Es ist eine Debatte, so alt wie der Journalismus, doch sie stellt sich immer wieder neu. Gerade in Zeiten, in denen immer mehr — auch neue — Medien um Aufmerksamkeit kämpfen. Was ist beim Ringen um Leserinnen und Leser, um Reichweite, um Quote erlaubt? Wie drastisch darf man vorgehen, welche Bilder darf man zeigen? Und was ist davon noch Journalismus?
Es gibt Bilder, die um die Welt gingen. Hier rechts ist ein Bild von einem solchen Bild. Es stammt von den beiden Künstlern Justus Becker und Oguz Sen, die den ertrunkenen syrischen Jungen Aylan Kurdi nach jenem fürchterlichen Bild gemalt haben. Die FR hat selbst dieses Bild nur verschwommen im Hintergrund gezeigt.
Reicht es, ein solches Bild mit den Mitteln der Sprache zu beschreiben, um die menschliche Dimension der humanitären Katastrophe fassbar zu machen, die sich im Mittelmeer abspielt? Oder sollte man das Originalfoto zeigen? Und dabei bewusst die Würde des Toten verletzen? Als Dokument der Zeitgeschichte, aber möglicherweise auch, um den Voyeurismus der Leserinnen und Leser zu bedienen?
Um Fragen wie diese ging es im Streitgespräch der Chefredakteurin der Frankfurter Rundschau, Bascha Mika, mit Tanit Koch, Chefredakteurin der „Bild“-Zeitung. Das Gespräch ist auf FR-online.de gegen Bezahlung einzusehen. Ich werde heute hier an dieser Stelle Auszüge nachtragen und die wesentlichen Thesen vorstellen.
Die Leserbriefe, die ich zu diesem Thema erhielt, kann ich aber bereits jetzt veröffentlichen, und auf dieser Basis ist auch bereits eine Diskussion möglich.
Leserbriefe
Thomas Ries aus Bayreuth meint:
„Das Interview mit Bascha Mika und Tanit Koch ist ein Glanzstück guten Journalismus‘! Vielen Dank!
Es ist beeindruckend, wie Frau Mika das scheinheilige Gesicht der „Bild-Zeitung“ entlarvt und eine klare Grenze zieht zwischen dem Boulevard, der die Sensationlust von Menschen hemmungslos und ohne jeglichen ethischen Maßstäbe bedient und einem Qualitätsjournalismus, der sich selbst noch Grenzen setzen kann. Kaum zu glauben, wie Frau Koch von der „Bild“ ohne rot zu werden Worte wie „journalistische Recherche“ in den Mund nimmt. Und wie Frau Mika richtigstellend sagt, es geht nicht um Geschmacks-, sondern um ethische Fragen.“
Kerstin Engel aus Dinslaken:
„Vielen Dank für Ihre Stellungnahme im Streitgespräch mit der Chefredakteurin der Bild-Zeitung! Ich freue mich über Ihre klare Positionierung zum Umgang mit Darstellung von Gewalt und Grausamkeit in den Medien und das Bekenntnis der FR zu Rücksichtnahme und Opferschutz.
Wäre ich die Ehefrau des französischen Polizisten gewesen, hätte ich es bestimmt als unzumutbare Wiederholung einer Traumatisierung erlebt, die durch die Veröffentlichung nun für immer in den weltweiten Internetarchiven zu finden ist. Ebenso geht es mir mit der Veröffentlichung von Fotos der getöteten Schülerinnen und Schüler aus Haltern.
Ich kann Ihnen nur zustimmen und Sie ermutigen, auch weiterhin mit einem hohen ethischen Anspruch Journalismus zu betreiben!“
Brigitte Heinzmann aus Frankfurt:
„Vielen Dank, Frau Mika, für Ihre klare Haltung gegen voyeuristischen Journalismus. Wir werden ja nicht nur mit Gewalt aus unserem überschaubaren Umfeld konfrontiert, sondern mit allem, was irgendwo auf der Erde geschieht. Allein die Masse der unerfreulichen Ereignisse überfordert den einzelnen Menschen. Ein Abstumpfen lässt sich gar nicht vermeiden, sonst würden wir alle wahnsinnig. Es kann nur dem populistischen Zweck dienen, zusätzliche Aufmerksamkeit auf sich als Medium zu ziehen, wenn über grausige Geschehnisse übermäßig detailliert berichtet wird, wenn Betroffene in ihrem Schock vor die Kameras gezerrt werden oder sich einmal als Selbstdarsteller in den Medien wichtig fühlen dürfen. Der Aufklärung und Information dient das sicher nicht.“
Edmund Dörrhöfer aus Flörsheim hingegen meint:
„Wie umgehen mit Fotos von Toten, Kriegsopfern, Ermordeten, Hingerichteten oder den Filmen aus der Propagandamaschinerie des islamischen Staates (IS)?“.“Und vor allem: Was machen solche Bilder mit uns?“ Hier sehe ich den eigentlichen Ansatzpunkt: Sind wir mit der Realität überfordert? Und wenn ja: Warum?
Von klein auf bekommen wir Teile der Realität vorenthalten. Wir bekommen eine „Scheinwirklichkeit“ vorgegaukelt. Das fängt an mit den Märchen, in dem die Tiere nur lieb oder aber abgrundtief böse sind (z. B. der Wolf). Weiter geht es – zumindest war es in meiner Kindheit so – mit Tierfilmen, die immer aus der „Tätersicht“ gezeigt wurden. Die Löwenfamilie mit ihren jungen, die mit ihren großen Augen und ihrer puren Lebenslust miteinander raufen und spielen. Die irgendwann aber auch einmal Hunger haben. Also macht sich die Mutter auf Beutezug. Da, eine Antilopenherde. Die Herde bemerkt den Feind, und fängt an zu fliehen. Die Löwenmama hetzt hinterher. Sie hat sich auf eine Antilope festgelegt, die wild Haken schlagend versucht zu entkommen. Aber die Löwenmama kann sie mit einem Prankenschlag niederstrecken. Nun hat die Löwenfamilie zu essen.
Man kann aber auch die andere Sicht sehen: Eine Antilopenherde, die friedlich grast. Ein noch junges Tier, aus dessen großen Augen die pure Lebenslust blickt. Doch da: die Herde wird unruhig. Ein Löwe hat sich ran gepirscht. Unsere junge Antilope flieht mit dem Rest der Herde. Der Löwe folgt ihr. Die Antilope schlägt Haken. Die Augen, denen eben noch die pure Lebenslust entsprang, signalisieren jetzt nur noch Angst. Mit einem Prankenhieb wird die Antilope niedergestreckt. Sie versucht sich aufzurappeln. Panik scheint ihren Augen zu entweichen. Der Löwe tötet die Antilope mit einem Biss in die Kehle.
Ist es wichtig und richtig, solche Bilder nie in seinem Leben zu sehen? Dabei handelt sich hier noch um eine relativ harmlose Schilderung! Welche Grausamkeiten in unserer Natur (ohne menschlichen Einfluss!) beobachtet werden können, ist manchmal schwer aushaltbar. Deshalb verschweigen? Sind solche Beobachtungen nicht wichtig, um entscheiden zu können ob es sich bei unserer Welt um die Schöpfung eines gutmütigen Gottes oder vielleicht doch um zufällige Entwicklungen handelt?
Wenn grausame Bilder von Toten, Kriegsopfern, Ermordeten, Hingerichteten oder den Filmen aus der Propagandamaschinerie des islamischen Staates (IS) nicht gezeigt werden dürfen, dann sind Bilder aus den Schlachthäusern – in denen unsere fleischlichen Lebensmittel entstehen – erst recht unzumutbar. Und wenn es ausreicht, dass nur eine wörtliche Schilderung genügend informiert, warum gibt es dann die Schockbilder auf
Zigarettenschachteln?
Sicher ist es fraglich in welcher Form Bilder veröffentlicht werden. Manch Mitbürger mag mit der Realität überfordert sein. Hier muss die Möglichkeit bestehen, dass man sich vor diesen Bildern schützen kann. Aber die, die die Realität so sehen möchten wie sie ist, die sollen auch die Möglichkeit dazu haben.“
Robert Maxeiner aus Frankfurt:
„Dank dieses Interviews brauche ich auch zukünftig nicht BILD zu lesen, um meine Vorurteile gegen dieses Blatt belegt zu sehen. In typischer Manier benennt Frau Koch zuerst ein Klischee, indem sie etwas von Gewaltphantasien und niederen Instinkten faselt, – weder der Interviewer noch Frau Mika haben etwas dergleichen behauptet – um dann ihren Lesern ein hohes Maß an Empathie für Opfer zu bestätigen. Woher will sie das wissen, bzw. nach welchen Kriterien beurteilt sie? Weiter behauptet sie, ihre Leser und Leserinnen seien grundanständige Leute mit überdurchschnittlich viel gesundem Menschenverstand. Wie definiert sie wohl diesen Grundanstand und den überdurchschnittlich gesunden Menschenverstand? Oder glaubt sie, dies in ihrem Status gar nicht nötig zu haben, beziehungsweise überlässt die affektive Definition ihren Leserinnen und Lesern? Sie argumentiert nicht sachlich, sondern arbeitet mit Analogieschlüssen, denn auch wenn die „New York Times“ oder das „Wall Street Journal“ das Foto vom Mord an einem Menschen zeigen, wird es dadurch nicht seriöser oder weniger voyeuristisch, dies zu tun. Sie polarisiert, indem sie von einer ‚Sterilisierung von Zeitgeschehen in den Nachrichtenmedien‘ spricht als Gegenreaktion zu einer Flut von Gewaltvideos. Und dann glaubt sie, dass Menschen sich mit dem Leid der Angehörigen identifizieren, wenn Fotos von Opfern gezeigt werden, möglicherweise gegen deren Willen. Ist dies etwa eine Glaubensfrage? Und woher nimmt sie diesen Glauben?
Offenbar meint sie, entweder mögliche Affekte bei Lesern lenken zu können, was ich für unseriös manipulativ halte, oder sie hält es für sachlich, eine mögliche (andere) affektive Reaktion einfach zu verleugnen. Dabei muss sie sich im Klaren darüber sein, dass ihre Art von Berichterstattung jede Menge Affekte hervor ruft. Was Frau Koch ‚Anteilnahme‘ nennt, interessiert mich nun überhaupt nicht, die soll über Fakten informieren, und ob bei Leserin oder Leser darüber Anteilnahme entsteht, ist allein deren Angelegenheit und eine Frage der Selbstreflexion. Wäre ja noch schöner, wenn „Bild“ nicht nur die Meinung seiner Leserinnen bilden will, sondern auch noch deren Gefühle.
Wenn Frau Koch meint, eine so bildhafte Sprache verwenden zu müssen, indem in den 70er Jahren Blut aus der Zeitung gelaufen sei, heute hingegen nicht mehr, erlaube ich mir das auch: Nein, kein Blut, Frau Koch, eher Giftmüll! Daran hat sich bis heute nichts geändert.“
Wenn Realitätskontakt über Fotos zu Schockreaktionen führt, sollte das einige Fragen stellen.
Wo und wie haben die „betroffenen Personen“ denn bisher so in einer Realitätsblase gelebt?
Wer nicht vor der Wirklichkeit fliehen will, soll die möglichekit haben sich zu informieren.
@ Karl Müller
Und wo bleiben dabei die Würde der Toten und das Recht am eigenen Bild (oder am Bild des verstorbenen Familienmitglieds)?
Hallo Frau Ernst,
auch bisher hat es da eine ganz zweckmäßige Differenzierung hinsichtlich der verwendeten Fotos gegeben. Es dürfte aufgefallen sein das vorwiegend Bildausschnitte und anonymisierte Darstellungen den Weg in die Medien gefunden haben.
Denke das reicht in der Regel aus. Wer berechtigtes Interesse an umfangreichen Details hat, kann sich auch in die bearbeitende Einrichtung, Institut etc. wenden.
Es sollte eben für den öffentlichen Teil der Darstellung nicht vollständig verzichtet werden, jedes Detail, und erkennbare Personen abzubilden ist aber auch sicher nicht erforderlich. Bei Gewalt gegen Personen böte sich u.a. das Vorstellen des Defektes etc. an.
Ersatzweise mag auch der Besuch der Rechtsmedizin hier aushelfen. Tatsächlich wende ich mich auch eher gegen eine gewaltfrei wirkende Sachverhaltsdarstellung, wenn das Geschehen tatsächlich doch äußerst gewaltbetont gewesen sein mag. Auf das gezielte Weglassen sollte m.E. da verzichtet werden.
Den o.g. Leserbriefen kann ich nur hinzufügen: Sie haben mir (zum Großteil) aus der Seele gesprochen haben. Hätte ich Zeit gehabt, ich hätte wohl umgehend nach Lektüre des Streitgesprächs selbst reagiert bzw. Bascha Mika zu ihrer souveränen Haltung und klaren Position angesichts der provozierenden Antworten ihrer „Gesprächspartnerin“ gratuliert. Wunderbar die Kombination von kühlem Kopf und klaren Aussagen. Chapeau und Danke!