Gauck mit Sendungsbewusstsein

Zum neuen Bundespräsidenten Joachim Gauck ist im Vorfeld seiner Wahl so viel gesagt worden wie – zumindest nach meiner Kenntnis – noch nie zuvor über einen Bundespräsidenten-Kandidaten. Im Internet wurde Gauck in unzähligen Blogs und Foren auf Herz und Nieren durchleuchtet. Auch hier im FR-Blog hat es darüber Auseinandersetzungen gegeben (die um die schlimmsten Aussetzer bereinigt am Montag wieder online gehen). Basis der Beurteilung waren Äußerungen aus den letzten 14 Jahren.

Ein Bundespräsident ist ein Bundespräsident. Alle wissen, dass es sich um ein repräsentatives Amt handelt und nicht um eines mit politischer Gestaltungsmöglichkeit. Insofern verwundert die Heftigkeit der Auseinandersetzung. Gleichwohl kann ein Bundespräsident markante Zeichen setzen. Das ist einigen unserer Bundespräsidenten – beileibe nicht allen – auch tatsächlich gelungen. Manche Präsidenten vor dem unrühmlich gescheiterten Christian Wulff, aber auch dieser selbst, konnten wichtige Debatten anstoßen.

Und Joachim Gauck? Die Zeit wird zeigen, ob er der richtige Kandidat war oder der falsche. Nach all den Mutmaßungen haben wir jetzt erste Anhaltspunkte darüber, was der neue Bundespräsident denkt und meint, denn er hat eine erste Rede, seine Antrittsrede, vor dem Bundestag gehalten, der weitgehend begeistert war. FR-Leitartikler Arno Widman hingegen war nicht so leicht zu überzeugen. Hier gibt es Gaucks Rede in Auszügen bei FR-online.de: „Seid Bürger, nicht Konsumenten!

FR Leser Werner Runde aus Mönkeberg meint:

„Der Kommentar von Herrn Widmann ist eine herausragende Kurzanalyse des kleinsten gemeinsamen Nenners, dem die Abgeordneten applaudiert haben. Hätten alle noch geklatscht, wenn er gesagt hätte: Trotz einiger Irrwege, die sich mit dem Aufbegehren der 68er verbanden, bleibt eines ihrer herausragenden Verdienste, die historische Schuld ins kollektive Bewusstsein gerückt zu haben? Der Satz des Bundespräsidenten ist vergiftet.“

Roland Klose aus Bad Fredeburg:

„Der Frühling ist da – und mit ihm der neue Bundespräsident Joachim Gauck. Seine Antrittsrede vor dem Bundestag war im Stile des Reformators Martin Luther und eines Gauck(lers) Gottes geprägt von der Freiheit und der moralischen Verantwortung und Mitbestimmung des Menschen und Bürgers in einer offenen Gesellschaft: der „Banken- und Börsenrepublik Deutschland (BRD)“. In diesem Zusammenhang sprach Gauck von einem Wirtschafts- und Demokratiewunder in Westdeutschland. Kein Wort verlor er jedoch über die  deutsche Beteiligung am Afghanistan-Krieg, obwohl sich die Bonner Republik die Aussage, von deutschem Boden dürfe nie wieder Krieg ausgehen, ins Stammbuch geschrieben hatte. Stattdessen stellte Bundespräsident Gauck explizit eine Idee in den Mittelpunkt seiner Rede: „In Zeiten der Finanz- und Bankenkrise sollten wir mehr Europa wagen.“ Welches Europa Gauck damit meint, ließ er aber völlig offen. Etwa das Europa der zusammengewürfelten Nationalstaaten,  des Fiskalpaktes und der Schuldenbremsen, in dem jeder Staat nur auf seinen eigenen finanziellen Vorteil bedacht ist? Etwa das Europa, welches von den Banken und Börsen dominiert und ruiniert wird? Oder vielleicht doch die Vereinigten Staaten von Europa, die sich in erster Linie für direkte Demokratie, das Wohl ihrer Bürger, soziale Gerechtigkeit, Frieden und gemeinsame Standards in  Europa engagieren?“

Klaus F. Schneider aus Magdeburg:

„Der neue Bundespräsident mit der Lebensweisheit von Joachim Gauck hat die Chance, die Lücke der Unzufriedenheit zu schließen, die keinen materiellen Hintergrund hat. In unserer ökonomisierten Welt ist es nicht die neue ökonomische Armut, sondern die geistig-seelische Armut, die zu Unzufriedenheit und Ablehnung führt. Zuversicht gibt es nur in einer Wertegemeinschaft. Diese wiederherzustellen ist der Neue im Schloss Bellevue in der Lage, wenn er der bleibt, der er bislang war: ein unabhängiger, freier Geist mit Sendungsbewusstsein.“

Herbert Gaiser aus München:

„Joachim Gauck ist ein charakterstarker Politiker, der fest auf dem Fundament des Christentums steht. Eine Wohltat in der gegenwärtigen politischen Landschaft, die von unfähigen Politikern und Wendehälsen geradezu strotzt. Er wird ein guter Bundespräsident sein.“

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4 Kommentare zu “Gauck mit Sendungsbewusstsein

  1. „Der Kommentar von Herrn Widmann ist eine herausragende Kurzanalyse“ der Rede des neuen Bundespräsidenten, meint Herr Runde. Ich kann mich dem überhaupt nicht anschließen.
    Zu einer Analyse gehört nun mal nicht, zu kritisieren, was nicht gesagt wurde und nach Meinung des Analysten auch hätte gesagt werden können, sondern vielmehr Kernaussagen zu benennen und zu werten – und zwar vor dem jeweiligen Kontext. Dem wird Herrn Widmanns Kommentar aber in keiner Weise gerecht.
    Nun handelt es sich hier nicht um eine Regierungserklärung, in der eine kritische Bestandsaufnahme und Eckpunkte künftigen Regierungshandelns zu erwarten wären, evt. auch, wie Herr Klose meint, Ausführungen über Afghanistan, Finanz- und Bankenkrise oder Fiskalpakt u. dgl. mehr. Es war vielmehr die Antrittsrede eines Bundespräsidenten, in der es vor allem darum geht, in Kontakt zu treten mit denen, die er zu repräsentieren hat – über Parteigrenzen, soziale, konfessionelle, ideologische u.a. Grenzen hinweg. Hier sind grundsätzliche Reflexionen über das Gemeinwesen, über das die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen Verbindende sehr wohl angebracht – und warum auch nicht in einem verbindlichen Ton, den Herr Widmann, wenig originell, „pastoral“ zu nennen pflegt.
    Schließlich hätte es Herrn Widmann – so er sich nicht dem Vorwurf der Voreingenommenheit aussetzen will – auch gut angestanden, wenigstens zu erwähnen, was Herr Gauck von Kritiken im Vorfeld aufgenommen hat (so etwa die Frage sozialer Gerechtigkeit) und was sogar Herrn Gysi zu anerkennenden Worten veranlasste.

  2. Ich finde außerdem, daß das „pastorische“ derzeit von der Öffentlichkeit an Gauck herangetragen wird, wenn man erwartet, er solle von den Themen sprechen, die die Menschen bewegen. Mir genügt es, wenn er von dem spricht, was ihn im Amte bewegt und ich formuliere meine Positionen dazu.
    Diese seltsame Methode, sich über das zu beklagen, was nicht gesagt wurde, finde ich gesprächstötend.
    Wenn Gauck erstmal zu allem was sagen soll, müssen wir 5 Jahre nur zuhören.

    Ansonsten wäre es gut, er würde als Präsident erstmal nur seines Amtes walten und (erstmal) nicht soviel reden.

  3. Was wollte uns Herr Widmann mit seinem Leitartikel nun sagen? Dass Herr Gauck in seiner ersten, halbstündigen Rede nicht alle Themen der Welt angesprochen hat (Stichwort „V-Leute“)? Dass man jede Sache sowohl positiv (Stichwort „Vertrauen“) als auch negativ (Stichwort „Misstrauen“) angehen kann? Dass er, der Autor, vielleicht Probleme hat mit der Kirche und deren Predigern und Predigerinnen (Stichwort „Kirchenaustritt“)? Meiner Meinung nach hat er gar nichts gesagt, sein Artikel war nichts als Unkerei. Wenige Tage nach der Wahl eines neuen Bundespräsidenten stimmt er als erster dessen Abgesang an (Zitat: „Aber wer verlangt schon Zukunft von einem 72-Jährigen?“). So macht man vielleicht auf sich aufmerksam – aber nervt auch seine Leser und Leserinnen.
    Apropos Bundespräsident: Ja, er muss auch predigen können, wenn er als moralische Instanz wahrgenommen werden will – und genau das schreiben ihm die Medien unisono als Aufgabe zu. Das unterscheidet ihn letztlich von einem Bundeskanzler, einer Bundeskanzlerin.
    Herr Gauck bittet die Bürger seines Landes, uns, um Vertrauen. Er braucht es, wir brauchen es auch. Was wir nicht brauchen, sind Menschen, die in jeder Suppe ein Haar finden und die, wenn keines drin ist, so lange den Kopf schütteln, bis eines hineinfällt.

  4. Als einer, der auch noch im Ruhestand gelegentlich predigt, nehme ich die Kritik von Arno Widmann nicht als „Unkerei“, sondern sehr ernst. Es gibt diese Predigten, die einlullen, weil sie im Begrifflichen stecken bleiben und von Vertrauen reden, ohne zu klären, wie es konkret entsteht oder bewahrt oder verspielt wird. Ob Bundespräsident Gauck dauerhaft einen solchen Predigtstil pflegen wird, muss sich natürlich noch herausstellen. Aber er wird sich schon messen lassen müssen etwa an der Predigt von Margot Käßmann, als sie nicht nur begrifflich vom Frieden sprach, sondern sehr konkret von Afghanistan. Dadurch hat sie sich Vertrauen erworben, aber natürlich auch etliche Feinde. Ich wünsche Joachim Gauck den Mut dazu.

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