Willkommen auf der Startseite des FR-Projekts „Ankunft nach Flucht“!
Diese Seite befindet sich als „work in progress“ in ständiger Arbeit, Erneuerung und Erweiterung. Sie dient als Einführung in das entstehende Archiv und wird sich verändern. Damit ist sie eine Neuheit im FR-Blog. Es kann vorkommen, dass es hier und da mal ein wenig hakt, wenn ich mit der Arbeit nicht hinterherkomme. Dafür bitte ich schon jetzt um Nachsicht.
Direkter Weg zum „Ankunft nach Flucht“-Archiv –> HIER.
Auf den folgenden Seiten bringen wir das „Ankunft nach Flucht“-Archiv unter. Auf einen ersten Testballon in der Frankfurter Rundschau vom 6.12.15 — das Online-Pendant dazu findet sich hinter diesem Link — erreichten mich so viele Zuschriften von Leserinnen und Lesern, die ihre Geschichten beitragen wollten, dass mir sofort klar war: Hier herrscht großer Bedarf an Austausch. Diese Geschichten sollen nicht verloren gehen. In diesem Archiv werden sie dokumentiert und für die Nachwelt gesichert. Diese Archiv wird wachsen.
„Ankunft nach Flucht“ heißt dieses Projekt der Frankfurter Rundschau, und das hat seine Gründe. Es geht um die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Über die Flucht und ihre Ursachen, die Vertreibung und ihre Hintergründe wurde viel publiziert. Darüber jedoch, was die Flüchtlinge nach der Flucht in ihrer Aufnahmegesellschaft erlebten, ist relativ wenig bekannt.
Deutschland lag nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern. Trotzdem strömten Millionen von Menschen in das zerbombte Land, vorwiegend aus dem Osten. Es gibt keine genauen Zahlen, es sollen zwischen zwölf und 15 Millionen Menschen gewesen sein. Etwa 4,5 Mio. nahm die sowjetische Besatzungszone auf. Die anderen Flüchtlinge wollten anscheinend lieber in „den Westen“. Wie erging es ihnen dort?
Die hier dokumentierten Schicksale stammen sowohl von Menschen, welche Flucht und Ankunft persönlich erlebt haben, als auch von Nachkommen, welche die Geschichte ihrer Familie zu rekonstruieren versuchen. Viele der Autorinnen und Autoren sind von dem Wunsch geprägt, ihren Kindern und Enkelkindern zu vermitteln, was damals vor sich ging. Andere haben sich auf die Suche nach ihren Wurzeln gemacht.
Alle eingegangenen Zuschriften werden nach und nach in diesem Archiv erfasst und veröffentlicht. Die Liste der Beiträge ist alphabetisch nach den Nachnamen der Verfasser sortiert. Es wird Herkunftsort, Ankunftsort und heutiger Wohnort genannt. Jeder dieser Kurzbeiträge enthält eine kurze Charakterisierung, den Link zum Originalbericht, sofern er online bereits vorliegt, und einen Link auf ein pdf-Dokument, wenn der Bericht im Leserforum der Frankfurter Rundschau in gedruckter Form veröffentlicht worden ist. Die Liste wird, wie gesagt, ständig erweitert und vervollständigt.
Sehr willkommen sind Fotos, welche die Verhältnisse jener Zeit dokumentieren. Solche Fotos sind rar und kostbar, da es sich meist um persönliche Erinnerungsgegenstände handelt. Ich möchte Sie daher bitten, mir keineswegs Originalfotos zu schicken. Bitte nur Scans, möglichst in einer Auflösung von 300 dpi. Zur Not kann ich Ihre Scans aber auch hochzoomen. Für eine Online-Veröffentlichung reicht das normalerweise. Ob damit auch eine Veröffentlichung in gedruckter Form möglich ist, müsssen wir im Einzelfall entscheiden.
Diese Startseite des Archivs wird im FR-Blog immer oben gehalten.
Und hier geht es nun hinein in das entstehende Archiv: Klicken Sie –> Ankunft nach Flucht.
Ihr Lutz „Bronski“ Büge
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Anmerkung: Dieser Artikel wurde am 24.12.2015 veröffentlicht und seitdem weiterentwickelt.
Zunächst eine Korrektur zum Archiv: Ich bin nicht 1938 geboren (wie dort geschrieben), sondern 1944.
Was die Inhalte des Archivs betrifft, könnte dies m.E. durchaus eine Lücke füllen.
Ich verweise dazu auf die weitgehende Tabuisierung des Themas in der BRD wie der DDR, erklärbar teils aus Verdrängung, teils aus politischen Rücksichten (so etwa die explizite Herausnahme der Beneš-Dekrete aus dem Anwendungsbereich des Lissabon-Vertrages).
Auch bez. der aktuellen Frage der Integration könnten sich (bei etwas umfangreicherem Material) Rückschlüsse ergeben.
So etwa schreibt Hilke Lorenz (Heimat aus dem Koffer – Vom Leben nach Flucht und Vertreibung, List, Berlin 2011):
„Es kam weder im Westen noch im Osten Deutschlands zu einer reibungslosen, schmerzfreien und harmonischen Integration der Flüchtlinge. Bei der Ankunft im ‚Westen‘ waren sie teils mit Verachtung konfrontiert. (…) Für die furchtbaren Erlebnisse der Flüchtlinge wie Misshandlungen und Vergewaltigungen interessierte sich niemand. Die Probleme der Integration waren kein Thema in beiden Teilen Deutschlands.“ (Vgl. Wikipedia, Flucht und Vertreibung Deutscher aus Mittel- und Osteuropa 1945–1950)
Bez. der kulturellen Integration wäre auf größere Probleme zwischen Katholiken und Protestanten zu der Zeit zu verweisen, z.B. bei Eheschließungen zwischen Einheimischen und Vertriebenen.
Hinweise wären sinnvoll auch auf Versuche literarischer Verarbeitungen von Nicht-Schriftstellern, etwa ab 2005.
Unter dem Titel „Uns wollte niemand haben“ gibt Manfred Daur gemeinsam mit der Stadt Blaubeuren seit April 2015 die Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit von 40 Flüchtlings- und Vertriebenenkindern heraus. Der Untertitel lautet: 70 Jahre danach – Blaubeurens vergessene Schicksale.
Anmerkung zu meiner plattdeutschen Geschichte: es muß heissen: negenteinhundertfiefunveertich (1945) Da hatte ich falsch gerechnet. Und im Archiv: Mit Harfst ist der Herbst gemeint. Startpunkt der Flucht war Ziepel bei Magdeburg
Nach meinen persönlichen Erlebnissen, 1933 geboren, ‚ging‘ man nicht in den Westen oder gar in die DDR. Man wurde gegangen, in einen Zug getrieben oder geschubst, oder man lief mit der Masse mit und kam irgendwo an. Wir haben unterwegs auch Stationen gemacht, mußten aber immer weiter. Jutta Köpke, 4.Januar 2015
Kurz nachdem ich am 22. März 1963 geboren wurde, meldete sich das Jugendamt, weil meine Mutter damals noch minderjährig war. Meine Großmutter fragte die bei uns zu Hause erschienen Beamten daraufhin, wo der Staat war, als die Familie angesichts eskalierender Kriegswirren Jahre zuvor flüchten musste. Dieser eine schlichte Satz ermöglicht einen tiefen Einblick in die von mir über die Generationen hinweg ererbte Denk- und Handlungsweise, sich selbst dann nicht auf hoheitliche Institutionen zu verlassen, wenn man selbst äußersten Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt ist. In der Konsequenz bedeutet das: Auch massive Übergriffe Dritter auf die Integrität der eigenen Person sind für mich kein Anlass, mich an die Polizei oder gar an die hiesige Staatsanwaltschaft zu wenden, um von dort Schutz zu erwarten. Alles Vertrauen gründet vielmehr auf der Erkenntnis, dass solch ein kaum mehr sagbares Fehlverhalten ohnehin bloß von schierer Einfalt zeugt, die letztlich keinerlei Aussicht auf Erfolg besitzt. Spätestens mit dem Eintritt meines Todes bin ich den besagten und geradewegs in die Irre gehenden Zugriffen zumindest körperlich unumkehrbar entzogen. Insofern gilt der Grundsatz des Innehaltens in den dadurch inkriminierten Praktiken, falls auch mir ein langes Leben beschieden sein soll.
Jahrgang 1942 und jüngstes von sieben Kindern mit großen Altersunterschieden, kann ich mich sehr gut an Einzelheiten der Flucht im Januar 1945 erinnern. Sie führte vom Haus unserer Großeltern in Hinterpommern (Königsberg hatten wir verlassen können, bevor es Festung wurde) in eine Kleinstadt am westlichen Harzrand in die Wohnung meiner Tante, die diese zusammen mit einer ebenfalls unverheirateten Freundin bewohnte. Die Wohnung war für zwei alleinstehende Lehrerinnen zwar groß, sie bestand aus viereinhalb Zimmern (ein schmaler Schlafraum für Dienstmädchen zählte damals als halber Raum), Küche und Bad. Aber bei der Freundin hatten bereits die alten Eltern und ihre Schwester mit 10-jähriger Tochter, die in Braunschweig ausgebombt worden waren, Unterschlupf gefunden. Dazu kamen wir: eine Schwester meiner Tante, meine Mutter sowie ihre Schwester und wir vier jüngsten Kinder. Demnach lebten in dieser im Grunde genommen großen Wohnung sieben Erwachsene, zwei Teenager und drei Kinder.
Da das auf die Dauer zu eng war, durften vier unserer Familienmitglieder zum Schlafen in zwei andere Wohnungen im Haus gehen, die Badezimmerbenutzung hatte aber in „unserer“ Wohnung zu erfolgen. Und natürlich mussten daher „die Flüchtlinge“ stets das gesamte Treppenhaus putzen. Im häuslichen Bereich erinnere ich mich vor allem mit Grausen an diverse Küchengeschichten. Besonders die drei fast Achtzigjährigen waren in der Situation vollständig überfordert. Ich als Jüngste bekam zwei- oder dreimal in der Woche einen Viertelliter Milch, von dem ich allerdings selten etwas abbekam, weil die alten Leute auf dem Standpunkt standen, dass ihnen die Milch für ihren „Muckefucke“ (Zichorienkaffee) zustand. „Um des lieben Friedens Willen“ – ein Satz, der mir förmlich in Fleisch und Blut übergegangen ist – sagte meine Mutter nichts dazu. Hin und wieder gelang es ihr, etwas von der Milch für mich zu retten.
Jeden Abend schritten drei alte Damen mit einem Blatt Papier, einem Zettel und einem Zentimetermaß in der Küche an den Brotkasten und maßen ihren natürlich unterschiedlich gekennzeichneten Brotlaib ab und notierten das Ergebnis auf dem Zettel. Ihr erster Gang am Morgen führte sie wiederum zum Brotkasten, um dort nachzumessen, ob das Brot noch ebenso lang war wie am Abend zuvor. Nur leider verlegten sie manchmal dieses wichtige Dokument, und es stellte sich heraus, dass ein Stück Brot fehlte! Dann wurde natürlich meinem vierzehnjähriger Bruder als einzigem männlichen Mitbwohner der Nahrungsmitteldiebstahl wutentbrannt vorgeworfen. Mit Logik hatte das alles nichts zu tun, denn mein Bruder schlief in einer der anderen Etagen und hatte überhaupt keinen Schlüssel zur gemeinsamen Wohnung. Er hatte unter den Bedingungen wohl am meisten zu leiden.
Gut zu brauchen war er dann allerdings wieder, wenn es hieß, im Herbst in der Waschküche die ganze Nacht über den Rübensaft zu rühren oder wenn es galt, aus dem Wald Holz zu klauen. Eines Tages, als ich krank im Bett lag, erschien die alte Mutter der zweiten Wohnungsinhaberin und vermaß mein Bett mit einem langen Schal. Dabei teilte sie mir seelenruhig mit, dass das Bett jetzt anderweitig gebraucht werde. Das versetzte mir einen solchen Schock, dass meine Mutter sich einmal nicht beherrschen konnte und es zu einer heftigen Auseinandersetzng kam. Ich selber hatte das Gefühl, dass die alte Frau mir förmlich den Boden unter den Füßen wegziehen wollte und ihr mein Schicksal absolut gleichgültig war.
Das kleine durchaus gehobene Kleinstadtviertel war überwiegend von den Alliierten beschlagnahmt, die sich meiner jüngeren Schwester und mir gegenüber sehr freundlich zeigten. Mit Ausnahme der Zeit, in der die Besatzung aus Norwegern bestand, durften wir beide als einzige dort ungehindert ein- und ausgehen. Das lag daran, dass meine Mutter sofort einen „Persilschein“ (Beleg, dass sie nie NSDAP-Mitglied gewesen war) bekommen hatte und aufgrund der Tatsache, dass sie Englischlehrerin war, sowohl von „Besetzern“ als auch „Besetzten“ als Dolmetscherin gebraucht wurde. Sie gehörte dann auch dem ersten von der Besatzungsmacht eingesetzten Stadtrat an.
Ein weiterer Grund für die unterschwellige Ablehnung unserer Familie ergab sich aus der Tatsache, dass im „braunen“ Braunschweiger Land die Deutschen Christen weit verbreitet waren und es in dem Ort wohlbekannt war, dass die Pfarrersfamilie aus dem großstädtischen Königsberg/Pr. zu den Mitgliedern der „Bekennenden Kirche“ gehörte. Das spielte örtlich eine ziemliche Rolle, zumal wir nach und nach alle Theologie studierten.
Die Haltung der Einheimischen war nicht direkt ablehnend, aber man wusste im Grunde genommen nicht, was man mit uns anfangen sollte, weil wir so anders waren. Nach dem Krieg trafen sich nach und nach alle geflüchteten Familienmitglieder und Freunde bei uns, denn sie waren das offene Pfarrhaus von früher her gewohnt, und man hatte sich sehr früh während des Krieges auf den westlichst gelegenen Wohnort dieser Tante als Nachkriegstreffpunkt festgelegt. Es gab also immer Besucher, und es wurde viel und weit gewandert, und es gab trotz vieler Schwierigkeiten viel zu lachen. Auch war der Anlass für unsere Heiterkeit für viele Menschen unbegreiflich.
Eine Situation möchte ich kurz erzählen. Am 09. April 1945, dem Geburtstag meiner jüngeren Schwester, „kamen die Amerikaner“, und die Einheimischen hatten sich bereits Tage vorher im nahe gelegenen Wald Verstecke gebaut. An diesem Morgen, kurz bevor sie in ihr Versteck aufbrachen, rief eine Nachbarin das Geburtstagskind zu sich, um ihr zu gratulieren und ihr etwas zu schenken – begleitet von dem wunderbaren Satz: „Lieber den Flüchtlingen als
den Amerikanern!“ Das Geschenk entpuppte sich bei näherer Betrachtung als ein Eierkörbchen mit nur noch einem Henkel, dem kleinen Katechismus von Martin Luther (der natürlich sowieso im Bücherschrank meiner Lehrerintante stand) und eine Flasche angegorener Himbeersaft. Dass das für uns ein Anlass zum Lachen war, hätte die Nachbarin nie verstanden. Selbstverständlich erzählten wir es ihr auch nicht, aber unsere Haltung verunsicherte sie doch in irgendeiner Weise.
Obwohl wir alle Deutsche waren, machten sich die soziokulturellen Unterschiede oft stäker bemerkbar, als man vermuten würde. Keiner von uns ist dort heimnisch geworden, und seit dem Tod der einzig verbliebenen Familienfreundin bin ich nie wieder in dem Ort gewesen. Auch wenn ich zum Teil sehr schöne Jugenderlebnisse dort hatte, habe ich mich dort nie heimisch gefühlt. Aber ich bin vielleicht aufgrund meiner gesamten Familiengeschichte eine überzeugte Europäerin mit der Muttersprache Deutsch und Zweitsprachen.
Etwas anderes ist mir seit jener Zeit her sehr deutlich: Unterschiedlich geprägte Menschen, die sich notgedrungen für längere Zeit eng zusammendrängen müssen und nirgends einen Platz zum Sich-Zurückziehen haben, benehmen sich nicht mehr „normal“. Ihre Nerven liegen blank, und ein kleiner Streit kann leicht eskalieren und aus dem Ruder laufen. Mein Bruder hatte damals die Möglichkeit, sich in die Natur zurückzuziehen und lernte dementsprechen den Wald wie seine Westentasche kennen und lieben. Aber „unsere“ Flüchtlinge in den Turnhallen haben diese Möglichkeit nicht, sie können sich in vielen Fällen nur irgendwohin begeben, wo es ebenfalls von Menschen wimmelt. Das kann gar nicht beruhigend wirken.
Lieber Bronski,
bitte Abstände und Kommata berichtigen, der Platz zum Schreiben war etwas unübersichtlich für mich. So srry!
Liebe Frau Schroeter,
vielen Dank für Ihren Beitrag. Und keine Sorgen wegen etwaiger Fehler — vor einer Veröffentlichung in der gedruckten Zeitung wird natürlich alles gründlich durchgesehen. Hier im Blog darf jede/-r Fehler machen und macht Sie auch.
Viele Grüße, Bronski
Ergänzung zum Kommentar vom 29. Dezember 2015, 22:58 (für Archiv)
Zur Frage von Schuld und Verdrängung nach der Flucht
Die Frage kollektiver Mitverantwortung und Schuld für Nazi-Verbrechen betraf nach dem Krieg Einheimische und Flüchtlinge gleichermaßen. Der Umgang damit äußerte sich in den Nachkriegsjahren beiderseits in Form von Verdrängung. Dem entsprechend ist diese Frage, obwohl latent immer präsent, auch in den hier vorliegenden Berichten ausgeklammert. Darüber hinaus war Verdrängen einer schrecklichen Vergangenheit auch Opfer und Täter gemeinsam, ange-sichts des sich neu stellenden Überlebenskampfs zunächst wohl auch notwendig.
Dennoch sind Unterschiede zwischen Einheimischen und Flüchtlingen festzustellen, erkennbar am Entstehen von Vertriebenenorganisationen und Flüchtlingsparteien. Das Bewusstsein, in überdurchschnittlichem Maße für kollektive Verbrechen bezahlt zu haben, erlaubte Flücht-lingen nicht in gleichem Maße, Vergangenes zu verdrängen. Der Schmerz über den Verlust der Heimat spaltete sich ab, führte ein Eigenleben, das oft über Traditionspflege hinausging und Träume nährte, eines Tages wieder in die Heimat zurückzukehren.
Unsere Familie hielt sich in der Regel „Heimatreffen“ dieser Art fern. Dennoch erwachte die alte Heimat, etwa bei Besuchen, wieder zu neuem Leben. So bei einem Onkel, Bruder meines Vaters. Und während die Erinnerung an wenige Jahre „Daheim“ immer präsent blieb, neue Dimensionen annahm, schienen 30 Jahre in der neuen Heimat fast zu einem Nichts zusammen zu schmelzen..
Ein Eigenleben führte die Erinnerung auch bei meiner Mutter, insbesondere, was das Gedenken an „Vati“ betraf. Sinnlos erschien es, das von ehrfürchtiger Verehrung geprägte Bild zu hinter-fragen. Instinktiv verzichtete man denn auch darauf. Erst sehr viel später wurde mir bewusst, dass dies – zumindest in Bezug auf meine Mutter – auch richtig war. Zu sehr hing ihre Überlebenskraft vom Glauben an dieses im Nachhinein geformte Bildnis ab. Da hatte ich mich schon mit Ibsen befasst und seiner in Dramatik umgesetzte These, dass Menschen ohne Lebenslüge nicht leben können.
Unter solchen Umständen nach ungeschminkter Wahrheit zu suchen ist kein leichtes Unter-fangen. Erklärbar die Suche nach Schuldbeweisen der 68er und der Glaube, im Schweigen der Eltern schon den Beleg dafür zu erkennen. Denn schwerer zu ertragen, als Kinder von „Tätern“ zu sein, ist die Ungewissheit. In unserem Fall ergaben sich – wie bei vielen – Bedürfnis und Möglichkeiten der Klärung erst nach dem Fall der Mauer.
Bezogen auf moralische Mitverantwortung war der Sachverhalt, bezogen auf meinen Vater, relativ klar. In seiner Jugend Mitglied der Wandervogelbewegung, trat er, gegen Anraten von Freunden, nach dem deutschen Einmarsch in der Rest-Tschechei März 1939 in die NSDAP als der Nachfolgeorganisation der Sudetendeutschen Partei ein. Motiv scheint die Möglichkeit ge-wesen zu sein, eine ehemals in jüdischem Besitz befindliche Holz- und Möbelfabrik als Teilhaber mit zu übernehmen und sie zu leiten. Anders die Frage nach Vorwürfen der Mitschuld an stand-rechtlichen Erschießungen aufständischer tschechischer Partisanen, die zu seiner Verurteilung führten. Eine Anklageschrift ist auch auf Anfrage meines Bruders nie übermittelt worden. Einziges uns vorliegendes Dokument ist die eidesstattliche Erklärung eines Arztes und Mitgefangenen aus dem Jahr 1951, in dem es wörtlich heißt, dass mein Vater „mit diesen Erschiessungen nichts zu tun hatte und bei dem befehlenden Deutschen Wehrmachtsoffizier dagegen Stellung genommen hatte und die tschechische Prozessführung keinen Nachweis für seine Mitschuld an diesen Erschiessungen erbringen konnte“.
Eine restlose Klärung wird vermutlich niemals erfolgen.
fehlender Schluss:
Auch das gehört zu den Folgen einer von Gewaltherrschaft, Flucht und Vertreibung geprägten Zeit, mit denen man umzugehen lernen muss.
den heute in der FR veroeffentlichten beitrag von dietrich stahlbaum „da ist kein platz mehr“ empfehle ich den interessierten kommentatoren/innen, die sich auch im kartoffelkaefer-thread beteiligen.
Zu meiner Fluchtgeschichte vom 15.12.2015
Ankunft nach der Flucht, möchte ich noch ein
Erlebnis hinzufügen.
Wir sind nach der Flucht zunächst in Neuruppin
gelandet, als wir dann im Mai 1945 von der Roten Armee besetzt wurden haben sich viele deutsche Soldaten von der Armee getrennt. Sie besorgten sich zivile Kleidung und sind untergetaucht. Ein deutscher Wendehals wollte sich ein schönes Leben machen. Er ging zur russischen Kommandantur und bot sich an, für Lebensmittel, Alkohol und Zigaretten, die deutschen Soldaten zu verraten. Die verratenen Soldaten kamen dann in ein Gefangenenlager.
Der Verräter hat viele Menschen verraten, als er aber nicht mehr liefern konnte, bekam er seine gerechte Strafe. Der russische Kommandant
sagte zu ihm:“ Ich liebe den Verrat, aber nicht den Verräter“. So wie du deine Landsleute verraten hast wirst du uns auch verraten. Er schickte den Wendehals ins Gefangenenlager, wie es ihm dann erging bei seinen verratenen Landsleuten kann man sich denken. Soviel Gerechtigkeit kann man leider nur im Krieg erleben.