Handgreifliche Auseinandersetzungen

Handgreifliche Auseinandersetzungen

Von Klaus Philipp Mertens

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Die 50er Jahre habe ich, dessen Familie nicht flüchten musste, dennoch als ein Jahrzehnt der Flüchtlinge und des Fremdseins erlebt. Und das vielfach aus einer unmittelbaren Beobachterposition heraus, manchmal sogar als direkt Beteiligter.

Mertens 1955Ich bin in Dortmund geboren und dort auf aufgewachsen. Meine Mutter stammte aus der Rheinpfalz, aus der Stadt Frankenthal. Dort hatte mein Vater sie während des letzten Jahrs des Zweiten Weltkriegs kennengelernt. 1946 hatten sie geheiratet und waren in die Heimat meines Vaters, nach Dortmund, gezogen. Dieser Umzug von der französischen in die britische Besatzungszone gestaltete sich offenbar schwierig. Meine Eltern erzählten noch häufig von langwierigen Formalitäten. An der Grenze zwischen den Besatzungszonen, die ungefähr bei Andernach verlaufen sein muss, war mein Vater im Zug zweimal festgenommen worden, weil ihm Papiere zum Passieren der Demarkationslinie fehlten.

Der Autor mit neuem Tretroller
im Jahr 1955.
Foto: Privat

Die Mutter meines Vaters nahm die Schwiegertochter nicht mit offenen Armen auf. Sie bezeichnete sie als „Dahergelaufene aus der Pollackei“. Mit solchem „Flüchtlingspack“ wollte sie nichts zu tun haben. Ihrem Sohn machte sie schwere Vorwürfe, nicht ein Mädchen aus der Heimat zur Ehefrau erwählt zu haben. Es hätten sich doch viele nichts lieber gewünscht als mit ihm eine Familie zu gründen.

Wilhelmine, so hieß diese Großmutter, die von allen Minna genannt wurde, verstand sich als „westfälische Pohlbürgerin“. Westfalen war in ihrer Vorstellung mittlerweile weitgehend mit Deutschland identisch. Die Landesgrenzen, die von den Kriegssiegern angeblich neu gezogen worden wären, lägen im Osten bei Paderborn, im Süden am Möhnesee im Sauerland, im Westen bei Gelsenkirchen und im Norden bei Münster. Jenseits dieser Grenzen, hinter dem östlichen Halbkreis, läge „die Pollackei“, hinter dem westlichen warteten angeblich „die Franzosen auf Rache“. Die Heimat meiner Mutter verortete sie ins Polnische, was geografisch eindeutig falsch war. Denn ihrer Logik zufolge hätte sie zum Reich der Franzosen gehören müssen. Aber Geografie und Logik gehörten nicht zu den Stärken ihrer Allgemeinbildung, menschliches Mitgefühl nicht zu ihren Tugenden. Noch bis zum Ende ihres Lebens, das 87 Jahre währte, bezeichnete sie mich als „Bastard eines Pollackenweibs“.

Einen Bruder meines Vaters, Onkel Willi, hatte es nach dem Krieg ins Saargebiet verschlagen, in die Nähe von Homburg. Auch er verschmähte die jungen Frauen seines Heimatorts und heirate eine Saarländerin, Tante Klara. Sie starb leider sehr früh mit 38 Jahren im Jahr 1956. Nur ein einziges Mal hatte sie Dortmund und ihre Schwiegereltern besucht. Minna kanzelte sie sofort als „Franzosenweib“ ab. Immerhin stimmte in diesem Fall zufällig die geografische und teilweise sogar die politische Zuordnung; denn das Saarland war seinerzeit französisches Wirtschaftsgebiet.

Im Zentrum unseres Stadtteils befand sich die Notunterkunft für Flüchtlinge aus der so genannten Ostzone, die als Antwort auf die Gründung der Bundesrepublik 1949 längst einen separaten Staat, die DDR, bildete. Das wollte weder die Politik noch der größte Teil der Bevölkerung wahrhaben. Ich erinnere mich, dass die BILD-Zeitung bereits Jahre vor dem Bau der Berliner Mauer Anstecknadeln verteilte, die das Brandenburger Tor darstellten mit der Forderung „Macht das Tor auf“.

Union HausMan hatte den riesigen Festsaal der größten Gastwirtschaft, des UNION-Hauses (Spezialausschank der Dortmunder Union-Brauerei und traditionell das Vereinshaus der Kolping-Brüder) mittels Vorhangstoffen in Parzellen aufgeteilt. Die boten bei unterschiedlicher Größe Schlafplätze für zwei bzw. vier Personen. Maximal konnten 40 Personen untergebracht werden. Ein Nebenraum der Gaststätte wurde als Aufenthalts- und Speisesaal hergerichtet. Der ohnehin vorhandene Toilettentrakt der Gaststätte war erweitert und um einige Waschzellen ergänzt worden, es gab auch zwei Bäder.

Das Union-Haus in Dortmund.
Foto: privat

Die durchschnittliche Verweildauer betrug anfangs ein Jahr, ab ca. 1958 nur noch wenige Wochen. Denn traditionell stellten die Kohlezechen und Hüttenbetriebe ihren Arbeitern Werkswohnungen gegen günstige Mieten zur Verfügung. Diese Wohnungen waren nach dem Ende des Kriegs zügig wiederaufgebaut oder instandgesetzt worden. Da der Bedarf an Arbeitskräften, auch solchen, die ursprünglich andere Berufe ausgeübt hatten, groß war, fanden die Männer der Flüchtlingsfamilien relativ schnell eine Stelle und im Zuge des Neubaus der Betriebswohnungen auch eine normale Unterkunft.

Bis 1958 besuchte ich die Volksschule, eine evangelische Konfessionsschule am Ort, dann wechselte ich (nach bestandener Aufnahmeprüfung) auf ein Gymnasium, das am nördlichen Rand der Dortmunder Innenstadt lag, ca. zehn Kilometer entfernt und nur mit Straßenbahn oder Zug erreichbar, was jeweils eine knappe Stunde Zeitaufwand bedeutete. Während der Volksschuljahre hatte ich immer Kameradinnen und Kameraden aus Flüchtlingsfamilien. Die Klassenstärke betrug während der vier Jahre jeweils zwischen 26 bis 28 Schüler, zwei bis drei davon waren Flüchtlingskinder. Und sie alle wohnten für kürzere oder längere Zeit zunächst in der Behelfsunterkunft im UNION-Haus.

Äußerlich fielen die Flüchtlingskinder durch ihre Kleidung auf. Diese war zwar solide und sauber, aber schien aus einer lange vergangenen Zeit zu stammen. Vereinzelt konnten es sich die Flüchtlingsfamilien leisten, ihre Kinder völlig neu auszustatten. Dann trugen sie früher als wir anderen dunkelblaue oder schwarze Jeans (wir nannten das damals Nietenhosen, manchmal auch Texas-Hosen, weil sie uns an die der Cowboys erinnerten).

Meiner Mutter, die selbst als Fremde geschmäht wurde, war es gar nicht recht, dass ich „mit denen aus der Ostzone“ Umgang hatte. Die Gründe für das Verlassen der DDR erschienen ihr als nicht plausibel. Sie unterstellte den Menschen, ein besseres Leben auf Kosten der Einheimischen führen zu wollen, und war mit diesem Vorurteil nicht allein. Zumal hielten sich Gerüchte, dass Flüchtlinge bei Einstellungen und Wohnungsvergaben bevorzugt würden.

Schnell sprach sich im Stadtteil herum, dass die Polizei häufiger ins UNION-Haus gerufen wurde, um dort Streit zu schlichten. Angeblich hätte die Minderheit der politischen Flüchtlinge der Mehrheit unlautere Motive, sprich wirtschaftliche Gründe für die Flucht, unterstellt. Unter Alkoholeinfluss, und man saß faktisch an einer Quelle, seien dann verbale Auseinandersetzungen in handgreifliche umgeschlagen.

Wir Kinder vergaben unsere Sympathien nach anderen Kriterien, zumindest auf der Volksschule. Wer den im Westen beliebten Berliner Dialekt sprach, war gern gesehen; auch nach der Schule auf unseren diversen Spielplätzen. Hingegen riefen sächsische Akzente Vorbehalte hervor. Uns störte weniger die Sprachmelodie als der Umstand, dass wir viele Ausdrücke nicht verstanden.

Ich selbst war mehrfach Opfer solcher Sprachbarrieren geworden. Denn wenn ich nach den Sommerferien, die ich bei den Pfälzer Großeltern verbrachte, Anfang September zurückkehrte, sprach ich, ohne dass es mir bewusst war, mit Pfälzer Dialekt. Und selbst meine engsten Freunde einschließlich der Freundinnen behandelten mich für einige Tage wie einen Flüchtling.

BergarbeitersiedlungDie Wohnsituation der Neuen spielte dagegen kaum eine Rolle, denn keiner von uns lebte im Luxus. Zwar besaßen meine Eltern ein eigenes Haus, das in kleinen Schritten zeitgemäß umgebaut wurde. Aber in mancher Werkswohnung war die technische Infrastruktur moderner, vor allem gab es dort überwiegend Zentralheizungen.

Die Bergarbeitersiedlung
in Dortmund-Derne.
Viele Flüchtlinge fanden
in den Zechen Arbeit.
Foto: privat

Im Winter mussten bei uns vier Kokskohleöfen unter Feuer gehalten werden und der Schritt zum Dauerbrenner, der des Nachts auf Sparflamme weiterbrannte, war ein wirklicher, aber teurer Fortschritt. Meine Eltern bezogen den Brennstoff von Bergleuten, die ihr Deputat preisgünstig veräußerten, was eigentlich nicht erlaubt war, aber stillschweigend toleriert wurde. Als besonders geschäftstüchtig im Sinn von Bereitschaft und Flexibilität erwiesen sich Flüchtlinge, die auf der Zeche Arbeit gefunden hatten. Das steigerte ihr Ansehen, auch bei meinen Eltern, die sich allmählich von ihren Vorurteilen lösten.

Auf dem Gymnasium bestimmte das Thema Flucht nicht das Miteinander der Schüler. Alljährlich fand aus Anlass des „Tags der deutschen Einheit“, am 17. Juni, eine Feierstunde statt, während der auch an die Menschen erinnert wurde, die aus der Ostzone bzw. der DDR geflohen waren.

Mein Vater, der noch bis 1957 eine Schneiderei betrieb, hatte einen Kunden, der Ostpreußen nach Kriegsende verlassen musste und im Ruhrgebiet gestrandet war. Dieser Herr von Zucknigg lebte zurückgezogen in einer Zwei-Zimmer-Wohnung am Ortsrand, dort, wo noch Reste der ursprünglichen landwirtschaftlichen Struktur der Gemeinde erhalten waren. Nach seinen Berichten hatte er im Osten einen Gutsbetrieb besessen und war für den Verlust entschädigt worden, zumindest teilweise. Er betätigte sich als Maler, konnte sogar regelmäßig seine Bilder an Galerien und Private verkaufen und gönnte sich neben einem neuen Anzug pro Jahr, den mein Vater anfertigte, den Besuch von Pferderennen. Mir ist er, wenn er zu den Anproben kam, als begabter Erzähler aufgefallen. Viele Jahre später, als ich Siegfried Lenz‘ masurische Geschichten „So zärtlich war Suleyken“ las, erinnerte ich mich wieder an Herrn von Zucknigg. Denn nachdem mein Vater sein Geschäft aufgegeben hatte, war der Kontakt abgebrochen.

mertens-portraetAuch meine Eltern bedauerten, dass Zucknigg sich nicht mehr sehen ließ. Anscheinend war das, was man heute als Integration bezeichnet, damals auch dadurch gelungen, indem man entweder miteinander arbeitete oder miteinander faire Geschäfte machte.

Klaus Philipp Mertens. Geboren in Dortmund,
lebt heute in Frankfurt. Selbst kein Flüchtling,
hat er in einem ausführlichen Beitrag
Kindheitserinnerungen zu unserem Projekt
beigesteuert, in denen vielfach Flüchtlinge vorkommen.

 

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