Ich habe Ihnen einen wöchentlichen Kommentar zum Zeitgeschehen versprochen: „Bronskis Woche“. Dieser Kommentar kommt heute in Gestalt einer Leseempfehlung. Ich bin leider erst jetzt dazu gekommen, das Buch „Faschismus – Eine Warnung“ von Madeleine Albright zu lesen. FR-Autor Arno Widmann hat das schon vor einem Jahr getan und auch darüber geschrieben: „Jedes Zeitalter hat seinen eigenen Faschismus„. So ist das eben, wenn man viel selbst schreibt. Aber jetzt habe ich die Arbeit an meinen „Virenkrieg“-Romanen fast abgeschlossen, und in meinem Kurzurlaub in Vaison-la-Romaine, wo ich in dieser Woche bin, konnte ich die Lektüre von „Faschismus – Eine Warnung“ beenden. Der folgende Text ist weniger eine Rezension als eine persönliche Einordnung rechtzeitig zum Tag der deutschen Einheit, an dem sich – zumindest bei mir – keine passende Festtagsstimmung einstellen will.
Auf dem Sprung in den Faschismus?
Wo beginnt Faschismus? Obwohl Madeleine Albright, US-Außenministerin unter Bill, eine genaue Definition von Faschismus schuldig bleibt, weiß sie diesen einen, entscheidenden Moment zu benennen: Faschismus beginnt in dem Moment, „in dem viele von uns nicht mehr nach ihrer Meinung gefragt werden, sondern nur noch gesagt bekommen“ wollen, „wohin sie zu marschieren haben“. Faschismus beginnt, „wenn alle anderen Optionen unzulänglich erscheinen“. Wenn ein Volk in seinen Nöten keinen Ausweg mehr sieht, keine Alternative, so wie das italienische oder das deutsche Volk Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Das heißt nicht, dass es tatsächlich keine anderen Optionen mehr gegeben hat. Es bedeutet nur das, was Albright sagt: dass die Menschen keine andere Option sahen. Doch Menschen können manipuliert, ihre Bereitschaft zu glauben kann missbraucht werden, sie können, um im Bild zu bleiben, erblinden. Sogar freiwillig.
Das zeigt Albright am Beispiel der Wahl Donald Trumps. Die USA waren wirtschaftlich angeschlagen, als Barack Obama Präsident wurde. Acht Jahre später konnten die USA „auf die längste nachhaltige Expansion der Beschäftigungsrate im Privatsektor zurückblicken“, die es jemals in der Geschichte der USA gegeben habe, urteilt Albright. Die Arbeitslosigkeit war auf einen Tiefststand gesunken. Was dann folgte, nennt Albright „absurd“: Trotz dieser guten Lage wurde ein Kandidat Präsident, der behauptete, die USA seien heruntergewirtschaftet. Was Albright an diesem Punkt ihrer Argumentation verschweigt (später gibt sie es zu): Diese Jobs waren vielfach keine guten Jobs, keine, die ein auskömmliches Leben ermöglichten, sondern Niedriglohnjobs. Was wiederum die Frage aufwirft, warum so viele Menschen in den USA es nicht schaffen, sich für auskömmliche Jobs zu qualifizieren. Was wiederum das Bildungssystem der USA infrage stellt. Demzufolge wäre Trumps Wahl die Konsequenz einer Systemkrise. So wie das Misstrauen vieler US-Menschen gegenüber dem Establishment in Washington Ausdruck dieser Systemkrise wäre: Die Menschen trauen den etablierten Politikern nicht mehr zu, die Probleme zu lösen. Diese Lösungen versprechen sie sich nun vielmehr von Donald Trump, der wie kein anderer gegen die demokratischen Institutionen und das Establishment hetzt. Seine Gefolgschaft liebt das. Sie scheint blind zu sein für das, was daraus folgt.
Von einer Systemkrise, auch einer latenten, ist bei Albright nirgends die Rede. Sie schreibt zwar, dass zur Zufriedenheit mit dem Zustand der Demokratie kein Grund bestehe, warnt aber vor dem Irrglauben, ein autoritäres Regierungssystem sei die praktikablere Option. Mit Trump sieht sie die USA auf dem Weg in diese Richtung. Von und mit ihm ist keine Erneuerung der Demokratie zu erwarten, sondern nur Polarisierung.
Madeleine Albright: Faschismus. Eine Warnung.
Dumont-Verlag. Gebunden, 320 Seiten.
24 Euro
Faschisten können – wie zum Beispiel Benito Mussolini – durch Wahlen ins Amt gelangen. Das heißt noch lange nicht, dass sie demokratisch legitimiert wären. Wenn die Entscheidung der Wählerinnen und Wähler, ihr Kreuz bei Trump zu machen, auf „Fake news“ beruhte, also auf Lügen und Hetze, dann war ihre Wahlentscheidung möglicherweise nicht frei, und keinesfalls war sie mündig. Dann wäre die nächste Frage: Warum haben diese Menschen sich nicht aus Quellen informiert, die sich um Neutralität bemühen? Keine anderen Optionen? Ist ihnen der Wille, der Wunsch oder die Kraft abhanden gekommen, sich unabhängig zu informieren?
Die Geschichte hat gezeigt, wohin der autoritäre Weg führt: in die Gulags, Konzentrations- und Umerziehungslager, in die absolute Herrschaft des „gesunden Volksempfindens“ über die Würde des Menschen und letztlich in Krieg und Vernichtung. Mit einem Wahlerfolg kann es beginnen. Dann wird der Faschist versuchen, konkurrierende Machtzentren – Parlament, Medien, Justiz – zu entmachten und auf Linie zu bringen. Diese Entwicklung können wir außer in Nordkorea, das der einzige real existierende faschistische Staat unserer Gegenwart ist, in ihren Anfängen auch in demokratischen Staaten Europas beobachten, etwa in Ungarn, in Ansätzen auch in Polen. Und natürlich in der Türkei, sofern man sie zu Europa zählen möchte, sowie in Russland. Überall dort finden sich bei den Herrschenden autoritäre Ansätze, die Albright in ihrem Buch analysiert. Diese aktuellen Beispiele für latenten bis manifesten Faschismus – darunter auch Venezuela, die Philippinen und die USA selbst – stellt sie neben die wichtigsten historischen Faschismen. Kuba hingegen ist ihr nur zwei kurze Bemerkungen wert. Vielleicht weil das Land sich aus eigenem Antrieb von einem totalitären zu einem noch nicht genau erkennbaren neuen Ansatz entwickelt. Geht es den chinesischen Weg?
„Faschismus – Eine Warnung“ ist ein lesenswertes Buch, das jenen, die keine Optionen mehr sehen, die eigene Trägheit vor Augen führt. Denn es scheint so bequem zu sein, Kontrolle und Verantwortung einfach abzugeben. Mit den Worten Adolf Hitlers aus dem Jahr 1936:
„Ich will Ihnen sagen, was mich in meine Stellung hinaufgetragen hat. Unsere Probleme erschienen kompliziert. Das deutsche Volk konnte nichts mit ihnen anfangen … Ich dagegen habe die Probleme vereinfacht und auf die einfachste Formel gebracht. Die Masse erkannte das und folgte mir.“ (Zitiert nach Albright, S. 284/285.)
Die Vereinfacher sind heute wieder unter uns. Albright fordert dazu auf zu fragen, was diese Führer für wert erachten, uns mitzuteilen. Daran müsste sich erkennen lassen, ob der Weg, für den sie stehen, in den Faschismus führen kann: Bedienen diese Führer unsere Vorurteile? Wollen sie uns zur Wut gegen jene anstacheln, die uns vermeintlich Böses zufügen? Schüren sie unseren Missmut, rufen sie zur Vergeltung auf? Animieren sie uns, die staatlichen Institutionen zu verachten? Versuchen sie, unser Vertrauen in unabhängige Presse und Rechtsprechung zu zerstören? Beuten sie die Symbole des Patriotismus aus, etwa unsere Nationalflagge? Kurz gefragt: Zielen sie auf unsere Gefühle, nicht auf unsere Vernunft? Oder, so fragt Albright, „laden Sie uns ein, gemeinsam mit ihnen eine Gesellschaft zu erschaffen, in der Rechte und Pflichten gerecht verteilt sind, der Gesellschaftsvertrag gewürdigt wird und alle Menschen sich entfalten und ihre Träume verwirklichen dürfen?“
Albrights Bild von der Demokratie und ihren Institutionen ist vom Idealismus der Autorin aufgeladen. In den real existierenden Demokratien sind diese Rechte und Pflichten zum Teil leider nicht gerecht verteilt. Etwa wenn arme oder mittelmäßig begüterte Menschen von ihrem Einkommen, prozentual gesehen, einen höheren Anteil zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten als Reiche. Oder wenn Parteifunktionäre meinen, sich mit wirtschaftlichen Zugeständnissen Einfluss auf die öffentliche Meinung erkaufen zu können wie etwa im Ibiza-Skandal. Reiche, die sich durch Steuerflucht entziehen, würdigen den Gesellschaftsvertrag ebenso wenig wie Politikerinnen, die bestimmte Entscheidungen mit weitreichenden Folgen für alle als „alternativlos“ bezeichnen und damit dem Diskurs entziehen. Dafür mag es Gründe geben, etwa die Notwendigkeit schnellen Handelns. Solches Vorgehen bleibt dennoch undemokratisch.
Trotzdem ist es richtig, dass die Demokratie die einzige existierende Staatsform ist, in der sich Menschen „entfalten und ihre Träume verwirklichen können“, wie Albright es pathetisch formuliert. Da klingt der amerikanische Traum an. Auch der ist ein Ideal, wie wir wissen. Um, verkürzt gesagt, etwas aus sich zu machen, braucht es auch Ideen, Talent, Energie, Intelligenz, kurz: Fähigkeiten, die nicht allen Menschen gleichermaßen gegeben sind. Doch nur in einer Demokratie können alle Menschen gleich sein. Und nur eine Demokratie kann von den Menschen selbst so geformt und gelebt werden, dass diese Gleichheit ermöglicht wird. Der totalitäre Weg hingegen und der Faschismus erst recht bieten keine Lösungen, sondern schaffen zu den existierenden Problemen nur weitere Probleme, die wir ohne sie nicht hätten.
Aus dem Exil in den Vereinigten Staaten von Amerika mahnte Max Horkheimer in dem Aufsatz mit dem Titel „Die Juden und Europa“ an: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ (siehe: The Institute of Social Research (Hg.): Studies in Philosophy and Social Science, Band 8, New York City, 1939, S. 115). Das heißt nun nicht, dass jeder Kritiker der zeitgenössischen Formen des Faschismus sich einer aktuellen Untersuchung des Kapitalverhältnisses zu befleißigen hätte. Es genügt bereits, die Bruchstellen dessen identifiziert zu haben, die das Kapital niemals zu überwunden vermag, wenn politisch eine weitere Diffusion des Faschismus in die ohnehin vom hiesigen Souverän gebotenen Schranken gewiesen werden soll. Dazu zählt vor allem die Erkenntnis eines außerhalb der Reichweite Dritter liegendes Dasein des Einzelnen, weil ökonomisch-gesellschaftliche Mechanismen seine körperliche Gegenwart unwiederbringlich entziehen, sobald falsch darauf zugegriffen wird. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland haben zur juristischen Beschreibung des besagten Sachverhalts dort gleich eingangs den Satz niedergelegt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Sich dennoch dazu anzuschicken, beispielsweise die Träger menschlicher Arbeitskraft zu vernutzen, schlägt demnach unerbittlich zurück. Insbesondere die Befähigung zu geistigen Arbeitsleistungen entschwindet, noch bevor sich der Frevel in der Lebenswelt des Einzelnen vollenden kann. Nicht rechtzeitig darin innezuhalten, zeugt somit lediglich von äußerster Uneinsichtigkeit Dritter und ist an sich kaum der Rede wert.