Der ungarische Regierungschef Victor Orban hat seine Landsleute gefragt, wie sie sich in der Flüchtlingsfrage positionieren. Das Ergebnis dieses Referendums ist nicht Fisch und nicht Fleisch: Zwar stimmte eine überwältigende Mehrheit derer, die ihre Stimme abgegeben haben, mit Nein. Diese Antwort bekam 98,3 Prozent der Stimmen, und die dazugehörige Frage lautete:

„Wollen Sie, dass die EU ohne Zustimmung des Parlaments die verpflichtende Ansiedlung von nichtungarischen Staatsbürgern in Ungarn vorschreiben kann?“

orban-2Andererseits aber betrug die Wahlbeteiligung mal gerade 40 Prozent. Das Quorum wurde also nicht erreicht. 50 Prozent plus ein/e Wähler/in hätten die Stimme abgeben müssen. Da wird man wohl mal wieder über den Sinn und Unsinn von Referenden nachdenken müssen. Wie kommt es, dass die Wählerinnen und Wähler offenbar keinen Sinn darin erkannten, ihre Stimme abzugeben? Hielten sie die Sache für bereits entschieden? Haben sie sich verweigert, weil sie sich im europäischen Kräftemessen nicht vor Orbans Karren spannen lassen wollten? Mutmaßten sie, dass der „kleine Putin“ Orban seine Linie sowieso weiter verfolgen würde, egal, wie das Referendum ausgehe? Oder haben sie womöglich schlicht kein Interesse an demokratischer Teilhabe?

Tatsache ist jedenfalls, dass Orban sich der Rückendeckung durch seine Landsleute versichern wollte und dass er damit gescheitert ist. Das Ergebnis ist also eine Schlappe für ihn, und das wird in Europa auch ganz klar so gesehen, auch wenn Orban weiterhin den Starken markiert. Seine Pläne, das Ergebnis des Referendums in die ungarische Verfassung zu schreiben, kann er nicht mehr so einfach umsetzen, seit seine Partei, Fidesz, im Februar 2015 die Zweidrittel-Mehrheit im Parlament verlor; aber er wird wohl einen Weg finden.

Für die Flüchtlingspolitik der EU ist damit nichts gewonnen. Sie ist und bleibt desaströs, weil viele EU-Staaten sich weigern, solidarisch zu sein. Unter diesen sind die vier Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn lediglich die striktesten. Polen brachte dafür das Konzept der „flexiblen Solidarität“ ins Spiel. Man kann das schlicht als Unverschämtheit begreifen, denn Solidarität wird in der Stunde der Not gebraucht und nicht dann, wenn der eine oder andere Staat irgendwann mal Lust hat, die Sache mit dem europäischen Gedanken vielleicht doch ausnahmsweise mal ernst zu nehmen. Aber ehrlich gesagt: Wenn ich Flüchtling wäre — ich würde gar nicht nach Ungarn wollen.

Ungarn nimmt die europäische Schokoladenseite — sprich: diverse Milliarden, die aus EU-Töpfen in das Land fließen — gern in Anspruch, verweigert sich aber der Verständigung, sobald es kritisch wird. Ich kann Jean Asselborn verstehen. Der Außenminister Luxemburgs hatte vor einem Monat in einem Interview mit der „Welt“ gesagt:

„Wer wie Ungarn Zäune gegen Kriegsflüchtlinge baut oder wer die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletzt, der sollte vorübergehend oder notfalls für immer aus der EU ausgeschlossen werden.“

fr-balkenLeserbriefe

Gabriele Abraham aus Sulzbach:

„Ich weiß nicht, warum man so schadenfroh sein muss bei diesem Wahlergebnis. Über dieses Ergebnis würde sich die CDU in Deutschland bei der nächsten Bundestagswahl sehr freuen. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass jedes Land in der EU für sich entscheiden sollte, ob es Flüchtlinge aufnimmt. Dieses Durchregieren von Brüssel stärkt die Gegner von Europa. Und noch eins: Ungarn hat den Mut bewiesen, dieses brisante Thema seinen Bürgern vorzulegen. Das traut sich Angela Merkel nicht, wie schade.“

Ebba Hagenberg-Miliu aus Bonn:

Offensichtlich wird es in Budapest & Co. als ganz selbstverständlich angesehen, dass der Westen nach 1956 ohne jede Hetze Hunderttausende ungarischer Flüchtlinge aufgenommen hat.

Ingeborg Burck aus Bad Homburg

Solange sich das Vermehrungsverhalten zu vieler Männer in zu vielen Weltgegenden nicht ändert, wo herz- und hirnlos Nachwuchs in die Welt gesetzt wird, obwohl keine Perspektive für ein gutes Leben vorhanden ist, solange wird Not und Elend dort herrschen.

Marianne-Helene Leuninger aus Wiesbaden:

Vielleicht kann man es ja auch so sehen: Ungarn (wie auch z.B. Polen, Tschechien) haben keine anderen Nationen überfallen und deren Staatswesen ruiniert wie die USA und GB; auch waren sie keine Kolonialmächte in Afrika, und ebenso wenig zerstören sie die Lebensgrundlagen dort durch ihre Exporte. Warum muss die EU also wegen der wenigen Schutzsuchenden, um die es geht, hier der Prinzipienreiter sein und sich noch unbeliebter machen? Wäre nicht auch hier das Verursacherprinzip anzuwenden?

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7 Kommentare zu “Die Gegner Europas

  1. Die Gegner Europas sitzen in diesem Fall nicht nur auf der rechten Seite.
    Ohne Zustimmung des Parlaments – ich bin sehr für die Aufnahme von Flüchtlingen , aber bei dieser Frage hätte ich auch mit nein gestimmt.
    Europa funktioniert nicht , indem es die Nationen übergeht und entrechtet , sondern indem es sie mitnimmt und respektiert , selbst die alten Römer wußten das offenbar besser als wir.

    Nicht erst dieser Vorgang zeigt , daß es nicht zuletzt diejenigen Kräfte sind , die sich für die „guten“ Europäer halten , die die europäische Idee zuschande reiten und -siehe Fragestellung – für das Gute offenbar bereit sind , die Parlamente zu entrechten.

    Wer da rektionär ist , und wer progressiv , das ist längst nicht mehr so klar , wie es die vielbeschworene Spaltung der Gesellschaft zu suggerieren scheint – was da häufig von linker und liberaler Seite verteten wird , macht den Rechten echte Konkurrenz , was den Wettbewerb ums rückwärtsgewandtere Weltbild angeht.

    Demokratiefeindliches und reaktionäres Denken kommt heute – leider – oft von denjenigen , sie sich selber für fortschrittlich und liberal halten , so manch peinlicher Leserbrief rundet dieses Bild dann sauber ab.

  2. Ich stimme Ebba Hagenberg-Miliu zu, wonach offensichtlich vergessen wurde, dass insbesondere 1956 viele Flüchtlinge aus Ungarn im Westen aufgenommen wurden, was übrigens gleichermaßen für Polen gilt.

    Die Diskussion zu Ungarn beschränkt sich zurzeit auf das Referendum zur Flüchtlingsfrage, dabei sind die innenpolitischen Zustände in Ungarn – diktatorisches Regime von Orban mit Beschränkung der Kompetenzen des Verfassungsgerichts, die Umlage von Strafzahlungen (z. B. der EU) als direkte Steuern auf die Bürger etc.- mit zu berücksichtigen.

    Jedoch scheuen sich CDU/CSU und ihre konsernativen Schwesterparteien im Europäischen Parlament nicht, mit der Fidesz Orbans eine Fraktion im EU-Parlament zu bilden.

  3. Auch aus den beiden anderen Visegrad-Staaten, Tschechien und der Slowakei, damals noch im Staat Tschechoslowakei geeint, sind 1968 und danach ca. 200 000 Flüchtlinge in Westeuropa aufgenommen worden. Ich habe in meinem Bekanntenkreis einige ehemalige Flüchtlinge aus diesem Staat, und die sind sehr ärgerlich über die mangelnde Solidarität ihrer geschichtsvergessenen ehemaligen Landsleute.

    Was das Verursacherprinzip angeht, kann ich Marianne-Helene Leuninger nicht ganz zustimmen. Sicher ist es richtig, dass die USA und GB die meisten Flüchtlilnge aus dem Irak und Syrien aufnehmen müssten, weil sie mit dem zweiten Golfkrieg enscheidend zum Entstehen des IS beigetragen haben. Aber man sollte nicht vergessen, dass auch Polen sich damals der „Koalition der Willigen“ angeschlossen hat und deshalb eine Mitverantwortung für den Überfall auf den Irak trägt.
    Ein Argument, das oft von Seiten der Visegrad-Staaten zu hören ist, sollte man allerdings berücksichtigen: In Osteuropa landen viele Flüchtlinge aus der Ukraine, deren Zahl bei der Zuweisung der Flüchtlingskontingente berücksichtigt werden müsste.

    Die Frage, inwieweit die nationalen Parlamente – oder gar Volksentscheide, wie sie offenbar von Gabriele Abraham favorisiert werden – über die Aufnahme von Flüchtlingen bestimmen sollten, ist schwierig zu beantworten. Bezüglich der Verträge CETA und TTIP besteht ja die Mehrzahl der Deutschen auf der Entscheidungsgewalt der nationalen Parlamente. Da fragt sich natürlich manch eine(r), warum nicht auch Flüchtlingsfragen vom Parlament entschieden werden sollten.
    Andererseits gilt in Europa die Genfer Flüchtlingskonvention, und in den Verfassungen aller Mitgliedstaaten ist das Recht auf Asyl verankert – eine Voraussetzung für die Aufnahme in die EU. Und ich kann mich auch nicht erinnern, dass das deutsche bzw. österreichische Parlament über die Aufnahme der ungarischen, tschechischen und polnischen Flüchtlinge abgestimmt hätte. Aber 1956 war Victor Orban noch gar nicht geboren und hat natürlich keine Vorstellung davon, wie groß die Wohnungsnot damals in Deutschland war, wie viele Heimatvertriebene noch in Heimen untergebracht waren und in welchem Maß der nicht abreißende Strom von DDR-Flüchtlingen die Aufnahmelager überschwemmte.

  4. Man muss sich entscheiden, was man will. Wenn man eine europäische Lösung haben will, muss die Entscheidung auch in den europäischen Institutionen gefällt werden. Wer für die Entscheidungsgewalt in den Händen der nationalen Parlamente ist, bekommt dann eben auch nationale Entscheidungen.
    Die Forderung, dass alle europäischen Parlament zustimmen müssen, führt dazu, dass ein kleines Land wie Estland, dass nicht mal 1% der Einwohner der EU stellt, eine Lösung blockieren kann. Dies kann man ja wohl kaum als einen Sieg der Demokratie bezeichnen.

  5. „Man“ muss sich entscheiden, was man will. Wohl wahr. Die Gründerregierungen wussten es; hatten ein Ziel. Die Nachfolgeregierungen wissen es leider nicht mehr. Die „Alten“ hatten noch den schrecklichen Krieg mit all seinen negativen Folgen im Kopf. Die „Neuen“ eben fast nur egoistische Ziele.

  6. Brigitte Ernst, 9. Oktober 2016 um 11:23

    „Aber 1956 war Victor Orban noch gar nicht geboren und hat natürlich keine Vorstellung davon, wie groß die Wohnungsnot damals in Deutschland war.“

    Dieser Hinweis von Brigitte Ernst erscheint mir wichtig und durchaus aufschlussreich, nicht nur Orban betreffend.
    So heißt es in einem Antwortschreiben von Orbans Pressereferent auf ein Protestschreiben von mir in Zusammenhang mit einer Aktion von Amnesty: „Wir müssen uns wehren gegen alle, die unser schönes Land überrennen wollen, die Verbrechen und Terror bringen.“ Weiterhin wird darin Bezug genommen auf die 1000jährige ungarische Geschichte.
    Die Bezüge zu einem vom 1000-jährigen Deutschland schwadronierenden Björn Höcke sind unverkennbar, oder auch zu dem Geschwafel eines Herrn Gauland, neulich wieder bei Maybritt Illner, über den Untergang des Römischen Reichs durch anrennende Germanen. Diese mehr als verwegene Gleichsetzung von kriegerischen germanischen Horden – auf deren Mythen er andererseits stolz ist – mit Flüchtlingen von heute ist symptomatisch. Nur mit dem Kurzzeitgedächtnis hapert es erheblich. Dies macht zugleich deutlich, wie solche Herrschaften ihr Weltbild zusammenbasteln: Mythologisches Geschwafel und selektives Geschichtsverständnis gehen einher mit massiver Verdrängung der jüngsten Vergangenheit.
    Zu widersprechen wäre auch dem recht einseitig angelegten Ungarn-Bild von Marianne-Helene Leuninger. Zu erwähnen wäre da wohl auch das Horthy-Regime, seiner Kooperation mit dem faschistischen Detuschland und den Annexionen in der Slowakei und Rumänien. (Eine mir gut bekannte Rumänin, sonst sehr aufgeschlossen, pflegt noch heute einen gewissen Hass gegen Ungarn.)
    Dass das Orban-Regime ausgerechnet an eine der positivsten Perioden, die Rolle Ungarns bei der Maueröffnung, – aus recht naheliegenden Gründen – so gar nicht erinnert werden möchte, macht das Ganze nicht besser. Es zeigt, was da an elementarsten Formen der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gerade bei denen fehlt, die sich berufen fühlen, andere über Geschichte, Volk und „völkisches“ Bewusstsein zu belehren.
    Im Übrigen erinnere ich mich sehr gut daran, wie die Ankunft ungarischer Flüchtlinge – 2 Jahre nach dem historischen deutschen WM-Sieg gegen Ungarn – bei mir als 12jährigem Jungen Mitgefühl ausgelöst hat und dazu beitrug, das eigene Schicksal in etwas milderem Licht zu sehen.

  7. Vielleicht sollte man bei der Beurteilung der ungarischen Politik aber auch die Geschichte dieses Volkes nicht außer Acht lassen. Vor allem die ständigen Kämpfe gegen die Osmanen sowie deren 150jährige Fremdherrschaft wird von Orbananhängern gerne ins Feld geführt, um die Angst der Ungarn vor Muslimen zu begründen. Aber auch die schwierige Selbstbehauptung gegenüber den Habsburgern sowie die heutige Zersplitterung der ungarischen Volksgruppe auf mehrere Nachbarstaaten könnte ein Grund für die Vehemenz sein, mit der viele Ungarn ihre nationale Selbständigkeit verteidigen. Ähnliches gilt übrigens auch für Polen, das jahrhundertelang von den mächtigen Nachbarstaaten Russland, Preußen und Österreich okkupiert wurde.

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