Als „Schlüsselkinder“ waren wir uns selbst überlassen
von Werner Engelmann
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Meine Familie stammt, nach Recherchen in Kirchenbüchern bis zum 17. Jahrhundert, ursprünglich aus Nordböhmen. Meine Großeltern väterlicher- wie mütterlicherseits waren auf der Iglauer Sprachinsel in Mähren ansässig.
Sägewerk in
Triesch-Trest.
Foto: privat
Als jüngstes von 7 Kindern habe ich meinen Vater nie kennengelernt. Mein Vater, Tischler von Beruf, verließ zu Beginn der 40er Jahre die Stadt Iglau (Jihlava), um im rein tschechischen Gebiet südlich von Iglau die Leitung eines holzverarbeitenden Betriebs mit ca. 200 Mitarbeitern, fast ausschließlich Tschechen, zu übernehmen. Bei einem Aufstand der tschechischen Arbeiter seines Betriebs Anfang Mai 1945 wurde er von diesen gefangen genommen und misshandelt. Meine älteste Schwester (damals 15 Jahre) hat als einzige Zeugin die dadurch ausgelöste Traumatisierung bis an ihr Lebensende nicht überwunden.
Nach Berichten meiner Mutter wurde mein Vater von durchfahrenden deutschen Truppen, die sich von der Ostfront zurückgezogen hatten, befreit. Mehrere der Aufständischen wurden von diesen danach standrechtlich erschossen. Mein Vater hatte die Flucht der Familie am 8. Mai noch vorbereitet. Schon in Bayern, kam er aufgrund einer Denunziation in tschechische Gefangenschaft und wurde 1946 von einem tschechischen „Volksgericht“, offenbar als Rache für die Erschießungen, zum Tode verurteilt und hingerichtet. (1) Meine Mutter hat vom Tod unseres Vaters erst 1948 durch Bericht eines Augenzeugen und einen über die Grenze geschmuggelten Abschiedsbrief erfahren.
Auf der Flucht nach Österreich war unsere Familie getrennt worden, nachdem ein Wagenrad gebrochen war. 6 der Kinder wurden von einem Miltärtreck mitgenommen. Mein Vater und meine Mutter schlugen sich mit mir (damals 10 Monate) alleine durch. In einem Flüchtlingslager an der bayrischen Grenze konnte sich die Familie wieder finden. Aufnahme fanden wir durch eine Gastwirtin in einem kleinen Dorf an der Ilz nahe Passau. Wir hatten dies dem Umstand zu verdanken, dass der Sohn der Gastwirtin in einem Brief von der Ostfront von schrecklichen Bedingungen für Flüchtlinge berichtet und seine Mutter angefleht hatte, alles in ihrer Macht Stehende für solche Menschen zu tun.
An die Anfangsjahre in der „neuen Heimat“ habe ich selbst wenige Erinnerungen. Durch die Fluchtumstände sehr krank, verbrachte ich mehrere Monate in einem Krankenhaus. Der erste bezogene Raum neben der Gaststätte muss nach Berichten völlig verwanzt gewesen sein. Erst viel später konnten wir einen Raum mit anhängender kleiner Dachkammer beziehen. Meine beiden ältesten Schwestern fanden bald bei Bauern als Dienstmägde Arbeit und Unterkunft. Später konnten beide in eine Ausbildung als Krankenschwester eintreten und arbeiteten danach bis zu ihrer Hochzeit in Kliniken im bayrischen bzw. hessischen Raum. Mein ältester Bruder fand nach einiger Zeit eine Ausbildung, dann Anstellung als Landschaftsgärtner am Bodensee, im Rheinland, schließlich im badischen Raum. Wir übrigen 4 Kinder wohnten mit unserer Mutter 10 Jahre lang, bis Anfang 1955 in dem genannten Raum. Danach holte uns mein ältester Bruder zu sich in eine Betriebswohnung nahe Freiburg in Baden.
In den letzten Jahren waren die beiden jüngeren Schwestern teilweise in einem Internat der Klosterschule in Passau. Mein 3 Jahre älterer Bruder besuchte nach der Volksschule das Gymnasium Passau. Mein Besuch dort dauerte wegen unseres Umzugs 1955 nur wenige Monate.
Es mag seltsam klingen, doch in meiner Erinnerung waren diese Nachkriegsjahre für mich eine vergleichbar unbeschwerte Zeit.
In der
neuen Heimat
Foto: privat
Um den Lebensunterhalt (später auch Schulkosten) zu bestreiten, arbeitete meine Mutter ganztägig als Wäscherin in einer 3 km entfernten Fleischfabrik. Als „Schlüsselkinder“ waren wir fast immer uns selbst überlassen.
Als belastend habe ich allerdings die unerbittliche Strenge meiner Mutter erfahren. In der Bewahrung des „Andenkens“ an meinen Vater sah sie sich verpflichtet, alle seine Prinzipien ungesehen zu übernehmen und durchzusetzen. Die einzige Distanzierung, zu der sie sich genötigt sah, war die Wiederannäherung an die katholische Kirche, aus der mein Vater ausgetreten war. Dementsprechend wurde ich, mit über 2 Jahren, nachträglich getauft.
Die Prinzipien meines Vaters galten uneingeschränkt in positiver (so etwa Gestaltung von Weihnachten) wie in negativer Hinsicht (Methoden der Bestrafung). Ein Weihnachtsabend ist mir in Erinnerung, an dem ich viele Stunden kniend verbracht habe. Vaters Prinzipien folgend, sah es meine Mutter als Aufgabe an, mich zu zwingen, für meine „Untat“ (die ich nicht als solche erkennen konnte) um Verzeihung zu bitten und so meinen „Eigenwillen zu brechen“. Trotz solcher Erfahrungen empfand ich die Situation als erträglich, bis meine Mutter, offenbar mit ihrer Kraft am Ende, den Entschluss fasste, meinem ältesten Bruder mit dem 18. Geburtstag 1952 die „Erziehungsgewalt“ über uns jüngere Kinder zu übertragen, Züchtigungsrecht eingeschlossen. Von diesem Tag an verwandelte sich meine Mutter von der Frau der Tat zurück in eine dem eigenen Sohn untergebene Frau. Für die familiäre Atmosphäre erwies sich dies als katastrophal.
Heute sehe ich diese Vorgänge und Verhaltensweisen als symptomatisch für den radikalen Umbruch der Nachkriegsjahre an. Insbesondere für „Trümmerfrauen“, aber auch für Kinder erwuchs, geboren aus der Not, eine Art „Emanzipation der Tat“. Das Verhältnis von Frauen zu Männern betrug in dieser Zeit in Deutschland 170:100.
Auch bez. des Geschlechterverhältnisses ergab sich aus dem Rollentausch vorübergehend eine erstaunliche Liberalität (beschrieben etwa in Böll, „Das Brot der frühen Jahre“). Ich habe dies auf eigene Weise erfahren. Als Jüngster dazu bestimmt, die getragene Wäsche der Älteren abzutragen, trug ich (wie auf alten Fotos zu erkennen) auch in der Schule vorwiegend Mädchenblusen. Ich kann mich aber nicht nicht erinnern, in dieser bayrischen Provinz jemals deshalb gehänselt worden zu sein.
Das starre Festhalten an Prinzipien etwa meiner Mutter diente dabei offenbar als „moralische“ Stütze, das ein Aus-dem-Ruder-Laufen verhindern sollte. Dies war wohl der Grund dafür, dass eine durch die Tat bereits begonnene Emanzipation der Frauen nicht von Dauer war und sie im Zuge der gesellschaftlichen Restauration mit beginnendem Wohlstand der Adenauer-Ära in den fünfziger Jahren wieder zu „Heimchen am Herd“ wurden.
Die Anforderungen, die sich aus der Flüchtlingssituation ergaben, wurden in unserer Familie sehr schnell verinnerlicht. Aus der Situation völliger Mittellosigkeit erwuchs zugleich starker Stolz und Ehrgeiz, es „aus eigener Kraft zu schaffen“. Der Wahlspruch meiner Mutter, den sie uns auf den Weg gab, hieß: „Alles, was ihr besitzt, steckt in eurem Kopf.“
Ein Aspekt, der im Umgang mit Flüchtlingen sicher von herausragender Bedeutung ist. Nach der demütigenden Erfahrung als faktischer „Almosen-Empfänger“ bedarf ein Mittelloser dieses Stolzes, um das notwendige Selbstwertgefühl aufrecht zu erhalten. Entscheidend für Bereitschaft zur Integration ist das Gefühl, akzeptiert zu werden, am gesellschaftlichen Leben teilhaben und eigene Fähigkeiten und Kräfte entwickeln zu können.
Das Wissen, auf sich selbst gestellt zu sein und eigene Verteidigungsstrategien finden zu müssen, galt für uns Kinder auch in Bezug auf Auseinandersetzungen mit der einheimischen Bevölkerung. Es gabe nur einen Versuch meiner Mutter, nach Prügeln durch ältere Nachbarskinder zu unserem Schutz einzugreifen, was die Situation aber noch verschlimmerte. „Fremde“ gab es außer uns auch in dem 3 km entfernten größeren Ort mit der Volksschule (ca. 500 Einwohner) nur wenige. Reserviertheit bei Einheimischen gegen uns war öfter sprürbar, teils erwachsend aus Neidgefühlen wegen der schulischen Erfolge aller Kinder der Familie. Dennoch kam es nie zu gezielten Versuchen der Ausgrenzung. Andererseits gab es auch Respektsbezeugungen, die z.B. nach dem Gottesdienst geäußert wurden, und gelegentlich auch materielle Unterstützung, z.B. durch Kleidung.
Ein Mittel der Integration war sprachliche Anpassung. Zu Hause bayrisch zu sprechen, hatte unsere Mutter uns verboten. Unter Freunden war dies aber Bedingung, akzeptiert zu werden. Ein anderes Mittel war die Teilnahme an Aktivitäten, so etwa an Sammelaktionen, aber auch an Festveranstaltungen wie das Aufstellen des Maibaums und „Tanz in den Mai“ – meist unserer Mutter mühsam abgerungen. Sonntags galt es., möglichst als erste die Kegelbahn zu besetzen, um als „Kegeljungen“ das erste Geld zu verdienen. Damit wurde zur Fußballweltmeisterschaft 1954 auch gemeinsam das erste Radio finanziert.
Verwandte aus unserer Heimat, die ab 1946 von der organisierten Vertreibung betroffen waren, siedelten überwiegend in Bayern, die meisten im Allgäu an. Von unserer Seite bestanden zu ihnen nur wenige Kontakte. Außer gelegentlicher Teilnahme einer meiner Schwestern an „Heimattreffen“ hielt sich unsere Familie von sudentendeutschen Landsmannschaften, besonders von den politisch organisierten Vertriebenenverbänden fern, was ich im Nachhinein befürworte.
Die Situation von „Flüchtlingen“ und „Vertriebenen“ unterschied sich in keiner Weise. Sich auf z.T. unterschiedliche Ursachen bzw. Verantwortliche zu fixieren und danach zwischen diesen Gruppen zu unterscheiden, halte ich für wenig hilfreich, in politischer Hinsicht sogar für kontraproduktiv. Erkennbar wurde dies am Wirken verschiedener Vertriebenenverbände, denen es nicht nur um Traditionspflege ging. Indem sie jahrzehntelang Illusionen über Reparationen bzw. mögliche Rückkehr nährten, erschwerten sie die Auseinandersetzung mit den neuen Realitäten und verstärkten Tendenzen der Abgrenzung.
Entscheidend erscheint mir die Fähigkeit, erlittenen Traumata zum Trotz den Blick nach vorn zu richten. Insofern habe ich meine alte Heimat auch nie vermisst.
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(1) Bei diesen „Volksgerichten“, eingerichtet nach Benes-Dekret vom 19.6.1945, verlängert bis 4.5.1947, waren von 5 Richtern 4 „Volksrichter“, d.h. ohne juristische Kenntnisse, mit vollem Stimmrecht auch bez. des Strafmaßes. Im Abschlussbericht von Mai 1947 wird deren „ungenügende Intelligenz“ gerügt. Von Seiten des Nationalausschusses (MNV) wurde rasche Aburteilung gefordert, um wachsender Neigung zu Lynchjustiz in der tschechischen Bevölkerung zuvorzukommen. Im Jahr 1946 waren von 1600 Gefangenen in Brünn 1500 Deutsche. Bez. einer Anklageschrift in der Sache meines Vaters sind wir nie fündig geworden.
Vgl. Katerina Kocová: Die Außerordentlichen Volksgerichte („MLS“) in den böhmischen Ländern 1945-48, in: JUSTIZ UND ERINNERUNG, hrsg. v. Verein zur Förderung justizgeschichtlicher Forschungen und Verein zur Erforschung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen und ihrer Aufarbeitung, Wien, Mai 2005
Zur Frage von Kinderarbeit und „Diebstählen“ nach dem Krieg:
Dass Kinder durch entsprechende Arbeiten zum Bestreiten des Lebensunterhalts beizutragen hatten, war eine Selbstverständlichkeit. In meinem Fall wurde das ab knapp 5 Jahren erwartet. Zu solchen Arbeiten gehörten im Haus Putz- und Hilfsarbeiten aller Art, etwa Schuheputzen für die ganze Familie, außer Haus das Sammeln von Brennholz und Tannenzapfen, Garten- und Feldarbeiten wie Kartoffelnachlese auf abgeernteten Kartoffelfeldern (was auch kostenpflichtig war), im Sommer Sammeln von Kartoffelkäfern, gelegentlich Einsatz bei Erntearbeiten bei geringer Entlohnung, bei etwas Älteren auch Holz Sägen und Holz Hacken.
Die Herbstferien Ende Oktober, eingeführt, um die Hilfe von Kindern bei der Kartoffelernte zu ermöglichen, werden in Bayern heute noch „Kartoffelferien“ genannt.
Ein Beitrag zum Bestreiten des Lebensunterhalts war auch das Sammeln von Fallobst, z.B. am Schulweg unter Apfelbäumen am Straßenrand. Meine Mutter hatte uns allen eingeschärft, keinesfalls Obst vom Baum zu pflücken, was wir auch nie taten. Was freilich nicht verhinderte, aus vorbeifahrenden Autos gelegentlich als „Apfelstehler“ tituliert zu werden.
Im Kölner Sprachraum ist heute noch das Wort „fringsen“ im Gebrauch. Es geht zurück auf den sehr beliebten Kardinal Frings, der in der Silvesterpredigt 1946 Mundraub mit den Worten legitimierte:
„Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann.“ (Wikipedia: Joseph Frings). Eine Interpretation katholischer „Sünden“lehre, die auch für aktuelles Verhalten, so etwa aufgebauschte Berichte über „Diebstähle“ von Flüchtlingen, aufschlussreich ist.
Dieser Beitrag wurde ursprünglich als Kommentar im FR-Blog gepostet. Er wurde hier noch einmal separat veröffentlicht und bebildert.
Werner Engelmann, Frankreich