Die FR hat sich am 31. Mai des Themas „Diagnose Hyperaktivität“ angenommen. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung warnt vor Leichtfertigkeit im Umgang mit Medikamenten. FR-Redakteur Wolfgang Wagner beschreibt die Lage von Eltern mit hyperaktiven Kindern, und im Interview mit dem Gefängnispsychologen Götz Eismann wird nach dem Zusammenhang zwischen ADHS und Straffälligkeit gefragt. FR-Leserinnen und Leser haben weitere Informationen:
„Den ‚Schätzungen von Experten‘, drei bis sechs Prozent der Kinder in Deutschland würden an ADHS leiden, möchte ich auf Grund langjähriger Erfahrung in meiner Praxis entschieden widersprechen. Viele Eltern suchen eine lerntherapeutische Praxis auf, weil die bei ihren Kindern als ADHS diagnostizierten Auffälligkeiten Probleme bereiten. In sehr vielen dieser Fälle zeigt die genauere Analyse aber dann, dass die Lernschwierigkeiten nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie durch ADHS verursacht wurden.
Selbst bei Kindern, die tatsächlich unter Aufmerksamkeitsstörungen oder Hyperaktivität leiden, ist der ‚Mittelweg‘ von Medikation verbunden mit Therapie nicht immer die richtige Wahl. Vielmehr ist der Drogenbeauftragten der Bundesregierung zuzustimmen, dass Psychopharmaka bei ADHS ’nur das letzte Mittel der Wahl‘ sein dürften.
Beim ‚Mittelweg‘ wird unterstellt, dass den betroffenen Kindern geholfen wird. Die Medikamente dämfpen die Kinder jedoch in ihrem Aktivitätspotenzial. Die langfristigen Folgen für das noch in Entwicklung begriffene Frontalhirn sind bisher nicht bekannt. Außerdem ist zu fragem, wie Kinder die Selbststeuerung ihrer Aufmerksamkeit lernen sollen, wenn man sie in ihrem Aktivitätspotenzial dämpft.
Um einer Unterrichtsstunde aufmerksam folgen zu können, bedarf es mehr als der Kompetenz, wichtige von unwichtigen Reizen unterscheiden und Prioritäten setzen zu können, welche Reize vorrangig beachtet werden sollen.
Die wenigen Studien über die Auswirkungen auf den Lernerfolg zeigen recht eindeutig: Die Kinder ’stören‘ zwar weniger, lernen aber keineswegs besser oder mehr als ohne Medikamente! Überdies ist bei der Einschätzung des ‚Mittelwegs‘ zu beachten, dass es oft bei einer lang anhaltenden Verabreichung der Medikamente bleibt, weil die Sozialkassen oft die Therapiekosten nicht übernehmen.“
Dr. Margarete Liebrand, Hamburg
„Als Betroffener (als Kind weder diagnostiziert noch behandelt) macht mich diese Diskussion wütend. AD(H)S – Aufmerksamkeits-Defizits-Syndrom, das H steht für Hyperaktivität, ist aber nur ein nicht zwingender Teilaspekt – ist keine Kinderkrankheit. Es ist nur so, dass die Unbehandelten sich irgendwann mit ihrer Minderwertigkeit abfinden und mit dem Alter unauffälliger werden. Das Wesentliche für den Betroffenen ist nämlich nicht „zappelig“ oder „ruhig“, sondern: Schaffe ich es, meine eigenen Entscheidungen auch dann umzusetzen, wenn sie „nur“ aus der Vernunft getroffen wurden. Es ist diese Erfahrung, nicht Herr der eigenen Entscheidungen zu sein, die man bereits sehr früh macht, auch wenn man sie nicht gleich so formuliert. Diese Erfahrung treibt schon kleine Kinder in die Depression und lässt sie auch ohne Hyperaktivität zu Außenseitern werden. Diese Depression bleibt der ständige Begleiter.
Außerdem: Methylphenidat ist keine Neuentdeckung. Es wird seit den 60-er Jahren in der Therapie von AD(H)S verwendet. Al Straßendroge kann es in wesentlich höherer Dosierung zur Sucht führen, aber bei fachgerechter Therapie ist kein Fall von Abhängigkeit festgestellt worden. Auch die Gewöhnungseffekte betreffen im Normalfall nur Appetitstörungen und Nervosität. AD(H)S-Patienten, die mit Methylphenidat behandelt wurden, zeigen als Ergebnis sogar ein verringertes Suchtrisiko gegenüber unbehandelten AD(H)S-Betroffenenen.
Unrter denen, die zum Thema AD(H)S nicht nur lamentieren, sondern auch forschen, herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass AD(H)S sich zwar psychisch manifestiert, aber primär kein psychisches, sondern ein biologisches Problem ist – darum auch erblich. Hier von Prävention zu sprechen, ist also Geschwätz.“
Der Autor will anonym bleiben, ist der Redaktion aber bekannt
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Die FR wählte am Donnerstag, den 31. Mai das Thema ADHS zum Thema des Tages. Erstaunlich ist, dass es gelingt eine ganze Doppelseite zu füllen, ohne auch nur einen einzigen ADHS-Experten zu Wort kommen zu lassen, der die wissenschaftsbasierte (evidence-based) Sichtweise auf ADHS vertritt. Die wirkliche Ursache der ADHS, nämlich eine Stoffwechselstörung unter der Betroffene bis ins Erwachsenenalter hinein leiden, wird dem Leser verschwiegen. Unter objektiver Berichterstattung ist die Darstellung *aller* Erkenntnisse zu verstehen.
In der heutigen FR (Samstag 2. Juni) wird dieses Thema im Leitartikel unter der Überschrift „Vergiftete Gesellschaft“ erneut aufgegriffen. In einem Atemzug wird der Drogengebrauch von Künstlern, das Rauchen und Trinken, Doping im Randsport und die medikamentöse Behandlung von Menschen mit ADHS genannt.
Der Artikel ist emotional geschickt geschrieben und damit hoch manipulativ. Geschickt wird die allgemeine Ablehnung des Dopings im Sport und des Gebrauchs von Drogen mit der Behandlung des ADHS verbunden. Ohne einen optischen Absatz wird im vorletzten Satz der 2. Spalte vom Thema Drogen auf das Thema ADHS übergeleitet, nachdem der Leser zuvor emotional auf Ablehnung eingestimmt wurde. Das ist pure Agitation und einer FR unwürdig.
Herr Nutt schreibt: „Die schnelle Lösung über das Verabreichen von Ritalin rührt aber nicht zuletzt daher, dass reibungsloses Funktionieren zur obersten Prämisse des Alltags geworden ist.“
Diese Sichtweise geht am Erleben der Menschen mit ADHS weit vorbei. Kinder und Erwachsene mit ADHS haben Pläne, möchten ihre Begabungen umsetzten, möchten Freunde haben, möchten im sozialen Umfeld anerkannt sein, möchten mit ihrem Partner glücklich zusammen leben und einem Beruf nachgehen. Genau wie alle anderen Menschen auch.
Doch genau die Wünsche sind für einen Menschen mit ADHS nahezu unerfüllbar. Bedingt durch ihre Aufmerksamkeitsstörung haben sie oftmals einen Schulabschluss, der weit unter ihrer Begabung liegt. Kinder mit ADHS erleben ständig in der Schule, dass sie ihr Potenzial nicht ausschöpfen können. Sie nehmen sich Dinge vor und scheitern schon im nächsten Moment daran, weil sie die Aufmerksamkeit nicht aufbringen konnten oder sie zu impulsiv waren. Dies wirkt sich negativ auf das Selbstbewusstsein aus, denn ein gutes Selbstbewusstsein entwickelt sich nur dann, wenn das Kind Selbstwirksamkeit erlebt.
Wer seine Aufmerksamkeit nur kurzzeitig halten kann, kann nicht gut zuhören, d.h. er driftet mit seinen Gedanken ab. Doch wer nicht zuhören kann, ist kein guter Sozialpartner. Das spüren Kinder mit ADHS, die keine Freunde finden und nicht eingeladen werden, das spüren aber auch Erwachsene mit ADHS, durch Schwierigkeiten in der Partnerschaft oder auch im Beruf.
Es ist zu erkennen, dass Menschen mit ADHS in ihrem sozialen Leben stark eingeschränkt sind. Es geht also vorrangig nicht um das Funktionieren innerhalb des Alltages, wie es Herr Nutt beschreibt, sondern um das soziale Miteinander. Der Focus ist demnach ein vollkommen anderer.
Auch der nächste Satz von Herrn Nutt beinhaltet inhaltliche Fehler. „Die Unruhe bei Kindern und Jugendlichen ist nicht nur ein ernstes Krankheitssymptom. Sie ist eben auch missliches Störpotential für ein komplexes Multitasking zur Bewältigung des Alltags, das nach Behandlung ruft.“
Es ist nicht die Unruhe, die nach Behandlung ruft, wieder wird ein falscher Focus gewählt. Ein Teil der Menschen mit ADHS hat eine Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität, d.h. ohne motorische Unruhe. Dennoch haben diese Menschen die gleichen Schwierigkeiten wie ADHS’ler mit Hyperaktivität. Es geht nicht um die Behandlung der Hyperaktivität, es geht um die Einschränkung im sozialen Miteinander, wie ich bereits ausführlich darlegte.
ADHS ist kein Störpotential für ein Multitasking. Das heißt auch dieser im Artikel gezogene Schluss ist falsch.
Gerade Menschen, deren Aufmerksamkeit sich permanent neu ausrichtet, können viele Dinge gleichzeitig tun, sind also Meister des Multitaskings. Das ist schon bei kleinen Kindern zu beobachten, die mehrere Dinge gleichzeitig spielen, Schulkinder bearbeiten während der Hausaufgabenzeit häufig mehrere Fächer gleichzeitig und Erwachsene mit ADHS sind hervorragende Multitasker (auch Männer!).
Ihre einseitig manipulative und in der Sache falsche Darstellung von ADHS schadet den Menschen, die ADHS haben. Sie verhindern, dass Kinder angemessen unterstützt werden und ihre soziale und emotionale Entwicklung positiv verläuft.
Eltern von Kindern mit ADHS und Erwachsene mit ADHS finden Hilfe in einer Selbsthilfegruppe. Infos unter: http://www.adhs-deutschland.de
Dagmar Dietz
ADHS-Selbsthilfe Frankfurt
http://www.ads-hyperaktivitaet.de
Wenn man die diversen anderen Medien Spiegel und wohl die dpa-Dienste in den kleinen Lokalzeitungen betrachtete, tauchte diese Meldung überall auf.
In der FR allerdings noch recht ausführlich. Ich denke, dass der Hinweis auf die Stoffwechselstörung und der Vergleich mit der Diabetes noch mehr herausgearbeitet werden sollte. Die Medikamente sind schlicht notwendig, wenn die Diagnose stimmt. Genau wie beim Diabetiker muss sich das Umfeld auch darauf einstellen. Diabetiker müssen sich ein anderes Essverhalten trainieren.
ADS-Kinder benötigen eine spezielle Lernumgebung. Z.B. ist ein Gruppentisch in der Schule ein wichtiges Instrument zum Lernen, für ein ADS-Kind höchst problematisch, weil die Ablenkung viel zu hoch ist.
ADS-Kinder benötigen in den real existierenden Schulen einen viel besser strukturierten Unterricht. Wünschenswert wäre natürlich, dass sich die Schule auf die Schüler einstellt, wie in vielen Ländern der Erde und sich nicht die Schüler auf die Schule einzustellen haben.
Den ADS-Kindern fehlt noch mehr die tägliche Sportstunde, die nun seit 100 Jahren (!!!) gefordert wird. Vor rund 4 Wochen gab es im Zusammenhang mit den dicken Deutschen ja wieder mal ein Appell…
Diese Maßnahmen können das Medikament nicht ersetzen, aber sie helfen den Kindern (und den Eltern!). Ganz nebenbei hätten die normalen Kinder auch etwas davon….