Egal, wie teuer es am Ende wird

Im Süden der Republik ist etwas im Gange, was vor allem Schwarz-Gelb das Fürchten lehren könnte: Stuttgart steht Kopf. Bisher hatte die baden-württembergische Landeshauptstadt nämlich einen Kopfbahnhof, der nun in dem Mammutprojekt „Stuttgart 21“ unter die Erde gelegt und zu einem Durchgangsbahnhof ausgebaut werden soll. Die Abrissarbeiten am bisherigen Hauptbahnhof haben bereits begonnen. Tausende von Bürgerinnen und Bürgern haben das Gefühl, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wurde, und gehen nun auf die Straße. Am Abend des 10. September bildeten Zehntausende eine Menschenkette zwischen den Parteizentrale von CDU und SPD. Das stellt vor allem die Landesregierung ein halbes Jahr vor der Landtagswahl vor Probleme. Aber auch die SPD hat dem Projekt zugestimmt. Mit dem Ergebnis, dass die Grünen sie in Umfragen jetzt überholt haben: 27 Prozent. Die SPD holt 21 Prozent, die CDU 35, die FDP nur noch 5, was in ihrem Stammland einer Katastrophe gleichkommt. Stuttgart 21 hat landespolitische Bedeutung: 54 Prozent der Wählerinnen und Wähler im Südwesten sind gegen das Projekt, nur 35 dafür. Vier von fünf Befragten gaben an, dass der Streit um Stuttgart 21 für den Ausgang der Landtagswahl am 27. März eine wichtige oder entscheidende Rolle spielen wird. Die SPD plädiert daher nun eilig für Baustopp und Volksentscheid. Glaubwürdig wirkt sie damit nicht, denn auch sie wollte das Projekt unbedingt realisieren und sprach sich zuvor gegen Bürgerbeteiligung aus. SPD-Landeschef Nils Schmidt sagt dagegen jetzt: „Es ist eine Stimmung entstanden: Ihr da oben, wir da unten.“ Mit dem Volksentscheid wolle die SPD die Akzeptanz für das Milliardenprojekt erhöhen. CDU und FDP lehnen das Ansinnen ab. Es könnte sie den Kopf kosten.

Hintergrund für die Empörung der Menschen ist neben dem städtebaulichen Eingriff – der alte Kopfbahnhof ist nicht ohne architektonischen Wert – vor allem, dass die Kosten zu explodieren drohen. Das ist bereits jetzt absehbar. Das Münchner Ingenieurbüro Vieregg & Rößler schätzt die Ausgaben für das Gesamtprojekt in einem Gutachten auf 12 bis 18,7 Milliarden Euro. Allein die neue Schnellstrecke Stuttgart-Ulm, die Teil des Projekts ist, dürfte statt, wie veranschlagt, 2,9 Milliarden 5,3 Milliarden kosten, vor allem weil die Schwäbische Alb durchtunnelt werden muss – und da hat man es mit schwierigem geologischen Terrain zu tun. Die Bahn rechnete für das Gesamtprojekt nur mit 7 Milliarden Euro und warf den Gutachtern vor, die Bürger mit „Horrorzahlen“ verunsichern zu wollen. Inzwischen räumt auch Bahnchef Rüdiger Grube ein, dass das Projekt teurer werden könnte: „Bei Infrastrukturprojekten kann man nie sagen, was am Ende auf Heller und Pfennig herauskommt.“ Eine andere Studie, in Auftrag gegeben von der IHK Stuttgart, erstellt von den Gutachtern K+P, kommt zu dem Schluss: Stuttgart21 ist überflüssig. Der bisherige Verkehrsknotenpunkt mit Kopfbahnhof kann auch noch deutlich mehr Verkehr verkraften, während andere dringend nötige Infrastrukturprojekte wie etwa der Ausbau der Rheinschiene ins Hintertreffen geraten. Diese Ergebnisse wurden unter der Decke gehalten. Das Gefühl der Menschen, übergangen worden zu sein, hat anscheinend Berechtigung.

Der SPD-Veteran Erhard Eppler schreibt im FR-Gastbeitrag: „Es war ein politischer Fehler, den Volksentscheid zu S21 abzubügeln.“

FR-Leser Thomas Naatz aus Frankfurt meint:

„Die Deutsche Bahn hatte das Gesamtprojekt Stuttgart-Ulm Ende der 90er Jahre wegen hoher Kosten und Unwirtschaftlichkeit schon begraben. Inzwischen ist Stuttgart 21 für die Bahn ein Bombengeschäft geworden, erhält sie doch so viele öffentliche Zuschüssen aus Steuergeldern, dass für sie der Neubau billiger ist als die Renovierung des bestehenden Bahnhofs. Warum? In den Finanzierungsverträgen zu Stuttgart 21 (Landtagsdrucksache 14/4382 aus 2009) ist auf Seite 32 die Aufteilung der Kosten ganz klar geregelt: Das Land Baden-Württemberg verpflichtet sich, sich mit einem „nicht rückzahlbaren Baukostenzuschuss in Höhe von 950 Millionen Euro“ (zahlbar von 2010 bis 2016) am Bau der ICE-Trasse zu beteiligen. Die Deutsche Bahn soll zunächst 150 Millionen Euro zahlen. Falls Landesmittel und Bahnanteil schon vor 2016 aufgebraucht wären, müsste der Schienenkonzern zur Überbrückung weitere 130 Millionen Euro springen lassen, damt die Bauarbeiten nicht wegen Geldmangels zum Erliegen kommen. Der Bund verpflichtete sich, die gesamte Last der Mehrkosten alleine zu schultern,egal, wie teuer es am Ende wird. Unterschrieben hat diesen Vertrag unser ehem. Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee.“

Jennifer Augsten aus Berlin dagegen meint:

„Statt gegen die hohen Kosten von S21 zu demonstrieren, sollten die Gegner lieber den Länderfinanzausgleich in gleicher Weise verurteilen, denn dabei zahlt Ba-Wü jährlich mehr als seinen Anteil für Stuttgart 21 – und das ganz ohne Gegenleistung!
Nur sind die Bürger der Empfängerländer zu klug, gegen die mit den Schwaben-Mitteln finanzierten Prestigeprojekten und Leistungen, die in BaWü längst gestrichen sind, zu demonstrieren.“

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3 Kommentare zu “Egal, wie teuer es am Ende wird

  1. Warum hier keine Experten-Kommentare stehen, verstehe ich nicht.

    Hier tut sich etwas, das später vielleicht mal richtungsweisend genannt wird.

    Breite Schichten der Bevölkerung
    demonstrieren gegen eine Maßnahme „von oben“.

    Das lässt aufhorchen…

    Der schlafende Michel erwacht ?

  2. „Stuttgart 21“ ist nicht weniger als ein Jahrhundertprojekt, das strategische Weichen stellt (Winfried Wolf): der Eisenbahnverkehr wird in der Fläche zurückgebaut, auf Hochgeschwindigkeit reduziert, im Interesse der Auto- und Luftfahrtindustrie. S21 dient der Verlagerung des Güterverkehrs von der Schiene auf die Straße. Profiteur ist die Autoindustrie, sie will LKWs verkaufen. Die Schrumpfung des Schienen-Nahverkehrs hat denselben Effekt, der private Autoverkehr steigt.

    Der zweite Weichenstellung: Milliardenprofite für die Immobilienhaie. In Heft 43 von 1993 des Münchener Wochenmagazins „Focus“ erschien ein Artikel mit der Überschrift „Das Mega-Milliarden-Ding“. Dort hieß es: „Heinz Dürr, der Führer der zukünftigen Deutschen Bahn AG gibt sich entschlossen, mit Bahnhöfen und Brachland gutes Geld zu verdienen. Für das Geschäft mit den Immobilien wird im Vorstand der neuen DB AG eigens ein neues Ressort geschaffen. Das 41000 km lange Schienennetz ist als Immobilie pures Gold. Die Gleisschneisen der Städte können raffiniert umgebaut werden.“ Es geht also nur um die Privatisierung von Volksvermögen für Immobilien-Deals und um die Zerstörung des klimaverträglichen Bahnverkehrs.

    Doch von den Stuttgarter Schimpfkanonaden, soviel ist klar, geht eine neue Epoche der deutschen Demokratie aus, und die ihren Zorn auf Mappus und Co. entladen, können sagen, sie sind dabeigewesen. Denn die skandalöse Logik, nach der die lediglich Gewählten die Infrastruktur des Landes in der Fläche zerstören, wird jetzt ebenso flächendeckend entlarvt und bekämpft: es ist die Logik politischer Prostituierter, die nur auf den Anruf von Großinvestoren und Bankern warten.

  3. Folgende Mail habe ich an die Befürworter des Projektes Stuttgart 21 geschickt:

    Aus dem nicht allzu fernen Hessen stelle ich folgende Fragen zum Projekt STUTTGART 21:

    1. Warum werden rund um die Projektierung so viele Tatsachen verheimlicht?

    2. Warum wird nicht anerkannt, daß die Kosten ausufern?

    3. Warum wird negiert, daß es primäre Probleme mit dem Wasser im Untergrund geben könnte?

    4. Warum wird behauptet, daß die Strecke Stuttgart-Ulm so wichtig für den europäischen Verkehr wäre, wenn doch für einen Bruchteil der Kosten sowohl der Zeitgewinn als auch die Nutzung für den Güterverkehr zu erzielen wäre?

    5. Warum wird verschwiegen, daß es sich um einen gigantischen Immobilien-Deal handelt?

    6. Warum wird nicht begriffen, daß jeder Euro, der in das Projekt fließt, für die viel wichtigeren Aufgaben, nämlich Güterverkehr und Personennahverkehr, fehlt?

    7. Und zum Schluß: Warum wird, bezüglich angeblicher EU-Unterstützung, so furchtbar gelogen, siehe den Kommentar von Heide Rühle:

    „Mich hat es sehr geärgert, dass sowohl Ministerpräsident Mappus als auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in Sachen Stuttgart 21 nicht die Wahrheit sagen. Immer wieder wird von beiden behauptet, das Europäische Parlament habe den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofes beschlossen und die EU finanziere ihn auch. Um es mal frei nach Harald Schmidt zu sagen: man kann der EU viel vorwerfen, aber nicht, dass sie den Stuttgarter Hauptbahnhof unter die Erde bringt. Fakt ist: weder hat das Europaparlament den Umbau des Kopfbahnhofes beschlossen noch finanziert die Union den Umbau. Liebe Frau Merkel, bleiben Sie bei der Wahrheit! Hier zeigt sich mal wieder: wird der Gegenwind auf nationaler Ebene heftiger, muss die EU den Sündenbock spielen. Ich habe daher gemeinsam mit Michael Cramer einen >> offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel (hier der Link: http://www.heide-ruehle.de/heide/fe/pub/de/dct/772) geschrieben.

    Ihre/ Eure

    Heide Rühle“

    Mit nicht mehr allzu freundlichen Grüßen
    Wolfgang Fladung
    Bad Camberg

    PS: Es wird immer wieder darauf hingewiesen, daß die Beschlüsse ja demokratisch erfolgt seien. Demokratisch erfolgt waren auch die Beschlüsse von Rot-Grün 2001 zum Atomausstieg. Und trotzdem wird das alles wieder gekippt. Warum dann nicht auch Stuttgart 21???

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