“Wir lassen unsere Frauen keine Kopftücher tragen”

Es ist nun schon eine Weile her, dass der NDR jene Tatort-Folge „Wem Ehre gebührt“ ausstrahlte, in der es um einen Fall von Inzest in einer alevitischen Familie ging. Man kann selbstverständlich darüber diskutieren, ob es wirklich geschickt von den Machern war, diese Geschichte ausgerechnet unter Aleviten spielen zu lassen, denn die werden wegen ihrer Liberalität gerade von anderen Moslems diskriminiert. Auch der Inzestvorwurf gehört zum Diskriminierungskatalog. Diese Debatte hat jedoch auch etwas Gutes, denn damit tritt eine Spielart des Islams ins Licht der Öffentlichkeit, die in der größtenteils sehr pauschalisierend geführten Diskussion über den Islam in Deutschland bisher weitgehend unterging. Und das macht mir einmal mehr bewusst, dass es den Islam gar nicht gibt. Aus diesem Grund veröffentliche ich hier den offenen Brief einer Gruppe von Aleviten, die an der Frankfurter Uni studieren. Darin stellen sie die Lage der Aleviten in – wie ich finde – lesenswerter Form dar:

„Sehr geehrte Damen und Herren,

wir, die Alevitischen Studierenden zu Frankfurt am Main, möchten Ihnen unsere Geschichte und unseren Standpunkt näher bringen, so dass Sie unseren Protest [gegen den Fernsehkrimi] nachvollziehen können. Wir wollen zeigen, dass die Aleviten eine in ihrer Geschichte friedfertige und dialogbereite Glaubensgemeinschaft waren und immer noch sind. Dies beruht darauf, dass Aleviten eine sehr moderne, fortschrittliche und liberale Glaubenslehre vertreten. Seit jeher setzen sich die Aleviten für die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Gleichwertigkeit aller Religionen, Kulturen und Nationen ein, ganz gleich welcher Herkunft.

Wir Aleviten betrachten Juden und Christen nicht als Ungläubige. Wir beten nicht fünf Mal am Tag, fasten nicht im Ramadan, unternehmen keine Pilgerfahrten nach Mekka und lassen unsere Frauen keine Kopftücher tragen. Die Scharia als Rechtssystem lehnen wir strikt ab. Unsere Gebete finden nicht in einer Moschee, sondern in einem Cemevi statt. Gebete werden ohne Unterschied zwischen Mann und Frau gehalten. Die Gebetsleitung darf nicht nur von einem Mann, dem so genannten Dede, sondern auch von einer Frau, der Ana, ausgeführt werden. Aufgrund dessen hat unser religiöses Leben einen sehr lebensnahen Charakter. Das Streben nach Toleranz, Liberalität, Fortschritt und Gleichberechtigung war und ist unsere Lebensmaxime. Diese sind keine Entwicklungen der jüngsten Moderne, sondern wurden schon im 13. Jahrhundert von Haci Bektas Veli, unserem einflussreichsten Geistlichen verfasst. Von ihm stammen auch folgende Zitate:

„ Schätzt keine Nation und keinen Menschen gering.“

„ Lasst die Frauen die Schulen besuchen.“

„ Glücklich, wer die Gedankenfinsternis erhellt.“

„ Ein Weg ohne Wissenschaft endet in der Finsternis.“

„ Das Wichtigste zu lesende Buch ist der Mensch.“

„ Es gibt kein Gegeneinander von Gott und Mensch, sondern ein Miteinander in tiefer Verbundenheit.“

Zweifel an Demokratie und Pressefreiheit haben wir daher keine und unterstützen sie wo immer es geht. In der Bemühung, dieser Maxime gerecht zu werden, ebnen wir stets unseren Kindern den Weg in die deutsche Gesellschaft. Wir sind daher eine offene und respektvolle Glaubensgemeinschaft. Diesen Respekt wünschen wir uns gleichermaßen vor unserem Glauben. Wir wollen nicht mehr als Gäste in diesem Land gesehen werden, denn Deutschland ist auch unsere Heimat und wir fühlen uns in dieser Gesellschaft wohl.

Aufgrund unseres liberalen Auftretens innerhalb des orthodoxen Islams wurden wir schon seither verfolgt und moralisch verwerflichen Verhaltensweisen bezichtigt. Zitate wie „Wer sieben Aleviten tötet, kommt ins Paradies“, veranschaulichen geradezu den Hass und die Gräuel gegenüber unserer Glaubensgemeinschaft. Sowohl die Verfolgungen als auch die unwahren Beschuldigungen haben nicht abgenommen. Die alevitische Geschichte besteht geradezu aus Verfolgungen, systematischen Massakern und falschen Vorwürfen. Man braucht nicht lange zurück in die Vergangenheit zu schauen. Am 2. Juli 1993 wurden in der türkischen Provinzstadt Sivas 37 intellektuelle Aleviten umgebracht, die zu einem Kulturfestival zugunsten des Dichters Pir Sultan Abdal in dem Hotel „Madimak“ versammelt waren. Sie fielen einer wütenden, religiös-fundamentalistisch und rassistisch motivierten Menschenmenge zum Opfer. Heute noch trauern und gedenken wir unserer verstorbenen Intellektuellen.

Leider sind Demütigungen immer noch gegenwärtig. In türkischen Schulen werden alevitische Schüler diskriminiert. Um den Schülern keine schulischen Nachteile auf den Weg zu geben, versuchen alevitische Eltern, den Kindern ihren Glauben so spät wie möglich zu erklären. Leider mit negativen Folgen auf den Glauben selbst. Innerhalb der türkischen Öffentlichkeit fällt es uns daher schwer, unseren Glauben und unsere Werte aufrechtzuerhalten. Nicht ohne Grund wird in einigen Städten und Provinzen der Türkei der alevitische Glauben verheimlicht. Im Gegensatz dazu erleben wir in Deutschland ein neues Erwachen unseres Glaubens. Die Bedingung dafür liefert das Grundgesetz selbst, welches in Art. 4 GG die Glaubensfreiheit für Jedermann gewährleistet und sie auch in der Praxis verwirklicht. Dadurch konnten wir uns nicht nur in der eigenen Glaubensgemeinschaft, sondern auch in der deutschen Gesellschaft durch unsere liberale Haltung bemerkbar machen.

Neben den Verfolgungen waren und sind wir auch Anschuldigungen propagandistischer Art ausgesetzt. Eine der berühmtesten und unter vielen orthodoxen Moslems vertretenen Ansicht ist der Inzestvorwurf. Dieser behauptet, dass wir für den Erhalt unseres Glaubens Inzest betreiben würden. Diese Anschuldigung ist von Grund auf falsch und gibt ein unrichtiges Bild von der alevitischen Glaubensgemeinschaft ab. Leider mussten wir feststellen, dass dieser Vorwurf in der Tatortserie „Wem Ehre gebührt“ zu eigen gemacht wurde. Darüber hinaus wurde gezeigt, dass eine alevitische Frau sich nach dem Tode ihrer Schwester in die orthodoxe Religion flüchtet, anfängt ein Kopftuch zu tragen und zu beten. Auch dies können wir nicht nachvollziehen, weil unser Glauben nicht aus den Elementen des orthodoxen Islams besteht. Der im Film hinzugefügte Zusatz, dass die Geschichte eine fiktive sei, ist keine Rechtfertigung für die Ausstrahlung der Tatortserie. Der Effekt dieses Zusatzes hat eine verallgemeinernde Wirkung auf andere Filme. Solche Filme, die wegen Volkverhetzung nicht ausgestrahlt werden dürfen, dürften eben mit diesem Zusatz am Anfang des Filmes ausgestrahlt werden. Wieso wird dann nur diese Tatortfolge mit dem Zusatz versehen, nicht aber andere Tatortfolgen? Sind die anderen Tatortfolgen weniger oder mehr fiktiv?

Aus diesen Gründen behaupten wir, dass die Folge nicht gut recherchiert und leichtfertig gesendet wurde. Mit diesen Verweisen wollen wir Niemandem ein schlechtes Gewissen einreden. Doch wollen wir, dass diese Folge von der deutschen Öffentlichkeit kritisch betrachtet wird. Menschen, die vom Alevitentum nichts wissen, werden den Eindruck bekommen, dass wir Inzest treiben würden. Dadurch werden mit dem „Tatort“, der eine breite Zuschauermasse erreicht, Vorurteile gegen uns bekräftigt und zugänglich gemacht. Gegen diese Vorurteile sich alleine zur Wehr zu setzen gestaltet sich schwierig, und wir bitten gerade die deutsche Öffentlichkeit um Mithilfe bei der Aufklärung dieser Vorwürfe und Vorurteile. Diesen Wunsch nach Mithilfe haben wir durch die Demonstration vom 30. Dezember 2007 in Köln bekräftigt, in der sich 30.000 Menschen aus ganz Europa friedlich und ohne Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, kritisch mit dem Tatort befassten. Dieser Weg sollte und muss weiterhin durch einen konstruktiven Dialog gestaltet und ergänzt werden. Hierfür werden wir Aleviten unsere Tür immer offen halten. Nichtsdestotrotz appellieren wir an die Verantwortlichen des Senders und an die Regisseurin und Drehbuchautorin des Films Frau Angelina Maccarone von einer weiteren Ausstrahlung abzusehen. Weiterhin fordern wir eine öffentliche Entschuldigung und eine richtige Darstellung des alevitischen Glaubens.

Mit freundlichen Grüßen,

Die Alevitischen Studierenden zu Frankfurt am Main“

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24 Kommentare zu ““Wir lassen unsere Frauen keine Kopftücher tragen”

  1. Auf der Seite des Alevitischen Kulturvereins [http://www.alevi-do.de] steht ein ins Deutsche übersetztes Gebet, das auch das am häufigsten vorgetragene sei.

    Der Anfang geht so: „Allah Allah! Die Abende mögen segensreich sein, gute Taten mögen ruhmreich sein, übles möge verschwinden. Gottesleugner und Heuchler mögen untergehen.“

    Das hört sich ja nicht gerade freundlich, liberal und human an.

  2. „Und so jemand sie will schädigen, so geht Feuer aus ihrem Munde und verzehrt ihre Feinde; und so jemand sie will schädigen, der muß also getötet werden. “ (Offb – 11, 5.)
    Sehr freundlich, liberal und human.
    Ist ja auch aus der Bibel – das ist natürlich gaaanz was anderes.
    Man kann – wenn man nur lange genug sucht, und vor allem sehr selektiv liest, überall etwas finden.

  3. Um den anderen Bloggern die Mühe des Suchens zu ersparen, hier der komplette Text:
    Allah Allah! Die Abende mögen segensreich sein, gute Taten mögen ruhmreich sein, übles möge verschwinden. Gottesleugner und Heuchler mögen untergehen. Den Gläubigen möge Freude zuteil werden. Die Versammlungsstätten mögen blühen. Die Geheimnisse mögen offenbart werden. Gott- Muhammed-Ali möge uns beistehen. Die zwölf imame, vierzehn Unschuldigen und Siebzehn Gegürteten mögen uns aus ihrem Gefolge verbannen. Unser Pir und Lehrer Hünkar Haci Bektas Veli möge unser Helfer und Unterstützer sein. Der Herrgott möge uns vor den Übeltaten der Feinde beschützen. Beschere uns vom Himmel segensreiche Gnade und von der Erde segensreiche Fruchtbarkeit. Lass uns nie auf die Hilfe eines Feiglings angewiesen sein. Nimm unsere Opfergaben an. Rechne das Opfermahl als eine gute Tat an. Unglück, Katastrophe und Unheil mögen von uns abgewendet werden. Wir tragen es vor, es ist das Licht des Propheten, die Güte Alis, das Gebet der Heiligen, das Werk des Hünkar Haci Bektas Veli. Hü, für die wahren Gläubigen!

    Wie ich schon sagte: Gezielt etwas herausgepickt und zusammenhanglos in den Raum gestellt – und man kann alles beweisen.

  4. # 2 Geierwally

    Dieses Zitat ist nicht „gaaanz was anderes“, weil es in der Bibel steht, es ist einfach ein typisches Zitat aus einem Text mit Offenbarungscharakter.

    Nur: Wenn eine Religionsgemeinde, die sich selbst als liberal darstellt, wöchentlich ritualisiert den Satz spricht: „Gottesleugner und Heuchler mögen untergehen.“, dann sehe ich zwischen der Selbstdarstellung (siehe offenen Brief)und der Zelebrierung eine Differenz.

  5. Fischer kritisieren Bodensee-«Tatort»

    Reichenau/Freiburg (dpa) – Der ARD-Bodensee-«Tatort» mit dem Titel «Der Kormorankrieg» ist beim Landesfischereiverband Baden auf Kritik gestoßen.

    Inhalt und Handlungsablauf waren an den Haaren herbeigezogen», sagte Ingo Kramer, Geschäftsführer des Verbands, am Montag in Freiburg der dpa. «Die Berufsfischer am Bodensee werden als brutale Trottel dargestellt, und auch die Naturschützer bekommen ihr Fett weg», bemängelt Kramer. «So ist es auf beiden Seiten nicht», betonte er.

    (Quelle: Welt-online, 07.01.2008)

  6. @ Geierwally

    Ein aus dem Zusammenhang gerissenes und Sinn-verfälschendes Zitat sieht so aus:
    Ein stockkonservativer Kurienkardinal flog in den 50ern im Auftrag des Papstes nach New-York zu dem dortigen liberalen Erzbischof, um ihm die Leviten zu lesen. Am Flughafen fragte ihn ein provokanter Reporter: „Werden sie in New York auch leichte Mädchen besuchen?“ Er fragte süffisant dagegen: „Gibt es in New York leichte Mädchen?“ Am nächsten Tag stand in der Zeitung: Erste Frage das Kardinals bei seiner Ankunft am Flughafen: „Gibt es in New York leichte Mädchen?“
    So etwas kann ich bei Bakunix‘ Zitat nicht erkennen, hilfst du mir drauf?

    Religiöse Liberalität heißt seit der Aufklärung nicht mehr: Willst du nicht mein Bruder sein, so schlag‘ ich dir den Schädel ein, sondern: du bist mein Bruder als Mensch, ungeachtet von unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Auffassungen, über die wie uns in einem friedlichen Diskurs auseinandersetzen können.

    Beiden Zitaten, dem alevitische wie dem Bibelzitat, liegt eben nicht das liberale allgemeinmenschlich-brüderliche Weltbild der Aufklärung zugrunde, sondern ein dichotomisches: Hier wir, auf die die Gnade und der Segen Gottes heraufbeschworen wird, dort die anderen, die Feinde, die Gottesleugner, auf die Tod, Verderben und Untergang heraufbeschworen wird.

    Dass die Aleviten im Gegesatz zu anderen muslimischen Konfessionen die Juden und Christen in ihren Kreis der Gläubigen einbeziehen, kann da einen Gottesleugner, wie Bakunix, im Ernstfalle wenig beruhigen.

  7. Vor 20 bis 25 Jahren beschwerte sich der deutsche Unternehmerverband über das seiner Meinung nach ständig in Tatorten und anderen Krimiserien (Derrick etc.) falsche Unternehmerbild. Viel zu oft werde dieser als Verbrecher, korrupt, gierig und als Mörder dargestellt. Deutsche Unternehmer seien aber anders.

    Angeblich zeigte der Protest tatsächlich Wirkung (natürlich auch bei den Kabarettisten) und die nächsten Morde wurden nicht von geldgierigen oder eifersüchtigen Fabrikanten begangen.

    Was ich damit sagen will ? Nun, man soll sich nicht darüber aufregen wenn mal in einer Sendung der Bösewicht aus der eigenen Kultur oder dem eigenen Umfeld stammt. Das geht wieder vorbei und beim nächsten Mal trifft es vielleicht gerade den angeblichen “Gegner“. Wir sollten den Autoren nicht vorschreiben, wen sie zum momentanen Buhmann machen wollen.

    Sollte sich die “Bösendarstellung“ allerdings häufen und ständig eine bestimmte Gruppe betreffen, dann, erst dann wäre Nachdenken angesagt und eventuell Proteste angebracht.

    PS: Das Fassbinder Stück “Der Müll, die Stadt und der Tod“ nach einem Zwerenzroman konnte bis heute in Deutschland nicht zur Aufführung gebracht werden. DAS ist ein Skandal !

  8. Stimmt schon. Das Fernsehen hat nun mal seine eigene, stereotypisierende Erzählweise und der Tatort ist wohl kaum das angemessene Format, um sämtliche Spielarten des Islam umfassend darzustellen. Als gelegentliche Tatort-Guckerinwehre ich mich außerdem dagegen, als allzu leicht beeinflussbare Rezipientin diskriminiert zu werden, die stumpf von einem fiktiven Bösewicht auf alle nicht-fiktiven Vertreter seiner Glaubensgruppe schließt. Ich fordere eine öffentliche Entschuldigung und eine richtige Darstellung des Tatort-Guckers.

    Andererseits steht zumindest der Bodenseefischer gegenwärtig nicht unter dem Generalverdacht, abendländische Kultur und Werte aushöhlen oder zerstören zu wollen. Von daher kann ich den Protest der alevitischen Studierenden gegen eine Ressentiments bestärkende Darstellung durchaus verstehen. Und wenn ich sie richtig verstehe, wehren sie sich ja auch weniger gegen die Tatsache, dass ein Schurke aus ihren Reihen stammt, sondern dagegen, dass dieser mit den „traditionellen“, diskriminierenden Vorurteilen behaftet wird. Ich möchte nicht erleben, was hier los wäre, wenn die nächste Tatort-Folge einen Juden zeigt, der eine Trinkwasseranlage vergiftet. Da tät auch eine Folge reichen.

  9. @ Walthor

    Zu den Bösewichten denke ich dasselbe. Die Figur eines Verbrechers in einem Krimi als repräsentativ anzusehen, darauf muss man erst einmal kommen. Die Sache mit dem Inzest war natürlich ein Lapsus, die Autorin kannte den diskriminierenden Vorwurf angeblich nicht. Aber wir kennen ihn nun überflüssigerweise alle durch den alevitischen Protest. Darüber hinaus hat die Geschichte aber ja den Aleviten die einmalige Chance geboten, sich bekannt zu machen. Welche Zeitung, welche Rundfunk- oder Fernseh-Anstalt hätte wohl jemanden zu einer Pressekonferenz geschickt, in der die Aleviten die Öffentlichkeit nur so damit hätten vertraut machen wollen, dass sie Christen und Juden nicht für Ungläubige halten?

    „Der Müll, die Stadt und der Tod“: eine schwierige Materie. Die Auseinandersetzung damit würde mustergültig in eine Debatte über Antisemitismus passen, wie sie im anderen Thread angedacht worden ist. Was ist dein Urteil: Ist das Stück antisemitisch, wie damals die Gegner argumentierten, die die Aufführung verhinderten, und wenn ja, sollte es trotzdem aufgeführt werden, damit sich die Zuschauer, vermittelt über die Kritik, ein Urteil bilden können?

    http://www.sonntagsblatt.de/artikel/1998/38/38-s2.htm

  10. „Ich möchte nicht erleben, was hier los wäre, wenn die nächste Tatort-Folge einen Juden zeigt, der eine Trinkwasseranlage vergiftet. Da tät auch eine Folge reichen.“ (Tusnelda)

    Schon bemerkenswert, wie schnell wir wieder bei den Jüden landen, die hier ausnahmsweise mal ganz unschuldig sind, obwohl sonst natürlich für das Elend der Welt verantwortlich.

    Trotzdem: ein Tabu-Thema, wie ich schon sagte, verständlich nach der Vorgeschichte, aber fatal in mancherlei Auswirkungen. Fehlte noch, dass dann Leute aufträten, die ernsthaft behaupten, Brunnenvergifter und rituelle Kindsmörder wären bei den Jüden singuläre Erscheinungen.

    So auch: die Aleviten betreiben Inzest. Muss man so einem Blödsinn ernsthaft widersprechen?

  11. Nicht sonderlich bemerkenswert angesichts Ihres im „Kuschelpädagogik“-Thread geäußerten Wunsches nach einem entsprechenden Blogthema. Hab ich mich mit meiner Bemerkung nun bereits des beginnenden Antisemitismus schuldig gemacht, oder wie darf ich Ihren ersten Satz interpretieren? Ich wollte mit meinen letzten Sätzen auf die unterschiedlichen Grade an gesellschaftlicher Sensibilität hinweisen, die für gleich blödsinnige Vorurteile gegenüber unterschiedlichen Religionsgruppen gelten.

  12. Die Stereotypen über Aleviten, welche in dem Film unabsichtlich bedient wurden, sind in Deutschland vermutlich nur einer kleinen Gruppe bekannt, namentlich den aus der Türkei eingewanderten Muslimen. Die Gefahr also, dass der unbedarfte Durchschnitts- Tatort- Gucker zum einen das Stereotyp bemerkt oder gar vom Einzelfall aufs Ganze schließt (im Sinne von: „Aha, so sind sie also die Aleviten“), ist außerordentlich gering. Jeder Autor weiß nun, dass er mit einer derartigen Darstellung ins Stereotypen-Näpfchen tapst und wird sich zukünftig was anderes einfallen lassen. Über mangelnde Aufklärung kann sich also niemand beklagen. Daher wird es Zeit, das Beschwerde-Banner einzurollen und die Verhältnismäßigkeit des Protests zu bedenken.

  13. @ 6 heinrich
    „Beiden Zitaten, dem alevitische wie dem Bibelzitat, liegt eben nicht das liberale allgemeinmenschlich-brüderliche Weltbild der Aufklärung zugrunde, sondern ein dichotomisches: Hier wir, auf die die Gnade und der Segen Gottes heraufbeschworen wird, dort die anderen, die Feinde, die Gottesleugner, auf die Tod, Verderben und Untergang heraufbeschworen wird.“

    Einspruch, Euer Ehren. Bitte berücksichtigen Sie bei der Bewertung des Gebetes, dass die liturgische Sprache oft ihre Ursprünge in weit zurückliegender Zeit hat. Es gehört zu der Problematik „liberaler“ Richtungen, dass wegen der emotionalen Bindung an bestimmte Gebete diese nicht immer an die Erkenntnisse der Zeit angepasst werden können. Die „Bibel in gerechter Sprache“ bringt z.B. für intelektuelle Auseinandersetzung mit dem Text wichtige Anregungen, ist aber für liturgische Zwecke ungeeignet. Wenn ich solche alten Gebete lese, so tue ich dies durch die Brille meines religiösen Verständnisses. So würde ich solche Formulierungen wie „Gottesleugner und Heuchler mögen untergehen“ nicht als Verdammung von Atheisten oder Agnostikern und schon gar nicht als den Wunsch nach deren physischen Vernichtung verstehen. Vielmehr sehe ich darin den Wunsch, dass Menschen ein „gottesleugnerisches und häuchlerisches“ Verhalten übwerwinden und Gerechtigkeit gegenüber Mitmenschen und Umwelt üben. Ich habe aufgrund des Gebetes keinen Grund an der Aufrichtigkeit der von den Studenten vorgestellten Darstellung der alevitischen Religion als liberal und humanistisch zu zweifeln.

    Sie als Germanist werden doch auch nicht auf Prosa oder Poesie der deutschen Romantik verzichten, auch wenn darin manches Dunkle mitschwingt.

  14. @ Tusnelda,

    nein, ich glaube durchaus, dass sie des Rassismus und Antisemitismus unverdächtig sind, wo denkst du hin? Das Zitat war nur ein Aufhänger für mich, bei dem Thema waren wir ja mit dem Faßbinder-Stück gelandet.

    Im übrigen stimme ich mit ihnen überein und freue mich sowieso meistens über ihre Kommentare.

    Unsere Beiträge hatten sich leider überschnitten. Was ich auch meine: Das Inzest-Motiv hätte nicht erscheinen dürfen, war aber angeblich ein Lapsus. Die Regisseurin Frau Maccarone erklärt dazu:

    „Ich bin bei meinen Recherchen leider nicht darauf gestoßen, dass den Aleviten seit dem Mittelalter von den Sunniten ausgerechnet der Vorwurf des Inzestes gemacht wird und dass sie in dieser Weise stigmatisiert werden. Es war nicht meine Absicht, Vorurteile, die in diese Richtung gehen, in irgendeiner Weise zu unterstützen.“

    http://www.faz.net/s/Rub475F682E3FC24868A8A5276D4FB916D7/Doc~EF1DD0F4F9B264AF48A8822D40285AB07~ATpl~Ecommon~Scontent.html

    „Ich wollte mit meinen letzten Sätzen auf die unterschiedlichen Grade an gesellschaftlicher Sensibilität hinweisen, die für gleich blödsinnige Vorurteile gegenüber unterschiedlichen Religionsgruppen gelten.“

    Da gehen wir vollkommen überein. Nur: der unterschiedliche Grad gesellschaftlicher Sensibilität hat eine materielle Ursache, und die trägt den Namen Holocaust. Die Philosophin Hannah Arendt sagt dazu lakonisch: „Das hätte nie passieren dürfen“. Und was nicht hätte passieren dürfen, wird verdrängt und tabuisiert. Einen unverkrampften Umgang damit wird es auch in zehn Generationen nicht geben, das ist eine Hypothek, mit der wir zu leben haben. Wir sind nur aufgerufen, es zu versuchen. Zum Beispiel, indem wir die blödsinnigen Vorurteile tatsächlich als solche nehmen und belächeln. Das hatte ich mit meinem ironischen Beitrag im Sinn. Kollektiver Inzestvorwurf oder Brunnenvergifter: wer soll denn sowas ernst nehmen?

  15. @ 7 Walthor

    Jemand, der einer über Jahrhunderte verfolgten Minderheit nicht angehört, kann vermutlich die „Überempfindlichkeit“ der Aleviten nicht nachvollziehen. Eine ähnliche Kritik hat es, meiner Meinung nach zu Recht, vor Jahren seitens der Sinti und Roma zu einem Krimi gegeben, dessen Drehbuch Asta Scheib geschrieben hatte.

    Dass die Autorin des Tatorts „Wem Ehre gebührt“ und die Redaktion mit ihrer Geschichte (bei der der Inzest kaum zu den geschilderten Familienverhältnissen und zur Person des Vaters passt) nicht ganz glücklich waren, zeigte schon der distanzierende Vorspann. Wenn der Film, der eine religiöse Minderheit darstellt, mißverstanden sein kann (sonst wäre der Vorspann nicht nötig), dann hätte man ihn gleich überarbeiten müssen.

    Ich verstehe die Reaktion der Aleviten und halte ihren friedlichen Protest, bei dem sie lediglich ihre Bürgerechte in Anspruch nehmen, für berechtigt. Dazu gehört auch das Recht, einen vermuteten Rechtsbruch anzuzeigen, auch wenn ich nicht der Meinung bin, dass es sich bei dem Film um Volksverhetzung handelt.

  16. Lieber Abraham

    ich gebe ihrem Einspruch nur bedingt statt, im übrigen dürfen sie ruhig „du“ statt „Euer Ehren“ zu mir sagen.

    Du führst mich hier auf ein Glatteis, auf das ich mich ungern begebe.
    Als jemand mit klerikaler Erziehung und theologischer Halbbildung, der aber keiner Religionsgemeinschaft angehört, jedoch nach dem Vorbild Lessings gegen den primitiven Atheismus die Religion verteidigt und gegen den religiösen Dogmatismus die sekulare Aufklärung, mische ich mich, da ich nicht bete, auch nicht darein, wie Gebete auszusehen hätten.
    Wer sagt denn, ich sei Germanist? Meinen Umgang mit Texten habe ich bei den philosophischen Hermeneutikern erlernt. Insofern kann ich deinem Umgang mit den alten Texten natürlich etwas abgewinnen. Trotzdem in aller Vorsicht mein Einspruch, Euer Ehren:
    „Wenn ich solche alten Gebete lese, so tue ich dies durch die Brille meines religiösen Verständnisses.“ Ist dies nicht eher der intellektuelle Zugang, wogegen die einfachen Gläubigen ihr religiöses Verständnis anhand der archaischen Texte bilden?
    Die „Bibel in gerechter Sprache“ kenne ich nicht, aber was spricht dagegen, die Gottesleugner einfach aus dem Gebet zu streichen, und die Dichotomie, die in den Texten steckt, und wenn du sie noch so sehr deutend relativierst, zu ersetzen durch die von mir reklamierte allgemeine Brüderlichkeit?

    Ich denke, jemand wie der von mir verehrte Papst Johannes XXIII. ist nicht weniger religiös dadurch, dass er sich so etwas erlaubt hat. Er hat das Wort „perfid“ aus dem klassischen Karfreitagsgebet streichen lassen und künftig schlicht für die die Juden beten lassen statt für die perfiden Juden (pro perfidis judaeis).
    Seine Enzyklika „Pacem in terris“ (Friede auf Erden“) ist die erste offizielle Botschaft eines Papstes, die sich nicht nur an Christen richtet, sondern an „alle Menschen, die guten Willens sind“.
    Und er hat kurz vor seinem Tod ein ganz neues (Buß-) Gebet verfasst:

    Papst Johannes XXIII.
    Wir erkennen …

    »Wir erkennen heute, daß viele Jahrhunderte der Blindheit unsere Augen verhüllt haben, so daß wir die Schönheit Deines auserwählten Volkes nicht mehr sehen und in seinem Gesicht nicht mehr die Züge unseres erstgeborenen Bruders wiedererkennen.
    Wir erkennen, daß ein Kainsmal auf unserer Stirn steht. Im Laufe der Jahrhunderte hat unser Bruder Abel in dem Blute gelegen, das wir vergossen, und er hat Tränen geweint, die wir verursacht haben, weil wir Deine Liebe vergaßen. Vergib uns den Fluch, den wir zu unrecht an den Namen der Juden hefteten. Vergib uns, daß wir Dich in ihrem Fleische zum zweitenmal ans Kreuz schlugen. Denn wir wußten nicht, was wir taten.«

  17. @ Susanne

    Liebe Susanne, ich grüße dich, freue mich, dass deine Ferien vorbei sind und ich von dir hier lese. Ich befürchtete schon, ich müsste dafür auf das SZ- oder Zeit-Blog umsteigen.
    Ich verstehe sowoeso nicht, warum jemand, die ihre Gedanken so sinnlich-konkret einerseits und so geistvoll und prägnant andererseits in angemessener und korrekter Sprache zu Papier zu bringen weiß, nicht längst von der FR-Redaktion angeheuert worden ist.

    Zu deinem Beitrag im Prinzip meine Zustimmung, nur führt eben das zielgerichtete Umgehen von Fettnäpfchen leicht zu innerer Zensur und einem Verlust an Kreativität und Freiheit. Dann vielleicht doch lieber die anschließende gesellschaftliche Auseinandersetzung, oder?

    @ Abraham #15

    Dass der Protest berechtigt ist, ist keine Frage, ich frage mich aber, wie gesagt, ob er auch funktional ist.

    # 13, Nachklapp

    Meine Haltung zur Romantik lässt sich am besten aus folgendem Gedicht meines Lieblingsdichters ersehen:

    Das Fräulein stand am Meere
    Und seufzte lang und bang,
    Es rührte sie so sehre
    Der Sonnenuntergang.

    „Mein Fräulein! Sein Sie munter,
    Das ist ein altes Stück;
    Hier vorne geht sie unter
    Und kehrt von hinten zurück.“

    (Heinrich Heine)

  18. @Susanne
    Danke!
    @Heinrich
    ungereimtes in Reime zu zwängen erscheint mir schon als Vergewaltigung
    … od’r?
    liebe Grüsse
    Hajo

  19. @ 16 heinrich

    Pardon, Kritiker hat sich als Germanist geoutet, das habe ich vewechselt.

    Sicherlich haben Sie Recht, dass manches in der Liturgie geändert werden muss, und beklegen es mit einem guten Beispiel. Warum man sich aber nicht ohne weiteres von der Tradition trennt, hat Rabbinerin Dalia S. Marx in der „Jüdischen Zeitung“ vom Januar 2008 sehr gut beschrieben. Der Artikel geschrieben „Nie mehr ?“ beschäftigt sich allerdings mit der Frage „geschlechtsneutraler Gottesbilder“. Es ist ein sehr kompliziertes Thema, das den Blog sicher sprengen würde. Mir ging es nur darum, dass aus der Liturgie nicht direkt auf das religiöse Selbstverständnis geschlossen werden kann.

    @ 12 Susanne
    Ich kann nicht sehen, dass der Protest der Alaviten unverhältnismäßig wäre, zumindest sind es deren Forderungen nicht. Wie sie ihre Empörung über den „Tatort“ ausdrücken, kann man ihnen doch überlassen, so lange sie damit nicht in die Freiheitsrechte anderer eingreifen.

  20. @ Abraham

    verstehe. Den Artikel von Dalia S. Marx habe ich in der online-Ausgabe der „Jüdischen Zeitung“ nicht gefunden. Könnten sie einen entsprechenden Link posten?

  21. @ Hajo

    „ungereimtes in Reime zu zwängen erscheint mir schon als Vergewaltigung … od’r?“

    Im Gegentum! Es macht gerade die Kunst der Dichter (und der bildenden Künstler) aus, das scheinbar Ungereimte so zusammenzubringen, dass es sich auf einer höheren Stufe in neuer Sinngebung wieder reimt.

    (…)
    Wie schickt sich aber Eis und Flammen?
    Wie reimt sich Lieb und Tod zusammen?
    Es schickt und reimt sich gar zu schön,
    Denn beide sind von gleicher Stärke
    Und spielen ihre Wunderwerke
    Mit allen, die auf Erden gehn.
    (…)

    Johann Christian Günther,
    Als er der Phillis einen Ring mit einem Totenkopfe überreichte

    Grüße
    heinrich

  22. @ 14, heinrich:
    Uff und Danke. Da bin ich wohl beim Wohindenken auf dem Glatteis ausgerutscht. Oh Lord, please don’t let me be misunderstood…

  23. Hallo,
    ich habe so wie sunnitische als auch alevitische Studienfreunde, kann aber nur aus Beobachtungen sagen, dass die alevitischen Studierenden aus Frankfurt einen absolut wahrheitsgetreuen Bericht verfasst haben.
    Liebe Kommentar-Schreiber, hier habt ihr Dank der alevitischen Studierenden aus Frankfurt eine wahrheitsgetreue Beschreibung von der Weltanschaung und des Glauben der Aleviten.
    Falls euch dies jedoch nicht langt, bitte ich euch, setzt euch mit dem Glauben, welches ihr hier zum Teil in Frage stellt auseinander und schreibt anschliessend eure comments.

    Nochmals Danke an die alevitischen Studierenden aus Frankfurt!

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