht perfekt und man kommt nicht umhin , mit teilweise recht zweifelhaften Subjekten in Kontakt zu treten , mal abgesehen davon , daß auch Teile der eigenen Vertreter – insbesondere denen der Ökonomie – aus Leuten bestehen , die dem ein oder anderen Potentaten kaum nachstehen.

    Verhandlungen zwischen Staaten sind etwas Anderes als die private Suche nach Freunden und Bekannten , leider ist das bei uns etwas überlagert von einem denkfaulen Wohlfühl-Idealismus , der in Wahrheit gar keiner ist und jederzeit kippen kann in eine genauso nonchalante Kriegstreiberei.
    Dennoch muß der Westen seine vorgeblichen Werte vorleben , um glaubwürdig zu sein , da die richtige Mitte zu finden , ist nicht einfach , aber nemand hat behauptet , Politik sei so im Vorbeigehen zu machen.

    Das Spielfeld dafür ist denn auch nur bedingt die Diplomatie , sondern eher das „alltägliche“ Handeln , und da hat der Westen weiterhin eine fette Achillesferse , die Diskrepanz zwischen politischem Reden und okönomischem Handeln.

  2. Eine sehr seltsame und – um es klar zu sagen – keinesfalls zu billigende Gleichung, die Herr Toma hier aufmacht. In letzter Logik lautet sie:
    Benennen von Völkermord = Konflikte vertiefen = Mitverantwortung an neuen Massakern.
    Und in der Umkehrung:
    Leugnen von Völkermord = Konflikte entschärfen = Verhinderung neuer Massaker.

    Sicher eine verkürzte Darstellung, aber notwendig, um die Absurdität einer „Logik“ vor Augen zu führen, die nicht nur Moral auf den Kopf stellt. Die mit pseudohumanitärem Anspruch daherkommt, dass so „das tägliche Töten und Leiden verringert“ werde, und doch nur blankem Macchiavellismus das Wort redet.
    Herr Toma: Wenn Sie so genau zu wissen meinen, wie ein skrupelloser Machtpolitiker wie Herr Erdogan „tickt“, wenn er seine Politik auf nachhaltigen Lügen aufbaut, glauben Sie dann im Ernst, er sei aus bloßer Dankbarkeit zur Mitarbeit an der „Lösung“ von Konflikten bereit und nicht, weil es in seinen Augen dem eigenen Machterhalt dienen könnte? Und meinen Sie im Ernst, man könne Konflikte lösen, indem man ausgerechnet einem Herrn Erdogan die Entscheidungsbefugnis darüber zubilligt, was als „wahr“ zu gelten habe und was nicht, was „Staaten und Völker einander näher bringt“ und was nicht? Was für ein Wort in den Augen eines „Despoten“ (der Ausdruck stammt von Ihnen)! Könnte es sein, dass Sie hier den „Despoten“ mit seinem Volk gleichsetzen?
    Und hat etwa der Kuschelkurs gegenüber diesem Despoten verhindert, dass er, eigenem Machtkalkül folgend, einen IS tatkräftig unterstützt?

    Leugnung des Holocausts ist nicht nur in Deutschland, sondern nach „EU-Richtlinie zur Bekämpfung von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit“ (2007) auch in allen EU-Ländern strafbar. Und die Leugnung des Völkermords an Armeniern soll politischer Klugheit entsprechen und der Völkerverständigung dienen?
    Soll etwa einem Land wie Griechenland verwehrt werden, der eigenen Opfer von Massakern der deutschen Wehrmacht zu gedenken, weil es sich in einem extremen Abhängigkeitsverhältnis zu Deutschland befindet (wobei die deutsche Regierung noch lange nicht mit der Machtclique eines Erdogan zu vergleichen ist)?

    Ich halte die Unterstellung, das Benennen von Völkermord könne „gegenüber den Opfern der heutigen Massaker“ nicht „vertreten“ werden, sogar für reichlich zynisch. Umgekehrt wird ein Schuh daraus!
    Morde und Folterungen geschehen vorwiegend, weil sich die Täter in ihrem Machtwahn unantastbar glauben und meinen, nicht zur Verantwortung gezogen zu werden. Die grässlichen Folterungen von Abu Ghraib waren vor allem dadurch möglich, weil die USA sich weigert, die Strafgerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte für ihre Soldaten anzuerkennen und ihnen so in ihren Augen einen Freibrief für ihre Untaten erteilt. Mit Sicherheit gilt Ähnliches für Nazi-Mörder, die sich in ihrem Überlegenheitswahn unantastbar glaubten.

    Die Wahrheit zu benennen, ist nicht nur eine Frage der Moral, sondern auch der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen: Es trägt dazu bei, das Risiko neuer Massaker zu erhöhen, indem es deutlich macht, dass solche nicht ungesühnt bleiben werden.

    Natürlich kenne ich die verquere Logik, die in sprachlicher Verdrehung solche Argumentation als angeblich realitätsfernes „Gutmenschentum“ denunziert und engstirnig-resignative Sicht mit „Realismus“ verwechselt.
    Hans und Inge Scholl und ihre Mitstreiter der „weißen Rose“ waren in langfristiger Sicht die wirklichen Realisten, auch wenn sie in ihrem idealistischen Denken an den Machthabern ihrer Zeit gescheitert sind. Sie wirken weit über ihren Tod hinaus, indem sie Zeichen dafür gesetzt haben, nach welchen Prinzipien Wirklichkeit zu gestalten ist.

    Als Gymnasiast in Freiburg blickte ich von meinem Klassenzimmer aus, direkt gegenüber dem Hauptgebäude der Universität, oft auf die in den roten Sandstein gehauenen Lettern: „Die Wahrheit wird euch frei machen“. Eine Inschrift, die sich mir eingeprägt hat und Anlass zu tiefgehenden Überlegungen gibt. Die auch in ihrer Umkehrung gilt, und nicht nur in Bezug auf wissenschaftliche Forschung: Dass Verschweigen der Wahrheit ein Ausdruck von Unfreiheit ist.

  3. Im Gastbeitrag von Yousif S. Toma ist die Spekulation enthalten: „Wir brauchen doch die Türkei oder „die Türken“ bzw. ihren derzeitigen Präsidenten Erdogan noch für wichtige andere Problemlösungen, deshalb sehen wir nicht so genau beim Genozid an den Armeniern hin.“

    So handelte schon einmal die Deutsche Reichsregierung, und das war doch schon damals erbärmlich, außerdem ist Erdogan weder mit der Türkei, noch „den Türken“ gleich zu setzen, auch überlebende Armenier bzw. heute deren Nachkommen sind doch noch eine kleine Minderheit unter der Bevölkerung der Türkei.
    Nur das Aussprechen der historisch verbürgten Wahrheit und der historisch verbürgten Fakten allein ist m.E. hier geboten, für die Türkei, „die Türken“, die Armenier und auch für uns deutsche Staatsbürger und deren Regierung.

  4. In seiner Argumentation relativiert und vermischt Yousif S. Toma das alltäglich unerträgliche Blutvergiessen und Massensterben mit dem Völkermord. Er setzt auf pragmatischen Nutzen. Genau darum hat Deutschland damals nichts gegen den Völkermord getan. Es schien nicht nützlich, dem türkischen Kriegsverbündeten Einhalt zu gebieten und ihn zu verärgern. Aber es war Völkermord, weil vorsätzlich und organisiert. Schwerverbrecher wurden aus den Gefängnissen geholt, die das Morden vollziehen „durften“.(Historiker Raymond Kevorkian am 28.4.2015 auf ARTE). Über 200 Vertreter der armenischen Elite wurden am 24.4.1915 verhaftet und ermordet. Der Dichter Daniel Varuschan wurde an einen Baum gebunden und gesteinigt.
    Noch Fragen?

  5. In der ARD sollte sich jeder die Bilder ansehen, aber bitte beeilen:
    http://www.ardmediathek.de/tv/V%C3%B6lkermord-an-den-Armeniern-100-Jahre/Dossier?documentId=27679432

    Besonders diese Dokumentation(nur noch heute):
    ………………………………………………
    Reportage / Dokumentation: Aghet – ein Völkermord | Video der Sendung vom 24.04.2015 00:20 Uhr (24.4.15)
    Aghet – ein Völkermord

    24.04.2015 | 93:16 Min. | Verfügbar bis 30.04.2015 | Quelle: Das Erste

    „Aghet“ (armenisch: „die Katastrophe“) erzählt von einem der dunkelsten Kapitel des Ersten Weltkriegs: dem Genozid an den Armeniern, bei dem zwischen 1915 und 1918 bis zu 1,5 Millionen Menschen im Osmanischen Reich (heute Türkei) ums Leben kamen.
    ……………………………………………………….
    http://www.ardmediathek.de/tv/Reportage-Dokumentation/Aghet-ein-V%C3%B6lkermord/Das-Erste/Video?documentId=27876052&bcastId=799280

  6. Das Gedenken an den Völkermord an den Armeniern hat in Deutschland eine lebhafte Debatte im politischen und kirchlichen Raum ausgelöst. Die Debatte im Bundestag wurde, wie die FR berichtet, beeinflusst durch eine Rede von Bundespräsident Gauck, die er am Vortag anlässlich eines ökumenischen Gedenkgottesdienstes im Berliner Dom gehalten hat.

    Ein ähnlicher Gottesdienst ist im Jahr 2004 leider versäumt worden, als es um das Gedenken an den Völkermord an den Herero und Nama in Namibia, der ehemaligen deutschen Kolonie, ging. Auch damals schon veröffentlichte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine Erklärung zum Völkermord an den Armeniern. Der Ratsvorsitzende forderte im Berliner Dom die Regierung der Türkei auf, sich mit ihrer historischen Rolle auseinander zu setzen. Hundert Jahre nach der Vernichtung der Herero und Nama in Namibia versäumte er aber, sich mit der eigenen historischen Rolle als Kirche auseinander zu setzen und entsprechende Forderungen an die eigene Regierung zu richten.
    Man muss sich also fragen, warum diese beiden Völkermorde Anfang des letzten Jahrhunderts im Gedenken so unterschiedlich behandelt werden. Darauf hat Christian Bommarius in dieser Zeitung dankenswerterweise schon hingewiesen.

    Als Mitglieder einer kirchlichen Arbeitsgruppe, die während der Zeit der Apartheid entstanden ist und sich seitdem kritisch mit den kirchlichen Beziehungen zum südlichen Afrika auseinander setzt, fragen wir, warum in dieser Frage verschiedene Standards angewendet werden. Wir möchten einige Gründe benennen:

    In der Türkei ging das mörderische Handeln von einer muslimischen, in Namibia dagegen von einer christlichen Regierung aus.

    Armenien ist Teil von Europa beziehungsweise europanah. Bei diesem Genozid sind „Weiße“ die Opfer, im Falle Namibias „Schwarze“.

    Im Fall des Völkermords an den Armeniern ist Deutschland nur als Verbündeter des Osmanischen Reiches beteiligt. Im Fall Namibia war die Regierung des deutschen Reiches für die Vernichtung direkt verantwortlich. Damit war auch die Vorläuferorganisation der EKD als Bestandteil des Kaiserreichs direkt betroffen. Die deutsche Gemeinde in Windhuk war Teil des Kriegs- und Vernichtungsgeschehens und wurde während der Zeit durch diese Vorläuferorganisation unterhalten und unterstützt. Noch heute profitieren deutschstämmige Siedler und Mitglieder einer Partnerkirche der EKD von dem damaligen mit dem Völkermord verbundenen Landraub.

  7. Wenn Ereignisse sich jähren, ist die Öffentlichkeit – oder zumindest die politische Prominenz – geneigt, ihrer zu gedenken. Dazu braucht es keinen besonderen aktuellen Anlaß. Man gedenkt am liebsten an zehner, fünfundzwanziger u.s.w. Jährungen, wobei das volle Hundert doch eine besondere Rolle spielt.

    Und heuer, nach hundert Jahren des Vergessens oder ein bißchen daran Erinnerns, ist die Türkei dran, die sich als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches mit dem Vorwurf des Völkermordes an den Armeniern zu Zeiten des ersten Weltkriegs etwas heftiger konfrontiert sieht, und von niemand anderem – der Jährung angemessen – als von unserem Bundespräsidenten Joachim Gauck.

    Ich weiß nicht, was Herrn Gauck dazu getrieben hat, in mittelbarer Nachfolge Heinrich Lübkes, den Präsidenten der befreundeten Türkei nachhaltig zu verärgern. Wahrscheinlich hatte er noch eine Rechnung mit Frau Merkel offen.

    In Europa ist man sich mehrheitlich darüber einig, daß das Osmanische Reich des Völkermordes an den Armeniern im Verlauf des ersten Weltkrieges schuldig sei. Die Indizien sprechen dafür. Dennoch halte ich es für politisch nicht opportun, die Türkei, d.h. nicht nur ihre Regierung, sondern auch den Großteil ihrer Bevölkerung zu vergrätzen. Man sagt ja auch einer häßlichen Frau nicht, sie sei häßlich.

    Im übrigen ist noch kein Staat wegen Völkermordes von einem internationalen Gericht schuldig gesprochen worden. In dem einzigen mir bekannten Fall wurden die Klagen von Serbien und Kroatien, die einander des Völkermordes bezichtigten, vom Internationalen Gerichtshof abgewiesen.

    Ich hoffe doch, einigermaßen mißverstanden zu werden.

  8. Zum Kommentar von Frauke Heiermann und Markus Braun vom 1. Mai 2015 18:13:
    Die Türkei hat auch dieses eigene Defizit des Armenier-Genozids noch aufzuarbeiten.
    Wenn hier der Bogen rückwärts von den Armeniern zu den Herero und anderen in den früheren deutschen Kolonien geschlagen wird, dann ist der m.E. Hauptverantwortliche auch zu nennen, außerdem kann man den Bogen rückwärts auch noch weiter schlagen, zum „Boxeraufstand“ oder „Boxerkrieg“.
    Dazu verlinke ich: http://de.wikipedia.org/wiki/Boxeraufstand
    Darin werden die “ Vereinigten acht Staaten (bestehend aus dem Deutschen Reich, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Österreich-Ungarn, Russland und den USA)“ genannt.
    Jetzt kommt also wieder einmal „dünnes Eis“ der Historie, der Staaten und auch der Völker in die Debatte.
    Getreu der Devise „Ein jeder kehre vor seiner eigenen Türe“ aber war einer der Hauptverantwortlichen für viel Unglück, auch in der weiteren deutschen und internationalen Geschichte der Kaiser Wilhelm II., der anläßlich des „Boxeraufstands“ schon seine berüchtigte „Hunnenrede“ 1900 hielt. Der „Lotse“ Bismarck ging ja vorher 1890 von Bord, in der Kapitänskajüte hatte es sich da bereits ein Mann mit einem ausgeprägten Minderwertigkeitskomplex 1888 bequem gemacht, den er dann ständig kompensierte. Danach hatten die Deutschen im angelsächsischen Sprachraum ihren „Spitznamen“ weg, den auch der englische Premier Sir Winston Churchill später gebrauchte: „The Hun is always either at your throat or at your feet.“

  9. Mein Leserbrief hat diese Diskussion ausgelöst. die ersten Kommentare betreffen direkt meinen Beitrag. Ich möchte mich bei allen Diskutanten für Ihre auch z.T. sehr kritischen Bemerkungen danken. Sie haben mir noch zusätzliche Fragen – auch zu meiner eigenen Haltung in dieser Frage – gegeben.
    Dennoch möchte ich folgendes klarstellen:
    1. Ich wollte niemanden dazu auffordern, den Völkermord gegen die Armenier zu LEUGNEN. Etwas mit einer bestimmten Bezeichnung nicht zu bezeichnen, ist nicht notwendigerweise eine LEUGNUNG. Sonst müsste ich annehmen: Frau Merkel und Herr Gaugk und …. LEUGNEN die Menschenrechtsverletzungen in Ägypten (Präsident Sisi ist eingeladen, 1000 Todesurteile, Folter gegen Oppositionelle), LEUGNEN Menschenrechtsverletzungen in Guantanamo und sonstige CIA-Folter, Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen durch Israel etc. Soweit zum Thema Leugnung des Völkermords.
    2. Wenn Russland z.B. gegenüber dem Tschetschenen-Volk sich so verhalten würde, wie Israel gegenüber dem palästinensischen Volk, wie würden sich Frau Merkel und Herr Gauck äußern? Die politische Begründung für die (öffentliche) Zurückhaltung gegenüber Israel ist (neben der deutschen Geschichte)die Annahme: Wenn wir Israel verärgern, können wir keinen Beitrag zur Lösung des Israel-Palästina-Problems leisten. Kann diese Logik nicht auch gegenüber der Türkei (s. mein erster Beitrag) befolgt werden?
    3. Ich befasse mich intensiv mit den Entwicklungen in Syrien und Irak und habe kürzlich die Kurdistan-Region im Irak besucht und das Leiden hautnah erlebt (anders als im Fernsehen). Daher beschäftigt mich die Frage der „Prinzipientreue“ und Verringerung des Leidens so stark. Wenn unser Präsident so prinzipientreu ist und wenn FREIHEIT sein Thema ist, wann wird er über Freiheit in Ägypten oder Freiheit für das palästinensische Volk oder die Häftlinge in Guantanamo sprechen?
    Nochmals, Danke an die Kritiker meines ersten Beitrags

  10. Zum Zitat:
    „Wenn unser Präsident so prinzipientreu ist und wenn FREIHEIT sein Thema ist, wann wird er über Freiheit in Ägypten oder Freiheit für das palästinensische Volk oder die Häftlinge in Guantanamo sprechen?“

    Auch das werden spätere Generationen in Deutschland sicher noch tun, aber jetzt ist auch das Wort von Gustav Heinemann immer noch sehr frisch im kollektiven Gedächtnis der Deutschen:

    „Wer mit dem Zeigefinger allgemeiner Vorwürfe auf den oder die vermeintlichen Anstifter oder Drahtzieher zeigt, sollte bedenken, dass in der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger zugleich drei andere Finger auf ihn selbst zurückweisen.“

    Wir Deutsche müssen uns m.E. jetzt nicht schon besonders hervortun in Sachen Israel und Naher Osten, sondern in erster Linie den Überlebenden der Shoa und allen Zeitzeugen zuhören.
    Guantanamo und Agypten sind etwas andere Themen, aber durchaus artverwandt.
    Außerdem ist „das palästinensische Volk“ ein Kunstbegriff, den es auch erst seit weniger als einhundert Jahren gibt. Diese Zeiträume sind für die Historie* des Nahen Ostens doch manchmal nur „Peanuts“.

    Um beim Thema „Palästina“ und artverwandte Themen ernsthaft mitreden zu können, sollte man m.E. die Geschichte dieser Region und auch alle dazu gehörenden Begrifflichkeiten zumindest halbwegs kennen.
    Dazu vielleicht auch ein Blick in die Wikipedia, kann ja nicht schaden:

    Zitat aus der WP:
    ……………………………..

    Palästina steht für

    Palästina (Region) an der südöstlichen Küste des Mittelmeeres
    Palästinensische Autonomiegebiete
    den von der Palästinensischen Befreiungsorganisation ausgerufenen Staat Palästina

    historisch:

    Palaestina, eine Provinz des Römischen Reiches
    Völkerbundsmandat für Palästina (1920–1948)

    ……………………………

    *Da kommen also ca. 3.000 Jahre zusammen ……..

  11. Und rechne ich noch die alten Hochkulturen am Nil und im Zweistromland dazu, dann werden auch aus 3 Tausend Jahren schnell 6 Tausend Jahre oder mehr.
    You unterstand now?

  12. Völkermorde sind also viele in der Historie überliefert, aber auch in ihren Ausmaßen und ihrer Durchführung sehr unterschiedlich.
    Außerdem ist der Begriff „Völkermord“ teilweise ein „Terminus technicus“, evtl. ein juristischer Begriff, dessen Wirksamkeit von einer gerichtlichen Feststellung abhängt, oder eine zulässige Meinungsäußerung nach Art. 5 GG. Begriffe unterliegen i.d.R. auch noch zeitlichen Abhängigkeiten. Nach den heutigen Begrifflichkeiten war die Vertreibung und aktive bzw. passive Ermordung durch Unterlassung (Verhungern und Verdursten lassen) von geschätzten 1,5 Mio. Armeniern durch das Osmanische Reich unter den „Jungtürken“ ein Völkermord (Genozid).
    Diesen Völkermord kann man dann auch im Zusammenhang mit dem späteren industriellen Massenmord an europäischen Juden, einem noch größeren Völkermord, durch das sog. „III. Reich“ unter den Nationalsozialisten sehen.
    Dazu brauchen Sie nur die Begriffe „Völkermord Armenier Blaupause“ in eine Suchmaschine einzugeben und die angezeigten Treffer auch zu lesen.

  13. Zur Abrundung und der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß es für den Holocaust / die Shoa aber noch eine andere „Blaupause“ gab. Die industriell durchgeführte Vergasung wurde ja auch vorher schon an unschuldigen Menschen im großen Stil erprobt.

    Stichworte für die Suchmaschine wären: „Aktion T4 Blaupause Probelauf Holocaust“.

    Einer der Treffer:“NS-Euthanasie: Der Probelauf zum Holocaust“
    http://www.dw.de/ns-euthanasie-der-probelauf-zum-holocaust/a-16569574

    Daran haben sich auch hessische Psychiatrien und deren Psychiater beteiligt. Der Rassenwahn der Nazis ist ja ein Wahn nach den Kriterien des ICD-10, Grundlage für diesen Wahn waren einige Universitäten mit deren Eugenikern (Eugenik oder „Rassenhygiene“).
    Siehe auch: „SOZIALDARWINISTISCHE STERILISATIONS- UND EUTHANASIEGESETZE“
    http://m.harunyahya.de/tr/works/5086/DER-DARWINISMUS-ALS-SOZIALE-WAFFE/chapter/8527/Sozialdarwinistische-sterilisations–und-eutanasiegesetze

    Auch das war eine moralisch bedingungslose Kapitulation, diesmal von Psychiatern aus der Psychiatrie. Dazu Fußnote [1]
    (Die deutsche militärisch bedingungslose Kapitulation später jährt sich heute ja zum 70. Mal, an die wird überall erinnert, auch durch pompöse Militärparaden, wieder ein anderes Thema, siehe evtl. „Putins hybrider Krieg“)

    Diese pseudowissenschaftliche Eugenik bzw. „Rassenhygiene“ stellte auch mit anderen kruden Ideen den gedanklichen „Überbau“ des deutschen Nazismus (ein totalitäres System) dar, ein pseudoreligiöses Gedankengebilde, das aus vielen Menschen (auch Familienvätern und Müttern) dann Mörder ohne eine Menschlichkeit mehr werden ließ.

    Ein anderes totalitäres System des vergangenen Jahrhunderts war der Kommunismus, sein „Überbau“ war der ebenfalls pseudoreligiöse „wissenschaftliche“ Marxismus-Leninismus, da ergeben sich durchaus systemtheoretische Ähnlichkeiten. Im heutigen Jahrhundert wäre dann der „Islamische Staat“ – oder IS – als totalitäres System zu nennen, sein „Überbau“ ist jedoch nicht mehr pseudoreligiös, sondern nun religiös.

    Dem Völkermord an den Armeniern kommt die Rolle eines „Büchsenöffners“ im 20. Jahrhundert zu, für die neuzeitliche „Büchse der Pandora“.

    [1] {Kleine Abschweifung noch: Die Rolle der Psychiatrie ist übrigens ja auch hochinteressant, damals und auch heute noch ist es in der Psychiatrie zulässig, andere Menschen gegen deren eigenen (natürlichen) Willen zu „behandeln“, früher ganz offen und direkt, heute immer noch über das Konstrukt der „Einsichtsunfähigkeit“, die eine „freie Willensbildung“ nicht ermögliche. Jede Zwangsbehandlung oder andere Vergewaltigung dieser Art in der Psychiatrie hat diesen „Überbau“ und schuf sich damit eine eigene „Legitimation“, indem der „natürliche“ Wille dem sog. „freien“ Willen untergeordnet, damit aber gebrochen wird. Psychiater sind das also gewohnt und haben eine unrühmliche Rolle bei der Aktion T4 gespielt. Wenn „normale“ Mediziner als „Halbgötter in Weiß“ vom „Volksmund“ heute bezeichnet werden, wären die Psychiater die „Dreiviertelgötter in Weiß“ …. 🙂

    Fazit: So wie Menschen beschaffen sind, sind sie durch einen entsprechenden „Überbau“ manipulierbar und zu Unmenschen mutierbar. Die Psychologie der Individuen und Massen liefert auch die empirischen und wissenschaftlichen Beweise, durch viele Experimente auch belegt, Belegstellen könnte ich auch noch nachliefern. Die Psychiatrie mit ihren Diagnosen – auch nach ICD-10 – dagegen ist keine Wissenschaft, die Psychologie aber schon.}

    Weiteren Kommentaren anderer User sehe ich mit großem Interesse entgegen …….

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