In diesen Minuten startet in Baku, Hauptstadt von Aserbaidschan, der Eurovision Song Contest (ESC) mit dem ersten Halbfinale. Es wird daher Zeit, dass ich einer Tradition des FR-Blogs folge und den ESC zum Thema mache. Dieses Jahr ist nämlich einiges anders bei dieser Großveranstaltung. Die wird ja normalerweise von den einen belächelt und als künstlerisch weit überschätzt eingestuft – als ob sie jemals einen hohen künstlerischen Anspruch erhoben hätte -, während sie auf der anderen Seite von Fans als harmlose Kultveranstaltung begeistert herbeigesehnt wird. Beide Seiten dürften dieses Jahr etwas leiser sein: Weder kann der ESC diesmal belächelt noch als harmlos eingestuft werden.
Ungefähr vor zwei Jahren haben wir uns hier mit dem ESC-Experten Dr. Irving Wolther im Blogtalk Gedanken über die politischen Dimensionen des ESC gemacht. Dr. Wolther vertrat dabei die These, dass der ESC immer schon eine politische Dimension hatte, vielleicht ähnlich wie Sport-Großveranstaltungen wie die nahende, wegen der Verhältnisse in der Ukraine ebenfalls umstrittene Fußball-Europameisterschaft. Der ESC – früher Grand Prix – gab der ausrichtenden Nation schon immer die Möglichkeit, sich vor einer großen Öffentlichkeit zu präsentieren und Imagepflege zu betreiben. Seit einigen Jahren ist der ESC auch ein Wirtschaftsfaktor: Der ESC in Lettland 2003 beispielsweise hat enorme Investitionen ausgelöst und wie ein Konjunkturprogramm gewirkt. Aber das ist alles harmlos im Vergleich zum diesjährigen ESC, der den Blick Europas auf die Zustände in Aserbeidschan gelenkt hat, ein Land im Kaukasus, ein Land am Kaspischen Meer, ölreich und demokratiearm. Ein Land zudem, das seit bald zwanzig Jahren in einem latenten Konflikt mit dem Nachbarn Armenien liegt. Bei diesem Konflikt geht es um die Enklave Bergkarabach, die 1994 von Armenien okkupiert wurde. Dieser latente Konflikt kann jederzeit zum offenen Krieg werden – und wäre es vielleicht bereits geworden, wenn Aserbaidschan 2011 den ESC in Düsseldorf nicht gewonnen hätte, denn der autoritär regierende Präsident Aserbaidschans, Ilahim Alijev, ist nicht nur ein Waffennarr, sondern hat das Militärbudget 2011 enorm aufgestockt und angeblich geheime Verabredungen mit Russland für den Fall eines „Blitzkriegs“ um Bergkarabach getroffen. Armenien boykottiert den ESC in Baku.
Aserbaidschan ist ein Land, in dem Menschen, die friedlich demonstrieren, ohne weiteres zu jahrelanger Haft verurteilt werden. Ein Land, in dem für den Bau die Crystal Hall, ESC-Austragungsort, mal eben schnell dreihundert Wohnungen abgerissen und die Leute auf die Straße gesetzt werden. Homosexualität – vor allem Schwule machen einen nicht unbedeutenden Teil der Fan-Klientel des ESC aus – ist in Aserbaidschan zwar nicht illegal, wird aber tabuisiert. Dieser Focus-Bericht vom Mai 2011 dürfte überholt sein. Journalisten werden aufgrund zweifelhafter Anklagen festgehalten, berichtet Human Rights Watch. Hier ein Filmbericht der „Journal Reporter“ der Deutschen Welle.
Dies alles hätte Europa nicht interessiert ohne den ESC dort in Baku. Aserbaidschan ist ein Land außerhalb des europäischen Wahrnehmungsbereichs. Durch den ESC gerät die Situation dort in den Fokus. Das Regime fühlt sich insbesondere durch Deutschland angegriffen – es gab schwere Irritationen und den Vorwurf einer systematischen Imageschädigung Aserbaidschans durch Deutschland – und hat sich zu einer Reaktion herbeigelassen: In einer Ausstrahlung des aserbaidschanischen Staatssenders AZTV, der Mitglied in der European Broadcastin Union (EBU) und ausrichtender Sender des ESC ist, wird das Occupy-Camp in Frankfurt gezeigt und behauptet, Akademiker würden in Deutschland in Zeltstätten leben und könnten sich keine neuen Schuhe kaufen. Das nennt man eine nervöse Reaktion.
Überwiegt also für die Veranstalter die positive Berichterstattung? Das fragte Jan Feddersen, der für den NDR auf Eurovision.de zum ESC bloggt, den ARD-Beauftragten für den ESC, Thomas Schreiber, im taz-Interview. Der antwortet: „Die circa 1550 Journalisten, die rund um den ESC nach Aserbaidschan kommen werden, werden eben nicht nur über die bunte Show berichten, sondern auch Geschichten von den Menschen im Land erzählen, und das bedeutet natürlich auch Aufmerksamkeit für die Opposition und für die Menschenrechtsgruppen.“
Das taz-Interview ist insofern interessant, weil Schreiber darin selbst die Frage aufwirft: Wer darf, nach welchen Kriterien, eigentlich beim ESC mitmachen? „Lupenreine Demokratien“ haben wir genug in der EBU und damit auch beim ESC. Das wären neben Aserbaidschan auch Weißrussland, die Ukraine, Russland und neuerdings auch Ungarn – Länder, die es mit Demokratie und Menschenrechten nicht so genau nehmen. Was wäre zum Beispiel, wenn Weißrussland dieses Jahr den ESC gewänne? Das würde die EBU in eine wohlverdiente Krise stoßen – und den ESC gleich mit. Die Bilanz von FR-Autor und ESC-Experte Elmar Kraushaar in der FR fällt entsprechend verhalten aus.
Trotzdem: Ich freue mich auf die Show. Das wird ein bunter Abend mit hoffentlich ansprechender Musik. Am Donnerstag folgt das zweite Halbfinale, das auf Phönix übertragen wird; da dürfen wir Deutschen mitstimmen. Dann wollen wir mal hoffen, dass es unser Roman „Knopfäugchen“ Lob am Samstag im Finale unter die ersten zehn schafft. Und dass nach dem ganzen Spektakel die Werte-Debatte um den ESC und die Ausrichterländer endlich mal ernsthaft geführt wird.
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Update nach dem ersten Halbfinale
Es hat doch Spaß gemacht. Kommentator Peter Urban hat die Mängel des diesjährigen ESC, die ich oben aufgeführt habe, angemessen angesprochen – bis auf die Kriegsgefahr mit Armenien -, und hat so dafür gesorgt, dass die Probleme noch einmal bewusst wurden. Trotzdem, es ist eben so: Der ESC ist eine Musik-Veranstaltung. Und natürlich stand die Musik im Vordergrund. Doch auch hier war es – unterstelle ich mal – politisch, denn der Beitrag aus Israel – pointiert, witzig, eingängig – hat es nicht ins Finale geschafft. Ein Indikator für die israelische Regierung und ihre Sympathien in Europa? Na? Und der griechische Beitrag, obwohl konventionell und einfältig, hat es geschafft. Syriza für Europa?
Ich war Peter Urbans Empfehlung gefolgt und hatte mir aus den 18 heute dargebotenen Beiträgen eine Wunschliste der Titel angefertigt, die ich im Finale sehen möchte. Danach steht für mich fest: Ich bin mit dem europäischen Publikum nicht kompatibel. Also: Von den 18 kamen 10 ins Finale, von meinen engeren Favoriten aber nur zwei: Island und Moldau. Lettland, Schweiz, Österreich und eben auch Israel wurden nicht ins Finale gewählt. Das war mein engerer Kreis. Ich habe darüber hinaus noch einen weiteren Kreis gemacht, aus dem immerhin 50 Prozent ins Finale kamen (Dänemark, Ungarn, Irland), aber das war eine taktische Wahl. So, und nach dem ersten Halbfinale ist Moldau mein Favorit.
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Update nach dem zweiten Halbfinale
Nein, man kann der ARD nicht vorwerfen, dass sie die Probleme in Aserbaidschan unter den Tisch kehre: Auch beim zweiten Halbfinale kritische Anmerkungen von Peter Urban; es gab eine Demonstration, die gewaltsam aufgelöst wurde. Ob es sich dabei um eine vom Iran gesteuerte Demo handelte, wie es sie nach den Links in Kommentar # 5 – siehe unten – angeblich gibt, weil der ESC den Islam beleidigt, wurde allerdings nicht erwähnt. Wieder gab es gute Musik und weniger gute Musik, und wie es typisch für den ESC ist, zeigt die Masse der Wähler hier und da auch schlechten Geschmack und honoriert „Zitate“. Das betrifft beispielsweise den schwedischen Beitrag „Euphoria“, der meines Erachtens in den prägnantesten Stellen hemmungslos abgekupfert ist – auch wenn ich nicht sagen kann, bei wem, aber das hat man schon mal gehört – oder den serbischen. Persönlich freut mich, dass Estland, die Türkei und Norwegen weitergekommen sind. Ich habe sogar mitgestimmt. Für wen, das sage ich aber nicht.
Sicher ist der ESC keine harmlose Kulturveranstaltung, er hat einen politischen Hintergrund:
Er ist sozusagen die Galaveranstaltung eines Zusammenschluss von Rundfunkanstalten aus 56 Ländern.
http://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Rundfunkunion
Was es bedeutet, einen solchen Zusammenschluss der Rundfunkanstalten zu haben, kann die FR ja vielleicht mal recherchieren und verarbeiten.
Das Tätigkeitsfeld dieser Organisation ist mit der Diplomatie vergleichbar.
Es geht beim ESC um einen kleinsten gemeinsamen Nenner, um eine Galaveranstaltung, in der alle Beteiligten über alle Konflikte hinwegsehen und nur das Ziel der Gemeinsamkeit betonen. Er ist eine Party, die nach der Politik stattfindet.
Die Organisationen, die (mit guten Absichten) auf den Erfolg dieser Veranstaltung aufsatteln und im Rampenlicht Politik machen wollen, zerstören diese zugleich. Sie begreifen nicht, daß es während dieser Veranstaltung überhaupt nicht um Politik geht, sondern um gemeinsames Feiern und daß dieses Rampenlicht eben dazu dient, Politik zu machen, weit geschickter, langfristiger und wirksamer, als sie es tun. Sie haben diesen Rampenlicht aber nicht erzeugt und könnten es vielleicht gar nicht.
Ein Diplomat, der am Verhandlungstisch bleiben will, muß in der Lage sein, hinter den Kulissen hart zu verhandeln und beim Empfang dem Gegner die Hand zu schütteln. Wer das nicht kann, sollte kein Diplomat werden, er sollte sich aber auch nicht in das Geschäft der Diplomaten einmischen.
Die Frage“ Wer darf, nach welchen Kriterien, eigentlich beim ESC mitmachen?“ ist völlig falsch gestellt.
Jedes Land, aus dem eine Rundfunkanstalt Mitglied ist, darf mitmachen. Der ESC ist eine Vereinsveranstaltung! Er ist nicht das Ziel, sondern das Aushängeschild der Rundfunkunion.
Kurzum: Es geht beim ESC nicht um den ESC und auch nicht um Politik.
Vielleicht habe ich ja im Geografie-Unterricht nicht richtig aufgepasst, aber seid wann gehört Aserbeidschan zu Europa? Findet dann 2020 der Eurovision-Song-Contest in Peking statt? Vielleicht die Fußball EM in Kapstadt? Wahrscheinlich ist wieder mal an allem die Globasilierung (Schreibweise von Urban Priol) Schuld! Na, dann singt mal schön. Alte passende Lieder gäbe es zuhauf, z.B. „Wir versaufen unser‘ Oma ihr klein Euro-Häuschen“ oder auch „Warum ist’s inner Diktatur so schön“.
PS: Natürlich gehört auch Israel nicht zu Europa, aber das ist wohl politisch begründet, das Israel seit Jahren dabei ist. Bei der Türkei ist es wenigstens ein kleines Stückchen Europa.
Siehe Wikipedialink oben
„Die Europäische Rundfunkunion (englisch European Broadcasting Union, EBU; französisch Union Européenne de Radio-Télévision, UER) ist ein Zusammenschluss von derzeit 74 Rundfunkanstalten in 56 Staaten Europas, Nordafrikas und Vorderasiens mit Sitz in Genf.[1] Hinzu kommen etwa halb so viele assoziierte Sender aus der ganzen Welt.[2]“
Das der ESC in Baku tatsächlich nicht nur eine harmlose kulturveranstaltung ist, sondern auch politisch hohe Wellen schlägt, kann man in den folgenden Links lesen.
Da das ein und selbe Thema, in dem es ja auch in dem Text ging,
(…)”Homosexualität – vor allem Schwule machen einen nicht unbedeutenden Teil der Fan-Klientel des ESC aus – ist in Aserbaidschan zwar nicht illegal, wird aber tabuisiert.”(…)
doch sehr unterschiedlich bewertet wird, habe ich hier deshalb auch die folgenden vier Links eingesetzt:
spiegel-online:
http://www.spiegel.de/politik/ausland/esc-iran-wirft-aserbaidschan-beleidigung-des-islam-vor-a-834524.html
Akif Sahin:
http://www.islam-blogger.de/2012/05/23/eurovision-song-contest-diplomatische-krise-zwischen-aserbaidschan-und-iran/
Deutsch Türkische Nachrichten:
http://www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de/2012/05/453862/streit-um-eurovision-iran-zieht-botschafter-aus-aserbaidschan-ab/
GGG.at – Verein zur Förderung lesbischwuler Kommunikation:
http://www.ggg.at/index.php?id=62&tx_ttnewstt_news=4432&cHash=f56fb1bf58ac69e48a325082f1b81543