Ein Sommerkleid aus einem Mehlsack
Von Heidrun Wilker-Wirk
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Ich war gerade drei Jahre alt geworden, als meine Mutter mit uns vier Kindern, unterstützt von einer Schwägerin und einem Hausmädchen, im Februar 1945 von Frauenburg /Ostpr. aus die Flucht über das im Eis liegende Frische Haff antrat. Die andern gingen zu Fuß, ich durfte in der Sportkarre sitzen. Kurz zuvor hatte uns noch auf regulärem Wege die Nachricht erreicht, dass unser Vater Weihnachten 1944 im Baltikum gefallen war. Alles nun Berichtete kann ich selbst erinnern.
Anfang März kamen wir über Danzig und Berlin in einer kleinen Kreisstadt zwischen Hamburg und Bremen an, wo wir den Einmarsch der Engländer miterlebten. Wir wurden einer Familie zugewiesen, die drei leergeräumte Rumpelkammern unterm Dach ihres Häuschens erübrigen konnte – ein heizbares Zimmer, eine Art Küche mit Spülstein und Wasserhahn, aber ohne Abfluss, eine nicht heizbare Dachkammer mit einigen Betten, das Plumpsklo für alle ebenerdig im Anbau. Der Familienvater hatte, wie wir später erfuhren, seine Familie drauf verpflichtet, uns gut und anständig zu begegnen.
So war es denn auch: Wir waren nicht nur gelitten, sondern wurden herzlich aufgenommen. Besonders zu der Frau und den etwas älteren Kindern hatten wir einen sehr guten Kontakt. Von Anfang an waren wir auch in der Spielgemeinschaft der anderen Kinder unserer Straße willkommen und spielten den ganzen Sommer über „Spion“, Klipp, Ballspiele, Tonnenreifen, Seilhüpfen und all dies in wechselnden Spielgruppen.
Wir waren auch deswegen wohlgelitten, weil unsere Mutter aus allem, was irgendwo übrig war und uns geschenkt wurde, etwas zu machen verstand. Die Uniformjacke wurde zu einem Wintermäntelchen, ein zu großer Pullover wurde aufgerebbelt und passend neu gestrickt, aus einem Mehlsack wurde ein Sommer-Sonntagskleid (kann man sich heute noch vorstellen, dass ich ungeduldig wartete, bis das Kleidchen im übernächsten Sommer endlich auf mich überging?) – und immer stellten wir diese umgearbeiteten Sachen mit Stolz vor, so dass uns weiterhin Geschenke zuteil wurden. Aus einer Kiste Birnen wurden im Laufe einer Woche, nachdem unsere Mutter in geliehenen Gläsern eine gehörige Portion für den Winter eingeweckt hatte: Birnenpfannkuchen, Birnenklöße, Birnensuppe, Birnenmus, Birnenkompott, Birnenauflauf… Wir aßen brav, wenn auch nach einer Weile mit langen Zähnen, denn das Essen war generell knapp; es war undenkbar, etwas verkommen zu lassen.
Unsere Mutter schloss sich alsbald dem städtischen Chor an, wir Kinder sangen in den unterschiedlichen Schulchören mit und wurden über diese zu Krippenspielen, Märchenaufführungen und dergleichen weitervermittelt, so dass wir sozial bestens eingebunden waren. Ebenso gehörten wir dem Turn- und Schwimmverein an. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals wegen unseres Status‘ als Flüchtlingskinder gehänselt oder benachteiligt worden wären.
Unsere Mutter suchte geduldig Behörden und Institutionen auf, um Schulgeldbefreiung, Schulbuchzuschüsse, Reduzierung von Vereinskosten usw. zu beantragen. Dabei scheute sie sich nicht, unsere finanzielle Lage offenzulegen. Ja, wir waren arm, und das wussten wir alle. Wir mussten auf vieles verzichten, was unsere Freundinnen oder Bekannten sich damals schon mit einem Fingerschnips leisten konnten. Wir kannten aber auch die Ursachen dieser Armut und machten niemandem – weder unserer Mutter oder der Gesellschaft noch dem Schicksal – Vorwürfe deswegen. Unsere Schulkameradinnen wohnten teilweise in schönen Einfamilienhäusern mit Zentralheizung und elektrischem Licht (!) im Keller; sie hatten ein Klavier oder Schlittschuhe und fuhren im Sommer nach Norderney oder später in den Skiurlaub. Gut, das war eben so! Für uns war jeder Kinobesuch, jeder Jahrmarktsbummel ein Ereignis, und auch das war eben so! Unsere „Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ war halt ein bisschen anders, aber deswegen nicht weniger schön. Wir lebten mit unserer Armut in Würde, und das bis in die späten 50er Jahre, als wir schon nach Hessen umgezogen waren.
Ich persönlich fühlte mich in dieser Zeit des Heranwachsens wohl und geborgen, und auch rückblickend kann ich sagen, dass „ich Flüchtlingskind“ eine glückliche und harmonische Kindheit hatte. Meine älteren Geschwister mögen dies ein wenig anders, differenzierter, empfunden haben. Aber ich fühlte mich wohl!
All dies war wohl insbesondere unserer Mutter zu verdanken, die die Nachteile von Flucht und Nachkriegszeit nicht von uns fernhielt, sondern bewusst und durchsichtig machte, aber gleichzeitig dafür sorgte, dass wir zwischen Werten unterscheiden konnten.
Heidrun Wilker-Wirk, geb. Jan 1942 in Frauenberg/Ostpreußen, lebt heute in Darmstadt. Die pensionierte Lehrerin ist verheiratet, hat zwei Kinder und eine Enkeltochter. Sie besitzt keine Bilder aus jener Zeit, so dass dieser Thread bildfrei bleibt bis auf das Porträtfoto.
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