Fleisch gab es nur einmal pro Woche
von Doris M. Keil
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Mein Name ist Doris Maria Keil. Geboren wurde ich am 24. August 1944 als Doris Maria Blaha in Prag (die Blaha aus Praha). Meine Mutter Irene Maria Blaha musste von meinem leiblichen Vater (einem deutschen Wehrmachtsangehörigen) vierzehn Tage vor der Eheschließung hören, dass „er sich nicht sein Leben verderben wolle“. Also wurde ich unehelich geboren. Wir waren sogenannte „Volksdeutsche“. Meine Oma mütterlicherseits brachte alle ihre Kinder in Dresden zur Welt.
Im Mai 1945 – nach dem Kriegsende – wurde meine Mutter ebenso wie ihre jüngste Schwester von den Tschechen interniert. Beide waren bei der Firma Aral in Prag angestellt und hatten angeblich „kriegswichtige“ Akten verbrannt.
Meine Oma Anna Blaha, geb. Krejči, in deren Obhut ich mich seit meiner Geburt befand, da meine Mutter arbeiten musste, zog dann von Prag zu ihren Geschwistern und Angehörigen nach Clumec nad Labem (Kulm an der Elbe nahe Aussig). Im Oktober 1946 wollten die Tschechen, dass alle Deutsche in der Tschechoslowakei die tschechische Staatsangehörigkeit annehmen. Meine Oma – übrigens die einzig politische Person in meiner Familie – wollte das nicht und musste daraufhin die Tschechoslowakei, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte (bei ihrer Geburt am 07.04.1891 war das noch Österreich-Ungarn), verlassen, und ich auch. Die fünf Geschwister meiner Oma haben die tschechische Staatsangehörigkeit angenommen und blieben in der Tschechoslowakei.
Wir wurden in Viehwaggons verfrachtet und Richtung Deutschland geschickt. An der deutschen Grenze wurden wir ausgeladen und von einer Krankenschwester registriert. Diese las unseren Namen und meinte: „Da waren neulich zwei junge Mädchen, die hießen auch Blaha. Sind Sie mit ihnen vielleicht verwandt?“. Darauf meine Oma: „Wenn sie Irene und Margerita hießen, dann sind es meine Töchter.“ Das wusste die Krankenschwester nicht mehr, aber sie schaute es nach. Und siehe da, es waren meine Mutter und meine Tante, die im März 1946 aus dem Internierungslager entlassen worden waren.
Sofort erkundigte sich meine Oma, wohin sie denn in Deutschland gekommen wären. Auch das konnte die Krankenschwester uns sagen: nach Trebur. Nach Trebur? Wo liegt denn das? Antwort: In der Nähe von Frankfurt am Main. Also setzte meine Oma sofort alles in Bewegung, damit wir zwei auch dorthin kommen. Wir sollten eigentlich nach Schleswig-Holstein.
So fanden wir uns an einem Oktobertag in Trebur ein. Meine Mutter und meine Tante waren beim reichsten Bauern von Trebur untergebracht in zwei feuchten Räumen. Inzwischen war meine Schwester in Wiesbaden geboren worden. Das war für meine Oma ein Schock, dass da noch ein zweites uneheliches Kind war.
Der Bauer und seine Frau– an den Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich könnte ihn sicherlich herausfinden, hatten ihre vier Kinder verloren – nicht durch den Krieg, sondern drei durch Kinderkrankheiten und den ältesten Sohn durch Selbstmord. Dies war aber alles schon vor unserem Eintreffen passiert. Aber das Ehepaar war sehr verbittert und mochte uns nicht. Entsprechend wurden wir behandelt. Auf dem Hof lag z. B. ein Riesenberg Äpfel, die einfach verfaulten. Wir durften uns nicht einen Apfel davon nehmen, taten es aber heimlich doch. Oder: Meine Oma war von Beruf Köchin und in der Tschechoslowakei beim Grafen Hoyos angestellt, wo ihr Mann Engelberg Blaha Kutscher und Sattler war. (Er war 1936 an einer Lungenentzündung gestorben.) Zur Erntezeit wurde sie in Trebur vom Bauern engagiert, für die Erntehelfer zu kochen. Gegessen wurde an einem langen Tisch in der Scheune schräg über den Hof. Meiner Oma war es verboten, uns Kindern etwas von dem Essen zu geben. Sie machte es trotzdem und hat folgenden Trick angewendet: Unter ihrer Schürze trug sie eine zweite Schürze mit zwei großen Taschen. In diese hatte sie zwei Rexgläser gesteckt und füllte in das eine Kartoffeln und Gemüse und in das andere Fleisch mit Sauce und brachte es zu uns hinüber.
Wir als Flüchtlinge hatten wenig Geld, aber meine Mutter und meine Tante hatten eine Anstellung, so dass wir im Laufe der Zeit den nötigen Hausrat kaufen konnten. Am Essen wurde allerdings gespart, zumindest an Fleisch und Wurst. Die gab es nur einmal in der Woche.
Im Juni 1950 erlitt ich einen Unfall. Ich wollte im Stall hinter einem Pferd vorbei. Dieses schlug mit der Hufe aus und trennte meinen rechten Daumen am Nagelbett fast vollständig ab. Er hing nur noch an einem Stück Haut. Der Dorfarzt amputierte das verbliebene Glied am Gelenk unterhalb des Fingernagels. Er meinte: „Das sieht bei einem Mädchen schöner aus.“ Dieser Unfall war ein Schock für das ganze Dorf.
Im April 1951 wäre ich in die Schule gekommen, da ich im August 1950 sechs Jahre alt wurde. In St. Blasien im Schwarzwald wohnte die mittlere Schwester meiner Mutter und hatte auch eine Tochter, die vier Wochen jünger war als ich. Da ich seit dem Unfall an schweren Schlafstörungen litt, schickte mich meine Mutter nach St. Blasien, wo die Einschulung bereits im September eines Jahres war.
Doris M. Keil (Mitte) mit ihrer
Tante Margerita (links) und Großmutter
Anna Blaha im Jahr 1951 in Frankfurt.
Bild: privat.
Im Dezember 1950 war die Familie von Trebur nach Frankfurt am Main ins Gallusviertel gezogen. Meine Mutter hatte in Frankfurt schon länger eine Anstellung gefunden, meine Tante ebenfalls (sie übrigens wieder bei der Firma Aral, wo sie insgesamt vierzig Jahre gearbeitet hat). Jeden Morgen um fünf Uhr machte sich meine Mutter zu Fuß auf und lief bis zum nächsten Bahnhof (Groß-Gerau oder Rüsselsheim?), von dort mit dem Zug nach Frankfurt und dann mit der Straßenbahn zur Arbeitsstelle. Abends in umgekehrter Reihenfolge zurück. Um 20 Uhr war sie dann wieder zu Hause. Ein unhaltbarer Zustand für eine Mutter mit zwei kleinen Kindern.
Man ließ mich bis Ostern 1950 in St. Blasien zur Schule gehen, ab dann in Frankfurt am Main in der Rebstöckerschule. Der Rektor Flötenmeier hatte mich getestet, ob ich noch einmal die erste Klasse oder gleich die zweite Klasse besuchen sollte. Er fand, ich wäre für die zweite Klasse geeignet.
Unsere Nachbarn im Haus und in den Nebenhäusern waren – so weit ich mich erinnere – komplette Familien mit Vater, Mutter und Kindern. Manche Männer trauten uns Flüchtlingen, die allesamt weiblich waren, nichts zu, vor allen Dingen meinten sie, uns ständig bevormunden und drangsalieren zu müssen. Wir putzten z. B. die Treppe nicht richtig (über die nur wir gingen), wir staubten auf dem Hof die aufgehängte Wäsche mit unserem Klickerspiel im Garten ein . . . . Diese Familien waren allesamt arme Arbeiterfamilien, denen ging es – wie uns Flüchtlingen – nicht gut. Aber wir hatten zwei Verdienerinnen, meine Mutter und ihre jüngste Schwester. Da konnten wir uns einmal im Monat ein Essengehen im Gasthaus leisten. Jeden ersten Sonntag im Monat waren wir in der „Mutter Henne“ in der Berliner Straße und aßen dort jede (!) ein halbes Hähnchen. Das war immer ein Festtag, vor allen Dingen auch für meine Oma, die dann nicht kochen musste.
An die Mentalität der Frankfurter, diese Knurrigkeit und Einsilbigkeit, gewöhnten sich die Erwachsenen nur langsam. Wir Kinder hatten es leichter, wir wuchsen damit auf. Heute finde ich dies nicht mehr schlimm. Es gehört für mich zu Frankfurt wie Handkäs’ mit Musik.
Meine Schwester und ich waren in der katholischen Gemeinde Maria Hilf aktiv. Noch heute treffen wir uns einmal im Jahr. Auch unsere Gruppenführerin ist öfter mit dabei. Sie wohnt bei Bamberg.
Hin und wieder kamen ein Bruder oder eine Schwester meiner Oma zu Besuch nach Frankfurt. Die jüngere Generation durfte die Tschechoslowakei nicht verlassen. So konnte sich kein Verwandtschaftsgefühl aufbauen, und es gibt seit Jahren keine Verbindung mehr.
In den 50er und 60er Jahren ging es ganz Deutschland immer besser, auch uns. Jedes Jahr einmal gab es auf dem Messegelände ein Treffen der Sudetendeutschen. Wir waren am Anfang immer dabei. Das war vielleicht eine Aufregung, wenn wieder ein Verwandter oder Freund gefunden wurde, der dann erzählte, wie es ihm ergangen war. Nach ein paar Jahren allerdings traf man niemanden mehr, und wir besuchten diese Treffen nicht mehr.
Im September 1953 – ich besuchte die vierte Volksschulklasse – wurde ich von der Caritas nach Holland (!) auf einen Bauernhof zum Aufpäppeln geschickt. Der Aufenthalt dauerte drei Monate, d. h. an Weihnachten war ich wieder zu Hause. Ich lebte bei der Familie von Christian Driessen in Ell bei Roermond. Außer dem Bauer sprach niemand auf dem Hof deutsch, was ich aber nicht als schlimm empfand. Ich lernte durch die drei Kinder ruck zuck holländisch. Auf dem nächsten Hof war auch ein deutsches Flüchtlingsmädchen einquartiert und wir besuchten uns regelmäßig. Ich habe nur gute Erinnerungen an diesen Aufenthalt.
Die Wohnungssituation in Frankfurt am Main (und ganz Deutschland vermutlich) war katastrophal. Wir wohnten mit drei Generationen (Oma, Mutter und Tante und wir zwei Kinder) in drei Zimmern, die natürlich alle zum Schlafen gebraucht wurden. Zum Glück hatten wir eine Wohnküche, die der Treffpunkt der Familie und der Freunde war, wenn in den Zimmern jemand zu Bett ging. Meine Mutter heiratete 1959 und musste dann noch zwei Jahre auf eine eigene Wohnung warten. Ohne Heirat hatte sie kein Anrecht darauf. Außerdem gab es noch den „Kuppeleiparagrafen“, der unter Strafe stellte, wenn zwei nicht miteinander verheirateten Personen die Möglichkeit gegeben wurde, allein in einem Raum zu sein.
Eigentlich hatten meine Schwester und ich es ganz gut. Wir waren durch Schule und Jugendarbeit in der katholischen Gemeinde Maria Hilf sehr gut integriert und irgendwann hörte man bei uns nicht mehr den sudetendeutschen Zungenschlag.
Nach der Volksschule ging ich auf die Hufnagel-Mittelschule (heute Paul-Hindemith-Schule). Das oberste Stockwerk des Gebäudes in der Idsteiner Straße war im Krieg beschädigt worden und wurde in meinem ersten Jahr auf der Mittelschule ausgebaut. Die ganze Schule war in die Falk-Mittelschule in der Ludwigstraße ausgelagert. Meine Klasse bestand aus 55 Schülerinnen und Schülern. Wir hatten im Wechsel mit den Falk-Mittelschülern eine Woche – von Montag bis Samstag – vormittags von 8 bis 13 Uhr Unterricht und in der anderen Woche nachmittags von 13 bis 18 Uhr! Das Einzugsgebiet der Schule reichte vom Bahnhofsviertel über das Gallusviertel, Griesheim und Nied bis nach Sossenheim und Zeilsheim.
Damals musste man eine Woche lang einen Test machen (in einer Schule in der Waldschulstraße), der darüber entschied, ob man die Mittelschule besuchen durfte oder nicht. Aus meiner Volksschulklasse hatte ein Mädchen auf das Gymnasium wechseln dürfen und fünf Schüler/innen auf die Mittelschule. Alle, die ich heute noch kenne, die auf der Volksschule geblieben waren, haben nach deren Abschluss eine Ausbildung gemacht und sind in ihren Berufen erfolgreich gewesen.
Heute fühle ich mich als Frankfurterin und bin froh, hier gelandet zu sein. Ich habe Frankfurt immer gegen Anfeindungen, die durch das schlechte Image entstanden, verteidigt und erklärt, dass man hier sehr gut leben kann.
Doris M. Keil, Frankfurt