150 Jahre Sozialdemokratie – die SPD feiert sich dieser Tage selbst. Ich würde gern mitfeiern, aber ich komme nicht so recht in Laune. Die alte Tante ist nur noch ein Abglanz ihrer selbst, gemessen an ihren großen Zeiten unter Willy Brandt. Gewiss, die SPD hat Historisches geleistet – früher mal. Dass sie den Hintern nicht mehr richtig hochbekommen – liegt es wirklich einfach nur daran, dass ihr die alte Wählerklientel, die Arbeiterschaft, abhanden gekommen ist? Denn es ist ja offensichtlich, dass es seit 1863, dem Gründungsjahr des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, das die SPD als ihr Gründungsjahr reklamiert, eine Menge geändert hat. Die sozialen Milieus haben sich verändert. Doch eines ist geblieben: Das Kapital gibt immer noch den Ton an. Immer noch? Mehr denn je! Und das dank tätiger Mithilfe der Genossen.
„In ihrer Geschichte war die SPD immer eine Partei des Fortschritts“, schreibt Karl Doemens in seinem FR-Leitartikel „Die Last der Geschichte„. „Doch ein mitreißendes Zukunftsversprechen vermag sie derzeit nicht zu leisten. (…) Manchmal erweist sich eine große Geschichte auch als Last. So hat die SPD bis an die Grenze der Selbstverleugnung zehn Jahre lang mit ihren eigenen Arbeitsmarkt- und Rentenreformen gehadert. Statt pragmatisch jene Entwicklungen – wie die massenhafte Ausweitung der Leiharbeit zulasten der regulären Beschäftigung – zu korrigieren, die bei der Verabschiedung der Gesetze nicht vorhergesehen wurden und an jenen festzuhalten, die sich – wie die Rente mit 67 angesichts der demografischen Entwicklung und einer kräftig steigenden Beschäftigungsquote der Älteren – als vorausschauend erweisen, haben die Genossen einen Glaubenskrieg geführt.“
Wollen wir nicht vergessen: Es ist Wahlkampf, und wie die Karten im September verteilt werden, ist noch längst nicht ausgemacht. Derzeit sieht es nicht so aus, als ob die SPD eine ernsthafte Chance hat, Peer Steinbrück ins Kanzleramt zu bringen. Nach derzeitigen Umfragen bliebe ihr allenfalls die Rolle als Juniorpartner in einer Großen Koalition mit der CDU. Das hat Steinbrück allerdings ausgeschlossen, und auch Egon Bahr, eine Art grauer Eminenz der Sozialdemokraten, rät im FR-Interview davon ab.
Der Geburtstag der SPD erinnert mich vor allem daran, dass es einmal Zeiten gab, in denen die Partei noch Visionen hatte. Heute leben wir anscheinend in einer Zeit ohne Visionen.
Ulrich Pohl aus Vilmar meint:
„Seit geraumer Zeit kann ich mit einigen Kommentaren in der FR nur deshalb leben, weil es Leserbriefe gibt, die die Schieflage in den Kommentaren wieder etwas gerade rücken, so auch bei diesem von Karl Doemens.
Was ich dazu sagen wollte, hat ihm zum Glück Egon Bahr geantwortet. Er sollte ihn öfter fragen, bevor er solche Kommentare schreibt. Nicht die „Last der Geschichte“ drückt die SPD, sondern solche Kommentare, die nur die Widersprüche herausstellen, „drücken“ die SPD. Steinbrück hat offensichtlich erkannt, dass er Leute wie Wiesehügel braucht, so wie unsere Demokratie von Leuten lebt, die auch mal öffentlich und sogar im Wahlkampf widersprechen.
In einem Punkt möchte ich – Wasserträger in der Partei und Mitwirkender bei vielen Wahl- und Parteiprogrammen – jedoch wagen, Egon Bahr zu ergänzen. Zwar glaube auch ich nicht, dass die SPD sich in der Opposition „regenerieren“ wird. Allerdings bin ich überzeugt, dass für unsere Demokratie eine starke Opposition lebenswichtig ist. Es ist Leistung der SPD und auch der Grünen, wenn durch die Opposition kraft der Argumente die Kanzlerin und Teile der Regierungsparteien auf einen besseren Kurs gedrängt werden. Deshalb: Opposition ist nicht „Mist“, aber große Koalitionen sind für die SPD sehr gefährlich, denn Koalitionen führen „zum Verlust der Verbindung zwischen Spitze und Basis“ (aus Richard Sennett, ZUSAMMEN ARBEIT, Was unsere Gesellschaft zusammenhält). Das mag für andere Parteien kein Problem sein, aber für die SPD ist das gefährlich, gerade in der „großen“ Koalition.
Übrigens: Was Kommentatoren wie Doemens so zu Papier bringen mit Begriffen wie „Traditions-Wundertüte“ oder sein Fazit „Mit ihnen zieht doch nicht die Zeit“, nennt Richard Sennet „Lehnstuhlzynismus“. Den wünsche ich mir in der FR nicht oder weniger.“
Sigurd Schmidt aus Bad Homburg:
„Seit der endgültigen Abkehr der SPD vom Marxismus, die mit dem Bad Godesberger Programm 1959 vollzogen wurde, hat die deutsche Sozialdemokratie auf einen gesellschaftspolitischen Gegenentwurf zur bestehenden (sozialen) Marktwirtschaft verzichtet. Die Folge ist, dass große Teile der Politikwissenschaft und des politischen Journalismus’ der SPD Halbherzigkeit vorwerfen. Es fehle der Mut zum großen revolutionären Gesellschaftsentwurf. Mit anderen Worten: Der SPD wird mangelnde Utopie vorgeworfen. Das „Utopiedefizit“ ergibt sich aber aus der Ernüchterung ideologischen Überschwangs im 20. Jahrhundert. Immerhin hat die SPD bis heute am Prinzip „sozialer Gerechtigkeit“ festgehalten und besteht darauf, dass dieser Begriff in der politischen Alltagsarbeit mit konkretem Inhalt zu füllen sei.
Der Neoliberalismus oder auch das Denken von Friedrich August von Hayek sind aber keineswegs tot. Beide Gedankenstränge werfen der SPD vor, mit dem Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ weiterhin utopische Ziele zu verfolgen. – Letztlich stellt sich die Frage, ob eine repräsentative Demokratie mit einem gemäßigten Parteienspektrum besser fährt als mit einer Konstellation, in der die Opposition ständig die Systemfrage stellt. Die französischen Sozialisten haben bisher den Reformschritt der SPD nicht gewagt.“
Rasmus Ph. Helt aus Hamburg:
„Die Argumentation von Egon Bahr führt in die richtige Richtung. Wenn etwas auf die SPD zutrifft, dann dass man sich zu oft einfach selbst der größte Gegner ist. Was man bereits daran erkennt, dass man die heiße Phase des Wahlkampfes immer noch nicht eröffnet hat. Obwohl man gerade eine weit in Führung liegende Angela Merkel nur bezwingen kann, indem man die inhaltliche Auseinandersetzung möglichst früh sucht. Weswegen der fehlende Wille zur Macht das eigentliche Problem bleibt!“
Alfred Gleim aus Witten:
150 Jahre SPD und ein bisschen leise: Mindestlohn 8,50 Euro – eher bescheiden. Gebeutelte Rentner mit an Wert schmelzenden Sparbüchern – langfristig keine Perspektive. Wie weit und wie weiter mit Europa – eine Idee, greifbar für Junge, nicht nur für den Opa? Werden in Zukunft aus sogenannten „langlebigen Konsumgütern“ Kurzläufer – alles ex und hopp? Themen gibt’s genug für die alte Tante. Aber um Wahlen zu gewinnen, muss die SPD sichtbar mehr als derzeit auf der Pfanne haben.“
Die SPD treibt also die CDU vor sich her? So das diese die Themen der SPD übernehmen muss. Um das so zu sehen muss man schon kerngesund sein. Schröder ist total auf die Angebotspolitik der CDU eingeschwenkt. Selbige führt zur Umverteilung von unten nach oben und ist jetzt an ihren Grenzen angekommen. Es gibt halt keinen Sinn jemanden dem man was verkaufen will vorher das Geld zu schenken. Da wäre die SPD gefordert. Zu der Aussage von Bronski das die Rente mit 67 zu einer höheren Beschäftigungsquote geführt hat fällt mir auch nichts mehr ein. Zu einer höheren Beschäftigungsquote hat das Abschaffen der Altersteilzeit geführt. Wenn nur noch die ausscheiden die in einer Firma rausgeschmissen werden und keiner freiwillig aufhört dann muss wohl die Beschäftigungsquote steigen. Was denn sonst? Die Frage ist aber gibt es einen Arbeitsmarkt zwischen 55 und 67? Solange man diese Frage aber mit nein beantworten muss, kann ich da keinen auch noch vorrausschauenden Erfolg erkennen.
Sigurd Schmidt:
„Die französischen Sozialisten haben bisher den Reformschritt der SPD nicht gewagt.”
So ist es , aber Hollande hat bereits die Agenda 2010 gelobt , das Denken in diese Richtung scheint vorhanden zu sein.
Ansonsten ist die Haltung der deutschen SPD keine Ausnahme , vielmehr ist sie die flächendeckende Regel dort , wo es sozialdemokratische Parteien gibt , inklusive ihrem amerikanischen Pendant , das unter dem bei uns recht beliebten Clinton entscheidende Schritte unternahm in Richtung Deregulierung und Druckausübung auf die sozial Schwächeren.
Es stellt sich die Frage , ob die gesamte westliche Sozialdemokratie wirklich unter Selbstverleugnung gehandelt haben kann , oder ob eben nicht doch ein hohes Maß an Einverständnis vorhanden war und ist mit den neoliberalen Ausrichtungen.
Allerdings gehört der Verrat längst zur langen Tradition der Sozialdemokratie , er ist ihr mittlerweilen in Fleisch und Blut übergegangen und sollte konsequenterweise ins Parteiprogramm aufgenommen werden .
Es ist wohl nicht das Parteiprogramm, welches die SPD für mich nicht wählbar macht, sondern das Führungspersonal. Steinbrück, Steinmeier, Gabriel, alles Figuren, die voll hinter der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen (Reformen mag ich dazu nicht sagen – wer das Wort „Reform“ nachschlägt, der weiß, das dieser Begriff eher als Unwort des Jahres zu nennen wäre) standen und stehen. Ein Loser wie Steinbrück als Kanzler? Unterstützt von den Alten wie Schmidt und Schröder, die in ihrer Selbstgefälligkeit nur noch von J. Vogel übertroffen werden? Die Linken in der Partei tot (Schreiner), herausgedrängt (Ypsilanti) oder marginalisiert (Dressler). Zustimmung mit den Grünen bei Rente mit 67 (auch für Altenpfleger und Dachdecker), beim Fiscalpakt, bei den diversen Rettungsschirmen, welche die schon bei Brüning gescheiterte Austeritätspolitik jetzt als Wundermittel ganz Europa verordnet haben – mit allen Folgen, die wir gerade sehen, großer Pakt mit der schwarz-gelben Regierung nach dem Willem Zwo-Motto: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“! Und ein Struck-Motto, das es unfair ist, eine Partei nach der Wahl an ihren Versprechen vor der Wahl zu messen, siehe MWST.-Erhöhung um 3% 2005?
Nein, da müßte ich meine Hosen künftig mit der Beißzange anziehen, um noch einmal eine solche Begeisterung zu entwickeln wie 1972, als ich – wegen Willy – eingetreten bin und dann 1979 – wegen Helmut (erinnert sich wer, der wollte uns mit mehr als 60 AKWs „beglücken“?) wieder ausgetreten. Natürlich gibt es das Recht auf Irrtum – nur schade, daß die Schmidt’schen Irrtümer und die Folgen uns noch Jahrtausend zu schaffen machen werden. Und die von SPD und Grünen fortgeführten Renten-Kürzungen der 90er von Blüm/Kohl haben natürlich auch mir kräftige Einschnitte bereitet. Na ja, selbst dran schuld, hätte ja Beamter werden können, da hätte ich heute das 2,5 fache an Pension.
Brecht hat es richtig formuliert: Es wählen sich die dümmsten Kälber, ihre Metzger immer selber.
Es wurde hier schon mehrfach Brandt erwähnt, und kein Zweifel daran gelassen, daß dies ein Sozialdemokrat war, dem man sozusagen noch trauen konnte.
Hier wird aber ein Stückweit ein ungerechtfertigter Heroenkult betrieben. Sicher, Brandt hat in der Außenpolitik bemerkenswerte Akzente gesetzt, unabhängig davon, wie man die nun bewertet. Sicher, Brandt hat in der Innenpolitik auch außergewöhnlich zahlreich und beeindruckend Dinge abgesondert, die man gut und gerne auch Sprechblasen nennen könnte („Mehr Demokratie wagen“ usw.). Bei der Auflistung der demokratiefördernden oder besonders sozialen Leistungen im Innern, die er tatsächlich UMSETZTE, gerät man aber ganz schnell ins Stocken… das müssen selbst Linke zerknirscht eingestehen. Für gewöhnlich kommt dann auf dem Fuß die Entschuldigung, daß ihm wegen der Ölkrise das Geld fehlte, und dann warn da ja noch die Rechten, die sowieso alles verhinderten…
Nun, den Radikalenerlaß konnte er jedenfalls, auch mit eigener innerer Überzeugung, durchsetzen. Das hätte ihn allerdings im heutigen Spektrum der Sozialdemokraten garantiert nicht links von Schmidt und Steinbrück einsortiert.
Sigurd Schmidt weist auf den eigentlichen Wendepunkt hin, 1959. Wer heute an der SPD herummäkelt, will oft eigentlich nicht die SPD von Willy Brandt (die wird im Nachinein aufgrund ihres geschickt in Szene gesetzten Mitläufertums mit bestimmten Ideen des moderateren Teils der 68er-Bewegung völlig verklärt, welches die rein verbale Ebene kaum verliess), sondern er will eigentlich die SPD von Kurt Schumacher.