Ich bin sicher, dass jede und jeder von Ihnen auf Anhieb drei oder vier Missstände benennen könnte, die er / sie ungerecht findet und die wahrscheinlich auch tatsächlich ungerecht sind. Die Verteilung des Reichtums auf der Welt würde vermutlich ganz oben auf der Liste der schreiendsten Ungerechtigkeiten stehen. Die Tatsache, dass wir hier im Westen ein relativ gutes, eher sorgenfreies Leben führen können, während anderswo Millionen Menschen hungern und mehrere hundert Millionen Menschen noch immer keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. Der Umstand, dass unsere Politik oft weniger im Interesse des Gemeinwohls als vielmehr im Interesse von Lobbyisten zu arbeiten scheint. Wir sehnen uns nach einer gerechteren, nein, einer gerechten Welt und könnten über all den Missständen fast verzweifeln, denn es steht oft genug nicht in unserer Macht, etwas zu unternehmen. Doch wann haben Sie zuletzt demonstriert? Oder auch „nur“ einen Leserbrief geschrieben? Um nur zwei Möglichkeiten zu nennen, die wir als einfache Bürgerinnen und Bürger haben, um etwas zu tun.

Wir reden also über Gerechtigkeit im Zusammenhang mit Ökonomie und nicht über Gerechtigkeit im Sinne einer höheren Wahrheit, an die wir glauben. Ein Muslim, der ausführend an einer Steinigung teilnimmt, tut in unseren Augen etwas Ungerechtes, obwohl er sich möglicherweise auf ein Gerichtsurteil berufen kann. Auch der Drohnen-Pilot, der die Rakete auf den Weg geschickt hat, mit der kürzlich in Somalia der Anführer der Al-Shabaab-Miliz getötet wurde, glaubt zweifellos, nicht nur im Recht zu sein, sondern ein Instrument der Gerechtigkeit zu sein, während dies wiederum für viele Muslime ein Beispiel dafür ist, dass der Westen, den sie als ungerecht wahrnehmen, mit gespaltener Zunge spricht.

Es ist also nicht so einfach, über Gerechtigkeit zu reden. Darum packen wir es an und wollen eine Gerechtigkeitsdebatte führen. Denn es gibt keine große, landesweite Debatte über Gerechtigkeit. Unsere Eliten haben es geschafft, einer Gerechtigkeitsdebatte, die beispielsweise die Notwendigkeit von Umverteilung von oben nach unten thematisiert, das Etikett „Neiddebatte“ anzuheften. Dabei ist es höchste Zeit, dass umgedacht wird, und zwar gründlich. Zum Beispiel beim Thema Wirtschaftswachstum. Schon seit langem ist klar, dass es kein exponentielles Wachstum geben kann. In einer saturierten Volkswirtschaft wie der deutschen wird es immer schwerer, Wachstum zu entzünden. Trotzdem trägt die Politik das Wachstumsmantra weiter hoch vor sich her – und produziert damit Ungerechtigkeit.

Der Universalgelehrte und Bestsellerautor Jeremy Rifkin sieht mittelfristig allerdings bessere Zeiten auf uns zukommen, denn der Kapitalismus sei praktisch am Ende, sagt er im FR-Interview „Kein Profit? Das wäre perfekt!“. Der Kapitalismus habe eine Welt geschaffen, in der er sich selbst abschaffe, eine Welt, in der der klassische Verbraucher nicht mehr existiert. In dieser Welt sind die Menschen sowohl Produzenten als auch Konsumenten — Prosumenten. Während viele FR-Leserinnen und -Leser Angst vor einer Welt haben, in der multinationale Konzerne den Ton angeben — Stichwort TTIP –, sagt Rifkin, dass wir solche Konzerne mittelfristig nicht mehr brauchen, weil wir alles, was wir brauchen, selbst produzieren. Gemeint ist nicht das Individuum, sondern die Masse der Prosumenten, die eine Art Kollektiv bilden. Sichtbar werde dies zum Beispiel in der Energiewirtschaft, in der viele Kleinerzeuger dank einer Solaranlage auf dem Dach als Marktteilnehmer auftreten. In dieser Welt ist Profit nicht mehr sinnvoll, was zwangsläufig auch die Zahl der Ungerechtigkeiten verringert. Ob diese Welt so kommt, hängt maßgeblich davon ab, ob das „Internet der Dinge“ sich durchsetze, sagt Rifkin.

Das Interview ist online nur in der oben verlinkten Zusammenfassung erhältlich. Wir möchten nämlich gern, dass Sie sich die FR kaufen oder, noch besser, abonnieren. Es gibt zurzeit das Angebot eines um ein Drittel vergünstigten Drei-Monate-Abos für 72,70 Euro für die Print-Ausgabe. Es gibt Abos fürs Tablet, E-Paper und die preisgekrönte FR-App. Oder gleich die iPad-Ausgabe im Bundle mit einem iPad für 39,90 Euro im Monat. Das sind faire Preise, finde ich. So können Sie uns dabei unterstützen, dass wir mit Ihnen zusammen diese wichtige Debatte führen. Diese Debatte beginnt mit der heutigen FR-Ausgabe (6.9.), hat einen Höhepunkt in einer Themen-Schwerpunktausgabe am 20.9. und wird in drei Monaten mit einer weiteren Schwerpunkt-Ausgabe und einem Kongress an der Frankfurter Universität abgeschlossen, ohne damit beendet zu sein.

Natürlich können Sie auch dann mitreden, wenn Sie nicht zahlen wollen. Das FR-Blog bleibt ein kostenfreies Angebot, und es gibt ja auch noch die Online-Kommentierung. Außerdem haben wir eine Webseite geschaffen, auf der Sie Ihre Gedanken zum Thema Gerechtigkeit zur Diskussion stellen können oder auch Recherche-Wünsche an die Redaktion einreichen können. Diese Seite, die auch von mir betreut wird, finden Sie –> HIER. Ihren Vorschlag können Sie einreichen, indem Sie in der Navigation auf „Recherche-Vorschlag“ und dann auf „Vorschlag einreichen“ klicken. Vor der Veröffentlichung prüft die Redaktion jeden Vorschlag thematisch und hinsichtlich der prinzipiellen Umsetzbarkeit. Ist ein Vorschlag realisierbar, wird er mit einem grünen Band markiert, nicht zu realisierende Vorschläge sind rot markiert. Grün markierte Vorschläge können bewertet werden. Die Vorschläge mit der besten Bewertung qualifizieren sich für ein Leser-Voting. Der Termin für das Voting steht noch nicht fest, er wird auf dieser Website und in weiteren FR-eigenen Medien rechtzeitig angekündigt. Die Gewinner-Vorschläge aus dem Leser-Voting werden dann von der Redaktion recherchiert beziehungsweise umgesetzt.

Und nun zur Debatte. Ich habe einfach mal bei Google News den Suchbegriff „ungerecht“ eingegeben. Ich erhalte folgende Links auf den drei Spitzenpositionen:

– einen Bericht über einen Polizeieinsatz im Schwäbischen Tagblatt, durch den sich Parkbesucher schikaniert fühlten;

– der Finanzdezernent der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau findet auf jesus.de die Kapitalertragssteuer ungerecht;

– ein Interview mit dem „schnellsten Deutschen“, dem Sprinter Julian Reus, auf welt.de, in dem er sich darüber beklagt, wie ungerecht es sei, dass die Doper gefeiert würden.

Wie der Zufall es will: Das sind drei Beispiel für empfundene Ungerechtigkeiten, von denen nur eines direkt etwas mit ökonomischen Themen zu tun hat. Klagen über ungerechte Polizeieinsätze oder gar Polizeigewalt gibt es auch in Frankfurt. Ungerechte Behandlung durch Institutionen des deutschen Staates? Dazu hätte auch Gustl Mollath wahrscheinlich etwas zu sagen. Und auch in der ach so fairen Sportwelt lauern Ungerechtigkeiten. In diesem Fall in Gestalt des Publikums, das überführten Dopern wie Asafa Powell oder Tyson Gay zujubelt, die Julian Reus für nicht ausreichend bestraft hält.

Und was finden Sie ungerecht?

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22 Kommentare zu “Was ist gerecht?

  1. Das Soziale Hauptgesetz oder das Weltgesetz der Arbeit

    „Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der Einzelne die Erträgnisse SEINER Leistungen für sich beansprucht, d.h., je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den leistungen der Anderen befriedigt werden.“

    Dr. Rudolf Steiner (1905)

  2. Ich möchte mit einem einfachen, scheinbar trivialen Beispiel beginnen.
    Ende 70er Jahre Berlin, wir erwarten unser 2. Kind, suchen dringend eine Wohnung. Der Massenandrang bei jedem Besichtigungstermin lässt dies hoffnungslos erscheinen: „Seriöse“, solvent erscheinende Herren zücken ihre Visitenkarte, stecken sie diskret dem Makler zu. Wir verbünden uns mit einem Freund, der seinen „Doktor“ hat. Wir erkennen schnell, wie hoffnungslos diese Strategie ist: Der rasche Blick auf den „Doktor“ erweckt nur ein müdes Lächeln.
    Endlich ein erfolgreicher Anruf: Man lädt uns zur Besichtigung ein, individueller Termin. Wir sind begeistert: von der Wohnung und den Vermietern. Wir beginnen zu träumen.
    Tags darauf ein neuer Anruf: die freundliche Vermieterin. Sie entschuldigt sich vielmals, erklärt mit großem Bedauern, wie gern sie uns genommen hätte. Doch nach uns kam noch eine Familie mit 3 Kindern. Und da konnte sie nicht nein sagen.
    Natürlich waren wir traurig, doch zugleich berührt durch diese Erfahrung, die ich bis heute nicht vergessen habe.

    Fazit: Diese Vermieter verkörpern in ihrer Einstellung, was im Grundgesetz mit dem Passus „Eigentum verpflichtet“ gemeint ist. Sie konkretisieren das Verhältnis von „Recht“ zu „Gerechtigkeit“, machen deutlich, dass das erste dem zweiten, weit umfassenderen Begriff untergeordnet ist. Was „gerecht“ ist, kann nicht eingeklagt werden. Es ist auch auf der Ebene des Bewusstseins anzusiedeln, erfordert eine Einstellung, die das Wohl des jeweils anderen in sein Denken und Empfinden mit einschließt. Und ein Rechtsstaat und noch kein gerechter Staat.
    Daher sind Projekte wie dieses durch die FR sehr zu begrüßen.

  3. „Auch der Drohnen-Pilot, … , glaubt zweifellos, nicht nur im Recht zu sein, sondern ein Instrument der Gerechtigkeit zu sein..“

    Dazu ist zu sagen, daß es jenseits des Todes keine menschliche Gerechtigkeit mehr geben kann.
    Mord, Tötung und Todesstrafe sind unwiderrufliche Handlungen, für deren Entscheidung unwiderrufliche, absolute Erkenntnis notwendig wäre. Zu solcher Erkenntnis ist der Mensch nicht fähig und jeder Mensch würde, wenn selbst betroffen, solche absoluten Setzungen zurückweisen.
    Gerechtigkeit muß demnach immer den Aspekt des Irrtums und der Wiedergutmachung beinhalten, rechtlich im Sinne der Rehabilitation, humanitär und religiös im Sinne des Verzeihens, zwischenmenschlich im Sinne der Bescheidenheit und Großzügigkeit.

    Was „gerecht“ sein will, muß nach dem „Richten“ auch die Möglichkeit der „Berichtigung“ enthalten.

  4. Als Abonent der FR habe ich die Möglichkeit genutzt mir durchzulesen was Rifkin zum Thema Zukunft des Kapitalismus so gesagt hat. Seine Argumente sind nicht falsch und seine Schlussfolgerungen hätten wohl die theoretische Möglichkeit auch in Erfüllung zu gehen. Sie werden es aber meiner Meinung nach nicht tun. Eigentlich zeigt das schon Bronski auf mit dem was er oben geschrieben hat über Leistungen die man von der FR für Geld kaufen kann. Informationen werden in unserer Zeit oft zu sehr niedrigen Grenzkosten zur Verfügung gestellt. Das wird aber nicht so bleiben können , weil sonst die Qualität der Information leidet. Rifkin hat aber auch den Denkfehler das er sagt das es in allen Bereichen zu einer starken Absenkung der Grenzkosten kommen wird. Das wird nicht so kommen weil er einen Faktor , meiner Meinung nach, nicht ausreichend berücksichtigt. Es handelt sich um den Rohstoffverbrauch. Die Kosten der Rohstoffe sind Bestandteil der Grenzkosten. In Bereichen in denen es nicht gelingt diese Kosten gegen 0 zu drücken kann es folgerichtig auch nie Grenzkosten von 0 geben. Deshalb ist es auch nicht gut einen Bereich wie die Energie als Bespiel für die Zukunft zu nehmen. Das die erneuerbaren Energien zu langfristig extrem sinkenden Energiepreisen führen ist sicher richtig und dem Fakt geschuldet das die EE zu fast 0 Grenzkosten arbeiten. Das gilt aber für fast nichts sonst und es zeigt sich auch nicht ab das sich das im großen Stiel ändert. Auch ein 3 D Drucker benötigt Rohstoffe und holt die nicht von der Sonne wie eine PV Anlage. Das seit Jahren ein Wettrennen zwischen Rationalisierung und neuen Innovationen stattfindet ist ein anderes Thema. Auf Dauer wird die Rationalisierung gewinnen. Das zeichnet sich derzeit wohl schon ab und ist ein Grund für die hohe Arbeitslosigkeit in Europa. Das Ergebnis wird aber sicher nicht das Paradies sein in dem alle gut leben und das auch ohne Arbeit sondern ist z.B. in D. Hartz 4. Dagegen regt sich eigentlich auch kaum Widerstand wie man bei Wahlen immer sehen kann. Die in unbegrenzter Menge zur Verfügung stehende Energie die von den EE weltweit, da dezentral, bereitgestellt wird hat in Zukunft aber dennoch weitreichende Folgen Energie ist ein sehr wichtiger Rohstoff um nicht zu letzt Rationalisierungen voran treiben zu können. Das wird das Problem das immer mehr Güter von immer weniger Menschen hergestellt werden können noch mehr verschärfen. Ob das im Paradies oder oder in der Hölle endet für die Menschen die nicht mehr für die Erstellung von den Gütern benötigt werden ist eine völlig offene Frage die von der Gesellschaft beantwortet werden muss. Mein Optimismus hält sich in Grenzen. Man hat es ja noch nicht mal geschafft die Leute die Eurokrise bezahlen zu lassen die sie verursacht haben.

  5. Hallo hans,

    das sind interessante Anmerkungen. Die Rohstofffrage bereitet auch mir Probleme mit Rifkin, ebenso die Frage, wie die Menschen ihr Einkommen erzielen. Ich habe allerdings Rifkins Buch nicht gelesen. Das werde ich in den nächsten Wochen nachholen. Es ist allerdings denkbar, dass auch die Rohstoff- und Recyclingketten so automatisiert werden, dass es keiner menschlichen Mitarbeit mehr bedarf. Das wäre dann wohl der geeignete Zeitpunkt, ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen.

  6. Ich weiß nicht ob ich das Buch lesen werde, weil die Theorie offensichtlich viele Schwachpunkte hat. Ich arbeite seit über 30 Jahren in Arbeitsvorbereitungen der Deutschen Exportindustrie und muss mich mit dem Themen Rationalisierung, Kalkulation und dazu gehören auch Grenzkosten beschäftigen. Aus dieser Erfahrung bin ich überzeugt das eine Gesellschaft hochproduktiv sein muss, dann muss die Gesellschaft sich aber entscheiden wie die möglichst hohe Wertschöpfung verteilt wird. Auch an die die nicht an der Wertschöpfung beteiligt waren. Das ist bei Gruppen wie Kindern Rentnern oder Hausfrauen gesellschaftlich akzeptiert. Bei Arbeitslosen sieht das ganz anders aus. Das ist aber eine sehr politische Entscheidung die erst einmal nichts mit der Produktivität zu tun hat. Ob die Gesellschaft die Kraft hat ein Grundeinkommen einzuführen um das Problem zu lösen weiß ich nicht. Ich habe aber meine Zweifel wenn ich sehe was im Moment passiert. Das Ganze hat aber nichts mit Grenzkosten zu tun und kann deshalb damit auch nicht begründet werden.

  7. Grenzkosten sind teile einer Kalkulationsform die man Deckungsbeitragsrechnung nennt. Die Grenzkosten stellen die Kosten da die einem Produkt unmittelbar zugeordnet werden können. Das bedeutet wenn man unter Grenzkosten verkauft legt man definitiv drauf. Deckungsbeitrag nennt man die Kosten die sich ergeben wenn man von den Vollkosten die Grenzkosten abzieht. Das wort Vollkosten erklärt sich wohl selbst.

  8. Jeremy Rifkin liefert für seine Thesen über einen sich zwangsläufig einstellenden Übergang vom Kapitalismus zu Formen einer durch das Internet vorangetriebenen und geprägten solidarischen Beteiligungswirtschaft keine validen Beweise. Vielmehr deutet er die typischen Elemente des Kapitalismus (Akkumulation, Privateigentum an den Produktionsmitteln, Gewinnstreben) lediglich positiv um. Er prognostiziert Entwicklungen anhand geglaubter Indizien, die aus seiner Sicht wünschenswert sind, statt das, was tatsächlich der Fall ist, stringent weiter und zu Ende zu denken.

    So ist der Rückgang der Produktionskosten in einer Gesellschaft, die wesentlich von Massenproduktion und Massenprodukten bestimmt wird, kein Anzeichen für eine bevorstehende Änderung der herrschenden Wachstumsideologie. Die Senkung der Grenzkosten im gesamten Produktionsprozess (Arbeit, Rohstoffe, Distribution) führt nicht zu einem Verzicht auf Preise, gar auf den Handel mit Gütern, sondern lediglich zur Angleichung der Preise an die Massenkaufkraft; die Erlöse für eine Ware werden auf unendlich viele (häufig durch Marketingstrategien beeinflusste) Nachfrager verteilt. Die Akkumulation des Kapitals erledigt sich dadurch nicht.

    Zudem bleibt der gesellschaftliche Nutzen eines Produkts unberücksichtigt. Ein Beispiel dafür ist der derzeitige Trend zu Geländewagen für den normalen Straßenverkehr. Er erhöht zwar den Profit der Automobilindustrie und trägt zur Steigerung des Bruttosozialprodukts inklusive des Lohnvolumens bei, aber er verringert bereits auf mittlere Sicht die Lebensqualität der Menschen einschneidend, weil die vielfältigen Eingriffe in die Natur (Dezentralisierung, Individualverkehr, Straßenbau, Abgase etc.) nicht folgenlos bleiben. Der Luftverkehr hat hier bereits irreparable Schäden hervorgerufen.

    Ebenso ist die inflationäre Nutzung der Mobiltelefone kein Beweis dafür, dass sich die Menschen mehr zu sagen hätten als früher und deswegen ihre Beziehungen eine neue Qualität erreicht hätten. Das permanente online sein per Smartphone zum Zweck des Informationsabrufs ist sogar ein Zeichen dafür, dass das Niveau des Allgemeinwissens abnimmt. Wissen, das Wissen schafft, ist bei Google und anderen nicht abrufbar, weil dort weder eine notwendige Wissensbasis noch Methoden zu ihrer Aneignung erworben werden können. Die überkommene Erziehung mit ihrem Anspruch auf Universalität kann dort nicht geleistet werden, zumindest so lange nicht, wie das Internet von kommerziellen Interessen bestimmt wird.

    Dieses Internet, an dem Rifkins Zukunftshoffnungen hängen, hat neue Waren einschließlich der mobilen Kommunikation hervorgebracht und die industrielle Produktpalette deutlich vergrößert. Insbesondere die Informationen über den einzelnen Menschen, über seine Konsummöglichkeiten und sein Konsumverhalten, über seine gesellschaftlich-politische Orientierung und über seine Gesundheit, sind zu Waren im klassischen Sinn geworden. Eine ethische Neubewertung hat dabei nicht stattgefunden, im Gegenteil. Internetplattformen wie Google oder Facebook heizen die kommerzielle Verwertbarkeit des Menschen sogar noch in besonderer Weise an.

    Selbst das persönliche Eigentum wird im Internet zusehends abgeschafft, wie man an der aktuellen Urheberrechtsdiskussion ablesen kann. Denn bei diesem Rechtsgut, das neben seinem kommerziellen Aspekt auch Persönlichkeitsrechte (Selbstbestimmung) umfasst, findet eine mittlerweile galoppierende Enteignung des Einzelnen zu Gunsten von Monopolen statt. Und bei diesen Monopolen handelt es sich keinesfalls um gemeinnützige Einrichtungen, sondern um erzkapitalistische. Und dort wo Gemeinnützigkeit plakativ angesagt ist, handelt es sich um eine bewusste Verschiebung der gesellschaftlichen Verantwortung auf private Spender und Ehrenamtliche.

    Die von Rifkin angeführten Veränderungen sind durchweg systemimmanent, sie beinhalten keinerlei systemüberwindende Ansätze. Auch eine umweltschonende und nicht Monopolinteressen dienende Energieproduktion wird von Rifkin nicht detailliert untersucht. Obwohl ohne Energie eine digital vernetzte Welt nicht funktioniert.

    Zwar erwähnt Rifkin in einem Nebensatz die Macht der Monopole. Aber er analysiert diese aus wirtschaftlichen Vormachtstellungen resultierenden Strukturen mit ihrem immer größeren Einfluss auf die Politik leider nicht hinreichend.

    Die Schaffung einer gerechteren Welt bedarf eines Paradigmenwechsels, der einer Revolution gleichkäme. Die Menschen müssen in einem demokratischen Prozess den gesellschaftlichen Auftrag ändern. Und irgendein Land muss anfangen. Am besten das, in dem die Grenzen des Kapitalismus am deutlichsten werden und von der Bevölkerung auch subjektiv wie objektiv wahrgenommen werden können: in Deutschland.

  9. Schon fast habe ich es nicht mehr für möglich gehalten, dass eine große Zeitung wie die FR eine Serie zu dem Thema der gerechten Gesellschaft gestaltet. Seit Jahrzehnten lese ich die FR und bin seit mehr als 40 Jahren Abonnent. Obwohl diese Serie eine logische Folge der redaktionellen Arbeit der FR ist.
    Nie hat sich die FR in ihrer Grundausrichtung so auf die Seite der Neoliberalen geschlagen, wie dies in anderen Redaktionen der Fall war. Insbesondere auch die des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Häufig entstand der Eindruck, dass dort bei wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen den Moderatorinnen und Moderatoren -pawlowschen Hunden gleich- die Phrasen der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft wie Speichel aus dem Mund tropften.
    Die Welt hat sich verändert und ist beliebiger geworden. Es ist ungemein wertvoll, wenn gerade jetzt das Thema Gerechtigkeit breiten Raum in der öffentlichen Wahrnehmung einnimmt und die Folgen der Entwicklung der Verteilung in unserer Gesellschaft dargestellt werden. Ich möchte nicht in einem schwachen Staat leben in dem ein Teil der Bevölkerung – auf Dauer wohl des größeren Teils- an der Einkommens- und Vermögensentwicklung nur sehr begrenzt partizipiert und angesichts der aktuellen Krisen möchte ich das schon gar nicht.
    Ich möchte nicht, dass zum Nutzen weniger unsere Straßen demnächst nur von privaten Investoren gebaut werden. Und ich möchte nicht all die Segnungen (für wenige) die eine neoliberale Wirtschaftsverfassung noch für uns bereithält. Und um den Rundumschlag hier zu vervollständigen: Der neue Flughafen in Berlin ist von privaten Planungsbüros entwickelt und von privaten Baufirmen errichtet worden.

  10. Wenn ein großer Prozentsatz der Bevölkerung keine Ersparnisse hat , sein ganzes Einkommen jeden Monat ausgibt und auch keine Reallohnsteigerungen hat, dann kann es kein Wachstum geben. Was an dem Ganzen verstehen die Herrn Volkswirte nicht. Jedes Jahr heißt es das im nächsten Jahr das Wachstum anzieht. Wenn dann das nächste Jahr gekommen ist findet man einen Grund warum es wider nicht wie erwartet gekommen ist. Da die Oberschicht auch kaum mehr ausgeben kann als sie tut könnte Wachstum nur aus dem Export kommen. Die deutschen Exportüberschüsse sollen aber aus guten Gründen sinken. Wo soll denn da noch Wachstum herkommen und was ist daran so schwer verständlich oder falsch?

  11. „Ach, die Welt ist nicht gerecht!
    Mir geht´s gut und Dir geht´s schlecht.
    Wär´die Welt etwas gerechter,
    ging´s Dir besser und mir schlechter.“

  12. Gerechtigkeit ist auf jeden Fall etwas anderes als wir derzeit von den gewählten Volksvertretern gezeigt bekommen. Hier sollten wir endlich anfangen aufzuwachen und uns zur Wehr setzen.

  13. Grade angesichts der heutigen Haushaltsdebatte ist mir wieder bewusst geworden, wie sehr „interessierte Kreise“ seit einiger Zeit für die berühmten „Public Private Partnership“ Modelle trommeln, mit denen die Infrastruktur des Landes finanziert werden sollen.

    Zunächst wurde für die Bestverdienenden und Vermögenden die Steuer gesenkt- ein paar Beispiele: Vermögensteuer, Gewerbekapitalsteuer, Kapitalverkehrssteuer.

    Zudem wurde der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer gesenkt, der Steuersatz bei der Körperschaftssteuer erheblich reduziert und die Steuer auf Kapitaleinkünfte auf 25% herabgesetzt, dass daraus eine immerungerechtere Vermögensverteilung in Deutschland reduziert, kann nicht verwundern.

    Danach hat man eine rigorose Schuldenbremse ins Grundgesetzt eingefügt, die den Haushalten die Luft zum Atmen gibt (man muss ja nicht generell etwas gegen einen ausgeglichenen Haushalt haben aber es gibt eben volkswirtschaftliche Gesamtsituationen, die einen investierenden Staat erfordern).

    Schließlich wird die „Infrastrukturfrage“ aufgeworfen und man liest plötzlich überall (zutreffenderweise) davon, dass Straßen, Schienen, öffentliche Gebäude, Brücken, Wasserwege etc. saniert werden müssen.

    Nur leider ist dafür kein Geld da, Schulden dürfen auch nicht gemacht werden wegen Schuldenbremse- also promotet man die PPP. Und dies obwohl mehrfach berechnet worden ist, dass diese PPP-Modelle dem Staat letztendlich teurer zu stehen kommen, als wenn er die Maßnahmen selber finanzieren würde.

    So entsteht die absurde Situation, dass Herr Schäuble sich weigert, die Steuern für die Reichen zu erhöhen, sich wegen seinem persönlichen Prestigeprojekt „Null-Neuverschuldung“ gleichzeitig weigert Schulden aufzunehmen (und das bei historisch niedrigen Zinsen!!!) und sich dafür einsetzt, den Banken, der Versicherung aber auch reichen Privatpersonen die Möglichkeit einzuräumen, die Infrastrukturprojekte vorzufinanzieren und dabei Rendite zu erwirtschaften.

    Kurz gesagt: Die Reichen zahlen keine Steuern mehr (bzw. viel weniger als früher), sie leihen dem Staat dafür die eingesparten Steuern und kassieren dafür Zinsen- wenn das nicht ungerecht ist und zu einer noch stärker ungerechten Verteilung der Vermögen führt, weiß ich es auch nicht…

  14. Was, lieber @ Bronski, bezwecken Sie mit dieser Diskussion? Ich unterstelle Ihnen lautere Absichten.
    Gerechtigkeit – ein hehres Wort, da lässt sich trefflich philosophieren und debattieren. Oder zerreden.
    Wir wissen doch alle, dass dieses so siegreiche Gesellschaftssystem Kapital-ismus bis in seine feinsten Haarwurzeln verfault, dekadent und krank ist.
    Wo bitte schön soll da Gerechtigkeit möglich sein?
    Wenn im Rechtsleben alle Menschen gleich wären, wenn das Geistes-/Kulturleben frei wäre und wenn im Wirtschaftsleben Brüderlichkeit herrschen würden (Dreigliederung des Sozialen Organismus), wenn es keine Zinswirtschaft mehr gäbe, wenn wir alterndes Geld hätten, wenn die Religion/Diktatur des ständigen Wachstums abgelöst würde, wenn nicht mehr abertausende sinnlose Dinge produziert würden und die Ressourcen der Erde verschlingen, wenn wir ein Bewußtsein davon hätten, dass dem Leben auf diesem Planeten nicht nur eine materielle Seite innewohnt und wenn mehr Menschen endlich bereit wären, Verantwortung zu übernehmen und nicht alles der Polit-Wirtschafts-Mafia überließen usw. usf. – dann könnten wir das Thema beginnen: …zu leben.
    So ist diese Diskussion unnötig wie ein Kropf.
    Wir habens ja gemütlich, mit vollem Bauch läßt sich trefflich diskutieren – und alles bleibt beim Alten.
    Nur: wenn das System krank ist, dann sind auch wir es. Wir stützen dieses System jeden Tag aufs Neue. Kaufen recht bald die neue „Apple Watch“ oder „iPhone6″…, unter-stützen weiter die, die sich einen Dreck um die Zukunft dieser Erde scheren.
    Was also soll diese Diskussion?

  15. @ Stefan, #15

    Ich gehe mal davon aus, dass Sie eine echt revolutionäre Alternative im Ärmel haben: In der Sonne sitzen und auf den Zusammenbruch des „verfaulten, dekadenten und kranken“ Kapitalismus warten. Der wird ja wohl bald kommen – noch vor dem mehrfach erwarteten Ende der Welt. Lassen Sie sich also nicht von Jehovas Zeugen irre machen!
    Ich nehme auch an, dass Sie das dann als erster schnallen. Wäre nett, wenn Sie uns unbedarften Bronski-Bloggern rechtzeitig einen Tip geben würden, damit wir zusammen darauf anstoßen und wenigstens non ein bisschen „leben“ – bevor die IS-Kämpfer kommen.
    Also dann: Bis um 6 nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus!
    Gruß
    W.Engelmann

  16. Vor 40 Jahren habe ich Helmut Creutz‘ Bericht „Gehen oder kaputtgehen“ (veröffentlicht vom „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“) mit Begeisterung gelesen. Mit Begeisterung, weil er die Arbeitswelt an einem exemplarischen Fall, nämlich einem Abschnitt aus seiner persönlichen Biografie, sehr authentisch und realistisch zeichnete. Bei der Lektüre seines FR-Beitrags „Die erdrückende Last der Zinsen“ habe ich jedoch den Eindruck gewonnen, dass er die Realität heute anders wahrnimmt.

    Helmut Creutz reanimiert in seinem Beitrag die Geld- und Zinstheorie Silvio Gesells (1862 – 1930), dessen Gerechtigkeitsideal („Brechung der Zinsknechtschaft“) erkennbar vom Sozialdarwinismus (System der Auslese) geprägt war und der (möglicherweise ohne Absicht) dem Faschismus der 1920er und 1930er Jahre Argumente gegen das angeblich überwiegend in jüdischem Besitz befindliche Kapital geliefert hat.

    Von den 1950er Jahren bis zum Ende der 1970er Jahre versuchte der Publizist Wolf Schenke, ehemals China-Korrespondent des nationalsozialistischen „Völkischen Beobachters“, in seiner Zeitschrift „Neue Politik“, einem Forum der national-neutralistischen Bewegung in der Bundesrepublik („Dritte Front“), bereits eine Neubelebung von Gesells Ideen, scheiterte jedoch damit. Lediglich in einer politischen Partei, der „Aktion unabhängiger Deutscher – AUD“, die einen dritten Weg zwischen Kommunismus/Sozialismus und Kapitalismus suchte, fanden Gesells und Schenkes Überzeugungen eine gewisse Resonanz. Die AUD löste sich 1980 zu Gunsten der GRÜNEN auf.

    Creutz und Gesell vermengen in ihrer Zins-Kritik wirtschaftliche Tatbestände mit zum Teil überholten bzw. irrealen Theorien. Unbestritten ist, dass die Eigentümer großer Geldvermögen von einem hohen Zins besonders profitieren, ohne dafür eine Arbeitsleistung erbringen zu müssen. Aber auch Arbeitnehmer, die regelmäßig Tariferhöhungen erhalten, müssen dafür keine zusätzliche Arbeitsleistung erbringen; während der letzten 45 Jahre ist die durchschnittliche Arbeitszeit der Beschäftigten nachweislich zurückgegangen. Lohn- und Gehaltserhöhungen sind faktisch (nicht immer ausreichende) Anpassungen an die Erhöhung der Geldmenge im Zuge einer preislichen Höherbewertung von Wirtschaftsgütern.

    Die Frage, ob der eigentliche Wert eines Wirtschaftsgutes tatsächlich identisch ist mit seinem Preis, wird in den finanzökonomischen Theorien unterschiedlich beantwortet. Zum einen wird die Preisbildung auf Angebot und Nachfrage zurückgeführt; denn sowohl die Angebotsnachfrage als auch die Angebotsverknappung erhöhten den Preis. Eine breite Preiserhöhung verringere die Kaufkraft des Geldes und bedeute Inflation, weil die Geldmenge zwangsläufig steigen müsse, um die Güter erwerben zu können. Die Zahl der Güter müsse sich dadurch aber nicht zwangsläufig erhöhen.
    Gerade in letzterem sehen andere Wissenschaftler den Beleg für eine nicht durch das Vorhandensein entsprechender Wirtschaftsgüter gedeckten Geldmenge, die in der Regel mit extrem niedrigen Zinsen einherginge und das Preissystem verzerren würde. Der Preis sei nicht mehr der Maßstab für das tatsächlich vorhandene Güterangebot und den Produktivitätsgrad.

    Solange sich das persönliche Einkommen innerhalb der Korrelation von Güterverfügbarkeit und Inflation bewegt, besteht volkswirtschaftlich gesehen ein mehr oder weniger ausgeglichenes Verhältnis. Bedrohlich wird es hingegen, wenn durch Niedrigstzinsen beispielsweise Investitionen in Immobilien besonders lukrativ werden und die Preise einschließlich der Wohnungs- und Geschäftslokalmieten explodieren. Der volkwirtschaftliche Wert des Immobilienbesitzes wird dann durch Spekulationsgewinne verfälscht und bedeutet, dass die geforderten Preise nicht durch die Sachwerte vollständig gedeckt sind. Auch Spekulationsgeschäfte mit Lebensmitteln zerstören das volkwirtschaftliche Gleichgewicht. Niedrige Zinsen beflügeln zudem die Geldanlage in Aktien. Und deren Wert entspricht eher selten der tatsächlich erbrachten Wirtschaftsleistung, sondern er wird in hohem Maße von spekulativen Faktoren beeinflusst.

    Wer sich als Rentner/in nicht mehr im Wirtschaftsprozess befindet, folglich über ein in der Regel verringertes Einkommen verfügt und auch nicht auf Tariferhöhungen hoffen kann, sondern sich mit politisch definierten Minimalzuwächsen zufrieden geben muss, ist besonders darauf angewiesen, dass seine/ihre Ersparnisse aus besseren Zeiten (fall er/sie darüber verfügt) nicht an Kaufkraft verlieren. Bei einem Prozent jährlicher Inflationsrate und einem Haben-Zins von 0,5 Prozent jedoch verliert er/sie definitiv Geld und in diesem Maße die Möglichkeiten, an den gesellschaftlichen Angeboten teilhaben zu können.

    Das gibt auch Helmut Creutz (in Anlehnung an Gesell) zu. Und er votiert für eine Gebühr auf private Geldbestände als Ausgleich für eine nominelle Abschaffung der Zinsen. Das Geld soll sich im ständigen Umlauf befinden und das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf der Basis stabiler Preise regulieren.

    Man kann bezweifeln, ob eine solche Regulierung innerhalb einer mehrheitlich deregulierten Wirtschaftsordnung (= Eigentumsordnung) sinnvoll und möglich ist. Denn an der ungerechten Verteilung von Vermögen würde sich nichts ändern. Auch die Frage, ob die produzierten Güter ökologisch notwendig sind, bliebe unbeantwortet. Und ebenso, ob die Menschen, die sie produzierten, das unter menschenwürdigen Bedingungen tun konnten und ob ihnen der Lohn für ihre Arbeit ungehinderten Zugang zur Gesellschaft verschaffen würde.

  17. Ich habe die volkswirtschaftlichen Ausführungen, besonders von H. Mertens, durchaus mit Interesse gelesen, halte sie (als volkswirtschaftlicher Laie) auch für überzeugend. Allerdings sehe ich auch die Gefahr der Reduzierung auf den bloßen Aspekt der sozialen Gerechtigkeit. Daher möchte ich einen eher in aphoristischer Weise geäußerten Gedanken von Matthias Brock-Elser (#3) aufgreifen und eine Brücke zu schlagen versuchen.

    Ich stelle die mir entscheidend erscheinenden Aspekte hier voran:
    (1)
    „Gerechtigkeit muß demnach immer den Aspekt des Irrtums und der Wiedergutmachung beinhalten, rechtlich im Sinne der Rehabilitation, humanitär und religiös im Sinne des Verzeihens, zwischenmenschlich im Sinne der Bescheidenheit und Großzügigkeit.
    Was ‚gerecht‘ sein will, muß nach dem ‚Richten‘ auch die Möglichkeit der ‚Berichtigung‘ enthalten.“ (#3)
    (2)
    „Man kann bezweifeln, ob eine solche Regulierung innerhalb einer mehrheitlich deregulierten Wirtschaftsordnung (= Eigentumsordnung) sinnvoll und möglich ist. Denn an der ungerechten Verteilung von Vermögen würde sich nichts ändern.“ (#10)
    (3)
    „Die Schaffung einer gerechteren Welt bedarf eines Paradigmenwechsels, der einer Revolution gleichkäme. Die Menschen müssen in einem demokratischen Prozess den gesellschaftlichen Auftrag ändern.“ (#8)

    Ich gehe von der letzten Äußerung aus.
    Betrachtet man die beiden relevantesten Revolutionen, die beide – in unterschiedlicher Weise – „Gerechtigkeit“ auf ihre Fahnen geschrieben haben, so springt ins Auge, dass sie beide in Terror gemündet sind: Die „bürgerliche“ französische Revolution in den Tugendterror eines Robespierre und Saint Just („der Gerechte“), die „proletarische“ russische Revolution in den stalinistischen Terror. (Wobei dahin gestellt sein soll, ob sie diesen Namen im Marxschen Sinne auch verdient.)
    Die bürgerliche Revolution stellte unter der Losung „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ die Befreiung des Individuums aus feudaler Knechtschaft in den Vordergrund, die russische Revolution dagegen ordnete das Individuum völlig den (vorweg „wissenschaftlich“ bestimmten) Bedürfnissen des Kollektivs unter.
    Dennoch gibt es etwas Gemeinsames, was bei beiden die Pervertierung der Idee in ihr Gegenteil bewirkte:
    Bez. der russischen Revolution ist vielfach bezweifelt worden, ob das Leninsche Modell der Machtergreifung der Marxschen Vorstellung von der „Idee, welche die Massen ergreift“ entspricht: In der Diktatur der Partei an Stelle der „Diktatur des Proletariats“ war die Diktatur eines einzelnen bereits angelegt.
    Ähnlich die „bürgerliche“ Revolution: Sie hat die Inhalte ihrer Losung nie eingelöst: Die „Brüderlichkeit“ fiel eigentlich von Anfang an unter den Tisch, und „Gleichheit“ wurde nur im Grundsatz, im Sinne von „citoyen“ realisiert. Der Hauptfehler lag aber in der Interpretation von „Freiheit“: Sie wurde nur oberflächlich als Befreiung der Individuen begriffen. Im Kern war sie Befreiung des Eigentums (des „Kapitals“ – also einer abstrakten Größe) von seinen feudalen Fesseln. Dies setzt sich bis heute in Form der „Deregulierung“ fort. Deren Folgen hat H.Mertens unter Zitat (2) benannt. Wobei aber m.E. der Blick weniger auf ungerechte Einkommensverteilung in Industrieländern, sondern auf fundamentale Ungerechtigkeiten und Abhängigkeiten im Weltmaßstab zu richten wäre.
    Zusammenfassend:
    Beiden Revolutionen wohnte der Umschlag in ihr Gegenteil bereits inne, weil sie „Gerechtigkeit“ nicht von der Gesamtheit der Individuen her begriffen, sondern eine abstrakte Idee (im Marxschen Sinne auch als „Produktionsverhältnisse“ zu fassen) diesen Individuen überstülpten. Anders ausgedrückt: Weil die fundamentalistische – und damit menschenfeindliche – Interpretation von Anfang an inbegriffen war.
    „Gerechtigkeit“ ist also nur in seiner konkreten Bedeutung für konkrete Individuen fassbar, und nur in Abgrenzung von einem ins Fundamentalistische tendierenden System mit implizierten konkreten Ungerechtigkeiten.

    Hier nun kommt die Bestimmung von H.Brock-Elser unter (1) ins Spiel, auch in seiner christlichen Bedeutung:
    Katholisch sozialisiert, hatte ich seit jeher (ich hoffe, nicht alleine) meine Schwierigkeiten mit 2 „Gleichnissen“, die gegen ein tief sitzendes Gerechtigkeitsgefühl verstoßen: Das „Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg“ widerspricht der Forderung „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Und das „Gleichnis vom verlorenen Sohn“ provoziert uns, indem es die Freude über die „Abkehr“ von einem Lotterleben höher einzustufen scheint als die über einen verantwortlichen, „gerechten“ Lebenswandel.
    In dem unter (1) angesprochenen Gedanken der „Rehabilitation“ bzw. des „Verzeihens“ als notwendigem Bestandteile der „Gerechtigkeit“ wird hierfür aber eine Lösung angeboten. Und dies ganz im Sinne der Bergpredigt. Denn da heißt es nicht: „Selig die Gerechten“. Sondern es heißt: „Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit.“
    Anders ausgedrückt:
    „Gerechtigkeit“ ist kein abstraktes Ideal, das in seiner Totalität zu verwirklichen wäre. Und Gerechtigkeitsempfinden impliziert auch die Fähigkeit, mit Ungerechtigkeiten in angemessener Weise umzugehen sowie Teile von „Gerechtigkeit“ im Sinne von Mitmenschlichkeit zu realisieren. Nach einem solchen Verständnis von „relativer“ Gerechtigkeit werden in Israel Menschen wie Schindler, die in einem fast alles umfassenden System der Ungerechtigkeit einzelne Juden vor der Vernichtung bewahrt haben, als „Gerechte“ geehrt – völlig zu Recht.
    Fundamentalistisch orientierte Systeme dagegen, welche sich allein an Idealen oder Ideologien orientieren (und erscheinen diese noch so sehr von „Moral“ geprägt), welche konkrete Mitmenschlichkeit außer Acht lassen und sich als absolute Richter über andere erheben (z.B. durch Todesstrafe) neigen per se zu einem Höchstmaß an Ungerechtigkeit.

    Ein Aspekt, der m.E. im inner- und interreligiösen Dialog und beim Umgang mit fundamentalistischen Orientierungen von erheblicher Bedeutung ist. Aber auch beim Streben nach „sozialer Gerechtigkeit“. Und sogar bei der Diskussion um zwischenstaatliche Beziehungen (etwa beim Ukraine-Konflikt), die nur zu gern ausschließlich um Machtsphären von Staaten kreist, welche die Belange der Bevölkerung aber ignoriert. „Gerechtigkeit“ pervertiert zu Selbstgerechtigkeit: Nicht mehr der Staat ist für die Menschen da, sondern die Menschen für den Staat.
    Und das ist eine der fundamentalen Ungerechtigkeiten, die auch den Aspekt der sozialen Gerechtigkeit einschließt und die es zu attackieren gilt.

    Ich wünsche allen noch einen schönen Sonntag.
    W.Engelmann

  18. Ich erzähle keine Märchen, aber es hört sich so an.
    Es war einmal im 19.Jahrhundert, da lebte in Essen
    ein Fabrikant der hieß Alfred Krupp und er sagte,
    „Mein Kapital sind meine Arbeiter und wenn es meinen Arbeitern gut geht, dann geht es mir auch gut“. Er besuchte seine Arbeiter und sah unter welchen erbärmlichen Verhältnissen sie lebten.
    Er beschloss nicht mehr zu zocken, sondern ein Teil seines Vermögens in seine Arbeiter zu investieren.
    Er baute Werkswohnungen die billig waren. Weil auch viele Arbeiter krank waren baute er ihnen ein Krankenhaus. Er errichtete einen Konsum in dem seine
    Arbeiter zum Einkaufspreis einkaufen konnten.
    Auch eine Krankenversicherung wurde eingerichtet.
    Und wenn seine Arbeiter alt wurden und nicht mehr
    arbeiten konnten gab er ihnen eine Werksrente.
    Die Arbeiter waren stolz auf ihren Chef und nannten
    sich fortan Kruppianer. Viele würden sagen, das führt in den Ruin, aber die Firma florierte und
    wurde die größte Stahlfabrik Europas.
    Otto von Bismarck hat sich bei Krupp informiert
    und nach seinem Vorbild das deutsche Sozialsystem eingeführt.—-

    Heute heißt die Formel, der Arbeiter
    muss Angst haben, nur dann ist er bereit zu arbeiten. Heuern und feuern, befristete Arbeitsverträge, Leiharbeit, Billiglohn und wenn
    er nicht mehr kann bekommt er Hartz4.
    Unsere Politiker waren für dieses System willige
    Handlanger und versprachen uns das Paradies.
    Und wie sieht es heute aus, Schulden ohne Ende, hohe
    Arbeitslosigkeit und die EU vor dem Abgrund.
    Wann wacht der Arbeiter endlich auf.

  19. Die Gerechtigkeitsdebatte in der FR ist zu begrüßen – auch wenn wir alle wissen, dass sie nicht die Welt verändern wird. Sie kann die Leser/innen aber auf jeden Fall dazu bringen, einmal über unsere beliebte Ide(ologi)e der Leistungsgesellschaft nachzudenken. Zum Beispiel durch den Beitrag „Wir sollten darüber reden, welche Ungleichheit wir wollen“, FR Magazin, 18.09.2014.
    Der Grundaussage des Sozialforschers Prof. Stefan Liebig (Universität Bielefeld) ist sicher zuzustimmen: Die meisten Menschen wünschen sich keine Gesellschaft, in der alle Bürger „gleich“ sind. „Deshalb sollten wir (…) darüber reden, welche Ungleichheiten wir für richtig und notwendig halten, welche Begründungen überzeugend sind und in welchem Ausmaß Ungleichheiten eben gerecht sind.“ Zuerst muss man aber wohl darüber reden, welche sozialen und ökonomischen Ungleichheiten u n – gerecht sind bzw. als ungerecht bewertet werden.
    Es macht einen Unterschied, wonach ich konkret gefragt werde, wenn es um eine angemessene Bezahlung geht.
    Werde ich nach der Einkommensverteilung in der Bundesrepublik Deutschland allgemein, quasi ohne Ansehen meiner Person, gefragt?
    Bin ich willens, mich politisch zu engagieren und gar auf Demonstrationen etwa im Namen von Attac und Occupy aufzutreten?
    Soll ich zuvorderst mein eigenes Einkommen danach beurteilen, ob es „gerecht“ ist? Wobei es hier sehr auf die jeweilige Messlatte ankommt. Orientiere ich mich an meiner Firma/meinem sozialen Umfeld, der bundesrepublikanischen Einkommensverteilung, der Situation in anderen Ländern, die unser Land ohne Zweifel als Insel der Glückseligen erscheinen lässt? Je nach gewählter Messlatte kann man bei der in Umfragen gängigen Frage „Ist das Einkommen, das Sie in Ihrer jetzigen Stelle verdienen, aus Ihrer Sicht gerecht?“ durchaus zu unterschiedlichen Antworten gelangen.
    „Wenn die Mehrheit denkt, dass ihr Leben eigentlich gut so ist, wie es ist, dann können solche eher an abstrakten Themen orientierten Bewegungen wenig mobilisieren“, stellt Stefan Liebig zu Recht fest. Aber denkt das die Mehrheit wirklich? Liebig selbst führt ja schon Gründe an, die einer politischen Aktivierung der Unzufriedenen entgegenstehen: die Ideologie der Leistungsgesellschaft, der zermürbende Kampf gerade der Mittelschicht gegen den sozialen Abstieg (und vieler finanzschwacher Familien für ein minimales Einkommen), der hohe Abstraktionsgrad von Zielen wie „sozialökonomische Gerechtigkeit“, „Veränderungen am internationalen Wirtschafts-und Bankenwesen“, „andere“ Globalisierung. Protestbewegungen gegen Stuttgart 21 oder einen Flughafenausbau bieten den Protestierenden da doch ein vergleichsweise griffiges Feindbild.
    Studien zur (Einkommens-)Gerechtigkeit kommen aufgrund unterschiedlicher Methoden und Fragestellungen nicht immer zu identischen Ergebnissen, es macht zum Beispiel einen Unterschied, ob das Brutto- oder das Nettoeinkommen betrachtet werden. Herrn Liebigs eigene im Internet veröffentlichte Forschung (Bericht zur Studie Einkommensgerechtigkeit in Deutschland. Ein Forschungsprojekt der Universitäten Konstanz und Bielefeld, Mai 2010) belegt immerhin, dass fast 90 Prozent der Befragten die „soziale Ungleichheit in Deutschland“ als zu groß oder sogar viel zu groß empfinden und nur ein Drittel der Erwerbstätigen das eigene Brutto-Einkommen als vollkommen gerecht beurteilt, zwei Drittel beurteilen es als „ungerechterweise zu niedrig“. Mit zunehmendem Einkommen erhöht sich der Anteil der Zufriedenen. Die Studie liefert aufgrund ihrer Befragungsergebnisse auch gleich ein, möchte man meinen, recht einfaches Rezept zur Schaffung von mehr Gerechtigkeit: „Beschäftigte in Berufen mit tatsächlichen mittleren und niedrigen Bruttoeinkommen sollten (…) mehr, Beschäftigte in Berufen mit hohen Einkommen dagegen weniger verdienen.“ Im Grunde geht es aber ja nicht nur um die meist im Mittelpunkt stehenden Indikatoren Einkommenshöhe und Bildungschancen, sondern um ein schwer zu entwirrendes Bündel noch anderer Faktoren, die alle die Lebenslage des Einzelnen mit definieren: Vermögensverhältnisse, Rentenerwartungen, Arbeitsplatzsicherheit, Behandlung im Gesundheitswesen, Wohnverhältnisse usw.
    Mich persönlich irritiert bei dem Interview, dass Stefan Liebig mit dem – ja wohl im Sprachgebrauch negativ besetzen – Begriff „Egoismus“ ziemlich locker umgeht und damit alles Streben nach Gerechtigkeit in eine Universal-Schublade steckt: „Ich glaube, dass wir Menschen sowieso Egoisten sind. Auch unser Engagement für Gerechtigkeit ist mit dem Wunsch verbunden, uns dadurch Vorteile zu verschaffen. Entweder weil wir dadurch materielle Zugewinne erwarten können, weil wir in einer Welt leben möchten, in der unsere Anstrengungen auch belohnt werden und andere sich nicht auf unsere Kosten bereichern sollen, oder weil wir für unser Engagement für die Gemeinschaft von anderen Anerkennung erhalten wollen.“ Selbstverständlich liegen jedem Engagement ein Selbsterhaltungstrieb, persönliche Motive und ein bestimmtes Selbstbild zugrunde.
    Menschen, die Mindestlöhne für bestimmte Berufsgruppen erstreiten, sich um das Wohlergehen von Sozialhilfeempfängern sorgen oder für Ärzte ohne Grenzen in gefährliche Länder gehen, würde ich allerdings eher ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, soziales Bewusstsein und Altruismus bescheinigen als „Egoismus“. Im Übrigen, finde ich, darf der Einsatz für Gerechtigkeit dem Akteur gern auch in Herrn Liebigs Sinne einen eigenen „Vorteil“ verschaffen, solange er schlüssig begründen kann, warum die Erfüllung seiner Forderung ihm, anderen Mitmenschen, der Natur und dem Rest der Welt guttäte.

  20. Ich halte es für einen Fakt, daß zufriedene Menschen langfristig mehr und Besseres leisten und gesund bleiben, verängstigte Menschen kurzfristig mehr, aber Schlechteres leisten und krank werden.

    Solange Folgekosten aus dem Produktionsprozeß ausgegliedert werden können, solange wird man Ausbeutung haben.

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