Der Tommy kam eher, als wir dachten
Von Irmgard Nern und Gabriele Schreib
Schleswig, d. 3. Mai 1945
Heute Nacht bekamen wir gleich die erste stählerne Begrüßung der Tommies in Form von Bomben auf den Schleswiger Flugplatz. Ab und zu knallte es ganz schön. Schon während des ganzen Abends schossen die Flieger mit Bordwaffen durch die Gegend, als (es) dann plötzlich Alarm gab. Mutti, Erni, Frau Hering und ich schliefen im Wohnzimmer, Frau Spingies, Rita und Herr Hering schliefen mit Frau Birkholz im Schlafzimmer und so entstand ein herrliches Gekrabbele beim ersten Böllern und Aufblitzen. Unsere Sachen fanden wir erst gar nicht, nur mit unseren Rucksäcken zogen wir in den Keller, Licht gab’s keines. Kaum, daß wir unten waren, blies der Luftdruck eines Bombeneinschlages die Kerze aus, und Herr Hering legte gleich ganz fest den Arm um mich. Etwa fünf Stunden saßen wir unten und in langen Abständen fielen die Bomben. Wir waren ja so müde! Restlos erschossen schliefen wir dann weiter. Nun wollten wir heute aufs Land, wer weiß, ob nicht noch Schleswig bombardiert wird. Aber als Erni mit Frau Hering … zur Stadt ging, wurde gesagt, in ein bis vier Stunden sei der Tommy da. Als es anfing zu schießen, raste alles in die Kellerräume mit Sack und Pack. Wenige Zeit später flatterte die weiße Fahne über Schleswig. Vollkommen konfus gingen wir noch einkaufen, um uns für Wochen zu versorgen. Nun sagte der Leiter der Schule, daß man erst am Abend mit dem Einrücken der Tommies rechnen könne. Also, nun ist’s soweit. Vor den Russen sind wir getürmt, wir haben bestimmt unerhörtes Glück gehabt – nun kommt der Tommy eher, als wir es dachten. Ja, wer weiß, was uns erwartet?
Deutschlands Ende! – –
Schleswig, d. 5. Mai 1945
Heute sind die ersten Tommies in Schleswig eingerückt! Endlose Kolonnen fuhren durch die Straßen und besetzten Regierung, Landratsamt usw. Ohne einen Schuß abzugeben hatte Schleswig-Holstein kapituliert und mit der Provinz die gesamte Westfront. Lediglich der Kampf gegen den Bolschewismus wird weitergeführt. – Ach, ich vergaß ganz zu berichten, daß am 1.Mai etwa zehn Uhr die Meldung vom Tode Adolf Hitlers durchgegeben wurde, sein Nachfolger, Großadmiral Dönitz sprach dann noch zum Volke. Einen ehrenvolleren Tod hätte unser Führer nicht sterben können. Er hat für seine Idee gekämpft und ist auch für sie und sein Volk gefallen. Hitlers Tod löscht die Fehler seines Lebens voll aus. Weiter kann ich über Politik nicht berichten, denn wir haben keinen Strom und sind infolgedessen hinter dem Monde zu Hause. Nur wenn ich mit Herrn Hering Essen holen gehe, höre ich mal etwas Neues, aber meist viel Belangloses. Heute Abend bin ich mit Hans-Jürgen Hering zur Stadt gegangen, um mal die Tommies von nah zu schauen; aber über den deprimierenden Eindruck mag ich gar nichts schreiben. O, daß es so weit kommen mußte! Unser stolzes schönes Deutschland! All die Werte, die Kultur haben die Feinde uns geraubt, nun nehmen sie uns unsere Heimat, unsere Freiheit! O, gibt es da noch Gerechtigkeit?
Schleswig, d. 9. Mai 1945
Nun ist der Krieg zu Ende! Deutschland hat bedingungslos an allen Fronten kapituliert. Frieden; aber was für ein Ende! Man darf nicht daran denken! Nein, haben wir das wirklich verdient? … Ja wie haben wir uns das Kriegsende vorgestellt? Friedensglocken und Siegesfeiern und all die Lieben da und zu Hause. Ja, ganz anders ist es nun gekommen, als man dachte. … Ich bin ja so dankbar, daß Herr Hering da ist, ich hätte sonst die Magengeschichte und all die traurigen Ereignisse nicht so eisern überstanden.
Auch die nun wenig freundliche Aufnahme und das dauernde Gerede hinterm Rücken des Abwesenden könnte ich nicht aushalten. An und für sich leben wir ja noch ganz gut, ich wenigstens. Am Nachmittag sind wir oft nach Fahrdorf gegangen, um Kartoffeln zu holen, ja, soweit sind wir, daß wir ums Essen betteln müssen. Manchmal war ich auch mit Herrn Hering auf die Wiese gegangen, um ein wenig zu schmoren, es war immer recht nett. Wir plauderten viel über Medizin, die Universität, Literatur, über Musik und Reisen und vieles andere. … Wir lagen auf der Wiese am See, dahinter der grüne Buchenwald. Leichte Wellen schlugen ans Ufer, über uns kreisten die weißen Möwen. Es war eine herrliche Ruhe, wenn man aus dieser Nervenmühle hier oben kommt. Alles schwabbelt durcheinander, Kinder quieken usw., dazu herrscht eine Hitze, die einem jeden Atemzug raubt und die Menschen dermaßen ermüdet, daß man nichts mehr hören und sehen mag. Dazu kommt noch, daß wir alle den Durchfall haben und nichts essen können. Es ist fürchterlich! … Hoffentlich hat alles bald ein Ende!
Schleswig, den 15. Mai 1945
Nun sind wir schon vierzehn Tage hier in Schleswig und müssen wohl noch länger bleiben, denn vorläufig bekommen wir keine Reiseerlaubnis nach Thüringen. Mehr als fünf Kilometer darf man nicht fahren. Außerdem darf man nicht über den Kaiser-Wilhelm-Kanal. So müssen wir hier noch aushalten. Wer weiß, was uns noch blüht? Wir müssen tapfer aushalten! … Fast jeden Tag sind wir auf der Wiese, nur schade, daß wir nicht baden können, denn Badeanzüge besitzen wir nicht mehr – und Paradies zu machen wäre zu viel gewagt. Ab und zu sind wir auch im Wald und schlagen Bäume ein. Ja, auch Holzfäller sind wir schon geworden!
Tagebuchautorin Irmgard Nern
im Jahr 1937.
Bild: privat
Gestern traf ich in der Stadt auch Gisela Helle mit ihrer Mutti. Sie hat es auf dem Wege nach Dänemark nicht gut gehabt, etwa am 16. April ging sie schon von Greifswald weg und wollte mit ihrem Schwager nach Dänemark, wurde unterwegs aber dermaßen beschossen, daß das Auto ausbrannte, während sie selbst im Gebüsch lagen, ihre ganzen Sachen gingen verloren. Da bin ich doch froh, daß ich wenigstens einen Rucksack voll habe. Ja, wir haben ganz unverschämtes Glück gehabt.
Nun bin ich aber davon abgekommen, von Schleswig zu berichten; doch allzuviel habe ich nicht davon gesehen, da ist nur viel Dreck und man kann infolge der krummen Straße nur ein paar Häuser weit sehen – nur Staub ist wegen der vielen LKW und Panzer der Tommies immer da. Am liebsten gehe ich da auf die Wiesen oder an den See hier. … Es ist ja zum Lachen, aber weiter als bis in die halbe Stadt bin ich noch nicht gekommen, denn nur die Hauptstraße zu Ende zu gehen, braucht man ein bis eineinhalb Stunden oder gar mehr. Nun, vielleicht wird’s nochmal! Ich bin ja wirklich gespannt, was aus uns wird. Wenn wir nur nicht in dieser ekligen Bodenkammer zu bleiben brauchten! Ach, wird schon schief gehen!
Gestern Abend war ich mit Herrn Hering wieder zusammen, wir wanderten den Haddebyer Strandweg entlang und weiter am Waldrand. Am Strandweg setzten wir uns noch auf eine Bank und blickten auf die Schlei in der Abendsonne und auf die goldene Spitze der Kirche. Weiße Möwen kreisten über dem blauen Wasser. – – –
Frau Spingies hat ja so einige Vorteile dadurch, daß sie in USA geboren ist und perfekt englisch spricht. Sogar einen Betreuungsschein erhielt sie vom Kommandanten!
Wenn ich da so Herrn Hering sehe! Er ist recht nett, besonders wenn er lacht, dann hat er so liebe dunkle Augen, aber er bleibt doch immer der kühle Hamburger. Was mir an ihm gar nicht gefällt, ist, daß er in allem nur auf seine Mutter hört, mag es noch so gegen seinen Willen gehen. Nun, für mich wäre das nichts! Hans-Jürgen tanzt nur nach Frau Herings Pfeife. … Meine Seele dürstet so nach Liebe. Ich kann meinem Fühlen und Denken nicht den rechten Ausdruck geben. Ich muß mit meiner verzweifelten Seele ganz allein fertig werden, muß allein so manchen Kampf ausfechten! Mag es noch so schwer sein! – – –
Schleswig, d. 26. Mai 1945
Meine Schwester ist schon wieder auf Abwegen – sie hat, als sie mit Frau Spingies Kartoffeln hamstern ging, bei einer Frau Christiansen einen Feldwebel und einen Hauptmann kennengelernt. Die beiden stammen aus Metz und wollten uns sogar ein Zimmer auf Grund von Frau Spingies Tommysschein geben… Gestern nun traf Erni den Hauptmann wieder, in Zivil, Rose im Knopfloch usw. Seit vorgestern sind sie wohl von der Wehrmacht entlassen worden und dürfen nun wieder auf die Straße. So haben sie heute uns ihren Besuch gemacht. … Wir gingen dann gemeinsam zur Stadt, wo mir der Feldwebel als Begleiter zufiel. Wir unterhielten uns ganz angeregt. … Herr Hering ist heute so merkwürdig, was mag ihm nur sein? Bin ich daran schuld, oder der Feldwebel?
Dunkle Tage! Schleswig, d. 28.Mai 1945
Gestern, am Sonntag, haben wir etwas Übles und nie gedachtes erfahren, u.a. hat Frau Hering das Quartier, das mir zugesichert wurde, hinter unserem Rücken weggemopst – und ich Schaf beschrieb Erni vor vier Tagen in Anwesenheit Herings ganz genau das Haus. Nun, wir werden uns in Zukunft mehr in Acht nehmen! … Am Abend ging es mir dann sehr schlecht. Ich bekam an der Hand entsetzliche Schmerzen, sodaß ich mich wie ein Wurm krümmte und bald die Wände hochging. In der Nacht steigerten sich die Schmerzen und das Fieber noch mehr, sodaß ich kaum ein bis zwei Stunden morgens schlief. Die Schmerzen waren fast übermenschlich. Ich biß die Zähne schon fest zusammen, aber die Tränen rannen unaufhörlich über meine Wangen und so mancher Schmerzenslaut ließ die Qualen erkennen. Erni las fast während der ganzen Nacht aus irgendeinem Buch vor, um meine Schmerzen vergessen zu lassen und so schlief ich ein wenig. Heute bin ich nun wieder in der Klinik gewesen, wo ich aber keine Hilfe außer einigen Schlaftabletten bekam. Noch geht’s ja auszuhalten, aber was wird wieder des Nachts werden? Herr Hering hätte mich ablenken können, mir beistehen, aber er war so kühl und zurückhaltend und kümmerte sich nicht um mich. – Mein Arm ist ziemlich angeschwollen und schon ganz steif.
Schleswig, d. 11. Juni 1945
Gestern hatten die Schmerzen ihren Höhepunkt erreicht. … Herr Hering, der meinen Puls zählte, riet mir denn zu, möglichst bald in die Klinik zu fahren, denn seiner Meinung nach wäre die Sache sehr beunruhigend, weil mein Puls furchtbar unregelmäßig ginge. Meine Schwester telefonierte dann Dr. Bendig an, der auch gleich anriet, zu ihm zu kommen. Auf ein Krankenauto mußte ich aber noch bis neun Uhr warten. Kurz vor halb zehn war ich dann in der Klinik. Dr. Bendig hatte sich den ganzen Fall wohl noch grausiger vorgestellt, trotzdem machte es ihm doch arg Kopfschmerzen. Ich mußte dann dableiben, meine Schwester konnte auch nicht mehr nach Hause, weil um zehn Uhr Sperrstunde ist. So stellte eine junge Ärztin uns ihr Zimmer mit einem Bett und einer Couch zur Verfügung, weil auch für mich kein Bett mehr frei war. Mit den Ärzten hatten wir noch unseren Spaß, mir ging es auch etwas besser. Das Zimmerchen war ganz nett, mit einem Blick auf den Park, zu beiden Seiten lagen zwei Flügel der Klinik mit den großen Fenstern und weinberankten Wänden. Der Schlaf in jener Nacht war wie eine Erlösung von allen Qualen. Mein Bett hatte eine weiche Daunendecke mit Schlaraffenmatratze, also es war beinahe wie daheim. Ich hatte fast keine Schmerzen, konnte meinen Arm gut hinlegen und schlief ganz herrlich. Am nächsten Morgen schien die Sonne ganz warm ins Zimmer und ich mußte schon sagen: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“ – Ich fühlte mich so wohl. Im Morgensonnenschein saß ich mit Erni im Garten unter flüsternden lichtgrünen Birken auf einer weißen Bank und wartete auf die Sprechstunde. … Mir wurden nur Umschläge verordnet und Röntgenbestrahlungen. … So habe ich wohl nun die Krise überstanden und sehe einer Besserung entgegen.
Schleswig, d. 3. Juni 1945
Heute, an Muttis Geburtstag, hat Frau Spingies uns verlassen. Sie war, um nach ihrem Mann zu forschen, zum englischen Kommandanten hingegangen und dieser riet ihr, nach Flensburg zu gehen, weil dort die Amerikaner auch wären, und Thüringen gehört den Amis. So versprach er denn, sie heute um zehn Uhr mit einem Auto abholen zu lassen und hat auch Wort gehalten. Punkt zehn Uhr klingelte es und ein Tommy kam herein; wenige Zeit später standen wir unten im Hof und verabschiedeten uns, während aus allen Türen und Fenstern die Leute gafften, weil Frau Spingies nun mit einem englischen Auto auf und davon fuhr. Ich gab ihr noch Jürgens und Müllers Adresse mit, vielleicht kann sie da etwas erfahren.
Irmgard Nerns Tagebuchaufzeichnungen,
aufbereitet von Gabriele Schreib,
sind unter dem Titel „Marjellchen“
im VAS Verlag Bad Homburg erschienen.
Schleswig, d. 8. Juni 1945
Unsere beiden Heringe sind heute auch weggefahren zu Verwandten nach Hamburg. … Nach ihrer Rückkehr werden die Heringe uns wohl auch verlassen und zum Bürgermeister ziehen, dann kann man sich hier auch begraben lassen. Dazu kommt noch das ewige Regenwetter. Wie war doch die erste Zeit hier in Schleswig schön. … So, wie es das Schicksal will, wird’s schon recht sein. Wir dürfen nicht daran rütteln! „So komme, was da wolle, so komme, was da mag!“
Schleswig, den 20. Juni 1945
Hier in Schleswig wandert es sich so herrlich an der Schlei entlang, auf deren weitem Blau lichtweiße Segel in den Abend träumen. Es ist so wundervoll, wenn in glutroten Farben die Sonne hinter den weißen Mauern des Schlosses untergeht und einen rosigen Schimmer auf die hellblaue Flut wirft und die Baumwipfel vergoldet. Es schwebt besonders am Abend eine wunderbare Harmonie über der Schlei und der Silhouette der Stadt. Aber auch in dem kleinen Wäldchen nahe unserem Haus ist es wunderhübsch. Die hohen Buchen geben den Blick auf den See frei, der von kleinen Wäldchen umgeben einsam träumt. Nach Westen zu fällt ein leichter Abhang zum Weg. Einige schmausige Pfade führen über leichte Hügel und durch schmale Mulden … Ja, schön ist es hier, nur die Menschen wollen mir nicht gefallen, soweit ich sie kennengelernt habe. … Von drei verschiedenen Männern wurde ich heute geküßt! Toll, was? Aber wer weiß, wie lange wir noch leben. Ich will das Leben noch genießen!!!
Schleswig, 27. Juni 1945
Am Abend bin ich wieder zum Doktor gegangen, nachdem ich mich erst schlagrührend ärgerte, daß mir aus dem Rad beide Ventile geklaut worden sind.
Schleswig, d. 8. Juli 1945
Wieder habe ich einen schönen Spaziergang hinter mir. … Wir wanderten auf der Straße nach Selk entlang, die zu beiden Seiten von Buschwerk umsäumt ist, und stiegen endlich auf den Königshügel, von wo aus man einen ganz wunderschönen Blick über die Schlei, die Moore, über Schleswig, über Hügel und Wälder hat. Ich war mehr als begeistert. Ganz besonders schön war auch, daß der Wind so leis‘ in den Nadelbäumen sang und raunte, wie in Nidden auf dem Schlangenberg. Das ganze Land versank vor meinen Augen in ein märchenhaftes Blau, sank in ein Dämmergrau, aus dem ein leuchtendes Land emporstieg: Die Nehrung. Ich hörte den Nehrungswind von alten schönen Zeiten erzählen, sah die dunkelblaue See, das violette Haff, die weißen Dünen und den blaugrünen Wald mit den roten und gelben Dächern des Dorfes Nidden, in der Ferne sank die Sonne silberglitzernd ins Meer – und der Dampfer heulte sein Ankunftssignal – – – Erst als zum Aufbruch gemahnt wurde, erwachte ich und fand mich in der Wirklichkeit, die an und für sich gar nicht so rauh ist; aber nach diesem Traum doch so erschien. Wir hatten noch ein wenig Zeit und wanderten nach Selk. … Auch hier erinnerte mich das Bild an die Niddener Elchwildnis. Meine Phantasie malte sich dunkelbraune Elche zwischen die lichtgrünen Birken, und auf dem engen knorrigen Pfad standen Jürgen und ich wie gebannt vor einem mächtigen Tier. – – – Dieser Spaziergang hat viele liebe Erinnerungen in mir geweckt und mich wieder an meine große Liebe erinnert. Jürgen wird immer meine große Liebe bleiben!
Schleswig, d. 9. Juli 1945
Heute habe ich … den ersten Schwimmunterricht genommen! Huh, ich glaube, ich stelle mich furchtbar dumm an! Aber lernen muss ich’s jetzt!
Schleswig, d. 12. Juli
Ein ziemlich sturer Tag liegt hinter mir… so mußte ich vom Morgen bis zum Abend Johannisbeeren pflücken, was aber zum Vorteil hatte, daß ich dabei futtern konnte und außerdem gab’s schönes frisches Gemüse und Vollmilchsuppe.
Schleswig, d. 15. Juli 1945
Das Wetter war einfach wundervoll! Am Vormittag waren wir mit Fräulein Rehder auf der Koppel, um Erbsen zu pflücken. An und für sich ist die Arbeit ja nicht so schwer, aber die Sonne stach förmlich und verbreitete eine mörderische Hitze. Am liebsten wäre ich danach gleich ins Wasser gesprungen! … Übrigens wurde gestern das Sprechverbot der Tommies zu den Deutschen aufgehoben – jetzt passt es mir aber nicht, mich mit denen einzulassen. Die, die trotz des Verbotes mit den deutschen Mädels gingen, haben bewußt ihre Freiheit aufs Spiel gesetzt, diese gehen ja nur ihrem Vergnügen nach. … Ich weiß nicht, ich habe das Lieben verlernt, es ist gut so – aber ich würde es bei Jürgen sofort wieder wissen, was Liebe ist…Jürgen wird immer zwischen meinem Gatten und mir stehen, wenn ich ihn nicht so lieben kann wie ihn – und ich glaube, ich kann es sobald nicht.
Schleswig, 31. Juli 1945
… Ich muss gegen mich kämpfen, aber um diesen Kampf gegen die Vergnügungssucht in mir führen zu können, brauche ich eine Lebensaufgabe, die mich befriedigt, Arbeit, die ich mit Freude verrichte, einen Menschen, den ich liebe, der mir ein fester Halt ist. Nur dieses Nichtstun hat mich zur Vergnügungssucht geleitet. Der Mensch in mir, der vorher viel zu reif für die fünfzehn Jahre war, dadurch, daß er eine reine Liebe und eine feste Seelenfreundschaft empfand, wird sich jetzt erst der Jugend, der Sehnsucht nach Freude bewußt. … Vielleicht wird das anders mit den kommenden Pflichten des Lebens. Aber ich bin jetzt zu verwöhnt, zu sehr daran gewöhnt, zu herrschen, mir wird die Umstellung gewiß sauer werden. Doch ich darf in diesem Schlendrian nicht untergehen. Ich darf mich nicht gehen lassen, … muß mit eisernem Willen gegen das Weltliche, Niedere in mir kämpfen. Und doch, ist mein ganzer Verkehr hier nicht Hunger nach Bildung, nach Geistigkeit? Ja, eine Flucht vor langsamem Versturen. … Mein Verkehr hier ist mir ein Ersatz für alles Verlorene. Ich kann mir für mein augenblickliches Verhalten gar nicht so viel Schuld geben. …
Was mich nur etwas beunruhigt ist die Lage zu Rußland, das Schleswig-Holstein einschließlich Hamburg und Bremen beansprucht. Entweder wird klein beigegeben, oder es kommt zum Krieg. So wird man wieder vor entscheidende Fragen gestellt und kommt nicht zur Ruhe – – Nun, man kann nichts weiter tun, als abwarten!
Schleswig, 4. August 1945
Am Freitag war ich am Nachmittag mit Erni zum Baden, wo wir noch ein Mitglied der Wetterwarte kennenlernten, das uns einen schönen Aal (er und noch ein Kamerad fahren täglich aufs Noor, um zu fischen) und einiges Eßbare verehrte. Ich fand das rührend nett. Er war überhaupt recht angenehm und leistete uns nett Gesellschaft. Abends sind wir mit Fräulein Rehder dann zum Erbsenpflücken gewesen.
Schleswig, d. 7. August 1945
Nun, am Montag war ich mit Erni wieder zum Baden. Das Wasser war ziemlich kalt und aufgewühlt, aber ich ging unentwegt hinein, sogar Erni ließ sich dazu bewegen. … Außer uns waren noch zwei Tommies mit einem Mädchen auf der Wiese und unsere Fischer auf dem See. Wir blieben dann nach dem Baden noch eine ganze Weile auf der Wiese, allerdings wegen der Kälte in eine Decke eingehüllt, was zur Folge hatte, daß der jüngere der zwei Tommies, der da eigentlich überflüssig war, uns eine Tasse Tee und gleich darauf Weißbrot, Butter und Zucker anreichte und uns gebot, uns reichlich zu bedienen. … Nun, das war jedenfalls rührend nett und die Weißbrotschnitten dick mit Butter bestrichen mundeten herrlich. Als ich dann die Reste wiederbrachte, unterhielt ich mich noch eine Weile Englisch mit ihnen und nicht lange danach gingen wir heim…
Heute früh nun sind wir bei herrlichem Wetter um sechs Uhr zum Hafen marschiert, um nach Kappeln zu fahren. Es war wirklich sehr schön … ich stand am Bug des Schiffes und schaute in die glitzernde Flut. Langsam schoben sich Wälder und Hügel, Wiesen und Felder an uns vorbei und boten jedesmal ein wunderschönes Bild. Bald breitete sich eine große Bucht vor uns aus, bald verengte die Schlei sich zur Schmale eines kleinen Flüßchens. In Kappeln hatten wir drei Stunden Aufenthalt und fuhren dann wieder heim, wo noch auf dem Dampfer lustig gespielt und gesungen wurde zur Aufheiterung der Laune. Besonders gut hat mir die Schlei vor Schleswig, bei Luisenlund etwa gefallen, wo sie ja auch am breitesten ist.
Schleswig, d. 11. August 1945
Am Donnerstag habe ich wieder eine neue Bekanntschaft gemacht, d.h. eigentlich kannte ich den Kleinen schon vom Sonnabend am Strand. Ich spazierte da so im Wald umher und traf den Kleinen vom Bodensee, der in einem Funkerwagen oben im Wald haust, der mich einlud, ihn mal besuchen zu kommen, was ich ja auch versprach. Er scheint ganz nett zu sein.
Schleswig, d. 16. August 1945
Langsam und träge ziehen die Stunden und Tage vorbei, nur ab und zu fällt ein Lichtstrahl in die finstere Eintönigkeit. Den größten Teil des Tages verbringe ich in der sommerlichen Natur, die mir als einziges von Schleswig-Holstein vertraut geworden ist.
Schleswig, d. 22. August 1945
Wieder ist eine Reihe von Tagen vergangen, die fest im alltäglichen Geleise liefen. Am vergangenen Freitag bin ich am Abend noch mit Erni denselben Weg gegangen, wie wenige Stunden vorher mit Hans, um ein wenig Heidekraut zu holen. Der Abend war wunderschön. Wir beide sangen einige Lieder und machten uns dann auf den Heimweg, als es langsam zu dunkeln begann. Unten an der Flüchtlingsbaracke trafen wir dann noch den Daddy von Sepp aus Frankfurt am Main, der uns noch zu einem kleinen Imbiß zu sich einlud, denn er hatte von den Tommies schönes geröstetes Weißbrot mit Aprikosen darauf bekommen. Wir ließen es uns herrlich munden und gingen um zehn Uhr in herrlichstem Mondschein heim.
Schleswig, d. 16. Oktober 1945
Eine ganze Reihe von Tagen ist wieder vergangen, ohne daß ich etwas Besonderes erlebte – ohne daß ich etwas verzeichnete. Ich war träge, aber waren die belanglosen Abwechslungen der Tage so wichtig?
Schleswig, d. 2. November 1945
Bin ich nun glücklich – oder nicht? Heute bekam ich die erste Nachricht aus Königstein – einen Brief von Jürgen. Ich hab mich ja so gefreut! Wenn der Brief auch unpersönlich wie alle letzten war, so bin ich doch glücklich, daß er lebt, daß es ihm gut geht!
Schleswig, d. 20. November 1945
Ich habe lange nichts mehr vermerkt. Aber die Tage waren mehr oder weniger mit Lesen oder Schreiben ausgefüllt. Andererseits habe ich wieder einige nette Stunden mit mehr oder weniger bekannten Menschen verlebt.
Schulbeginn Schleswig, d. 14. Dezember 1945
Eine ganze Woche ist nun schon vergangen, die ich wieder in einer normalen Lebensweise verbracht habe. Zunächst das Alltägliche: Für mich hat nun wieder die Schule begonnen und damit auch wieder ein Ziel des Lebens. Ich muß sagen, ich fühle mich hier ganz wohl in der Klasse. Ich habe mich da ein wenig an eine reizende Berlinerin angeschlossen, die ich recht gern mag. Ach, es sind auch andere, die ich gern mag. Man lebt doch so richtig auf, wenn man unter gleichaltrigen Kameraden sich bewegt. Schon die Eröffnungsfeier war recht nett, wozu besonders das Schulorchester beitrug und die überaus herzliche Ansprache des Engländers Captain Prince, der in sehr anerkennender Weise von Deutschland als dem Land der Kunst und Kultur, der Innerlichkeit und edlen Gesinnung sprach. Er legte sozusagen Deutschlands guten Namen in unsere Hände, in die der Jugend.
Auszug aus dem Buch „Marjellchen“, VAS Verlag Bad Homburg,
ISBN 9783888644818, 14,80 Euro
Gabriele Schreib, geboren 1949 in Schleswig,
veröffentlichte Tagebuchauszüge
von ihrer 2009 verstorbenen Mutter Irmgard Schreib, geb. Nern,
dazu eigene Eindrücke von Reisen nach Ostpreußen
unter dem Titel „Marjellchen“.
Irmgard Nern erlebte die Flucht als 17-Jährige.
Sie wurde 1928 in Gumbinnen (Ostpreußen) geboren.
Bildrechte: Frederic Plambeck, privat
Ich hab den Text aufmerksam gelesen. Zum Ende hin wird es ziemlich langweilig, aber in der Mitte bin ich auf kribbelige Passagen gestoßen.
„Ach, ich vergaß ganz zu berichten, daß am 1.Mai etwa zehn Uhr die Meldung vom Tode Adolf Hitlers durchgegeben wurde, sein Nachfolger, Großadmiral Dönitz sprach dann noch zum Volke. Einen ehrenvolleren Tod hätte unser Führer nicht sterben können. Er hat für seine Idee gekämpft und ist auch für sie und sein Volk gefallen. Hitlers Tod löscht die Fehler seines Lebens voll aus. Weiter kann ich über Politik nicht berichten, denn wir haben keinen Strom und sind infolgedessen hinter dem Monde zu Hause.“
Wenn das hier niemand kommentieren möchte, sind wohl auch hier noch Einige hinter dem Monde zu Hause. Dann hätte sich seitdem gar nicht viel geändert.
@ Stefan Briem
Sie hätten auch das hier nennen können:
„Unser stolzes schönes Deutschland! All die Werte, die Kultur haben die Feinde uns geraubt, nun nehmen sie uns unsere Heimat, unsere Freiheit! O, gibt es da noch Gerechtigkeit?“
Aber was soll daran kribbelig sein? Was wir hier vor uns haben, ist die Sicht eines jungen Mädchens, geboren 1928 und aufgewachsen im ländlichsten Ospreussen, wahrscheinlich ohne BBC, evtl. sogar ganz ohne Radio und nur mit offiziell verbreiteten Nachrichten.
Was wie hier lesen, ist also reflektiert aus dem Zustand weitgehenden Unwissens, rein subjektive Empfindung der Situation.
Mir ist nur aufgefallen, dass dieses Mädchen – wahrscheinlich auch durch das Alter – hier breits nach kurzer Zeit „angekommen“ war. das war nicht selbstverständlich.
Mir kam sofort die Erinnerung an eine Wanderung 1981 durch Schleswig-Holstein, Ziel Schlei, bei der ich in Aukrug eine alte Dame an der Straße fragte, ob sie ein Stelle wüsste, wo wir – ich war mit Freundin unterwegs – über Nacht ein Zelt aufstellen könnten. Sie hat mir dann in einem sehr klaren Ostpreussisch erklärt, dass wir sie nicht fragen dürften – sie sei nämlich nicht von da. Dann hat sie uns den Weg zum Bürgermeister gewiesen ….
Die war also 35 Jahre nach dem Krieg immer noch nicht angekommen.
@Stefan Briem: „…kribbelige Passagen…“ – ich werde auch gleich ganz kribbelig, wenn ich sowas lese. Stefan, sicher am Namen als Nachkriegskind einzustufen (wie auch ich eins bin), kann vielleicht nicht annähernd ermessen, was es bedeutet, vom zarten Alter fünf Jahre bis hin zum 18. Lebensjahr ausschließlich mit Nazi-Propaganda gelebt zu haben. Überall, in der Straße, in der Nachbarschaft, im Freundeskreis, beim Kaufmann, im Schwimmbad, in der Schule…Ich glaube nicht, dass unsere Generation da anders geredet hätte, wenn wir eine derartige Gehirnwäsche gehabt hätten. Und übrigens: Meine Mutter hatte viele Traumata aus dieser Zeit als Kriegskind mitbekommen, aber eines hatte sie sicher nicht: Eine Rechte Gesinnung. Sie hat nämlich nach 1945 recht schnell gemerkt, welchen vielen falschen Werten, Versprechungen, Idolen und Idealen sie da aufgesessen war.