Nur solche Menschen, denen Menschenleben nichts bedeuten, können so agieren wie der belarussische Diktator Lukaschenko. Er setzt geflüchtete Menschen als Waffe gegen die EU ein, wohlwissend, dass der große europäische Staatenbund bei diesem Thema ein Zwerg und uneins ist. Es geht um geostrategische Fragen, und im Hintergrund mischen offenkundig die Präsidenten Russlands und der Türkei mit.
Die Lage an der Grenze zwischen Belarus und Polen ist dramatisch. Aktuell scheint es so zu sein, dass belarussische Soldaten Grenzanlagen zerstört haben, die von den polnischen Sicherheitskräften errichtet worden sind. Geflüchtete konnten durch. Sie sollen mit Tränengas ausgerüstet worden sein. Ihr Ziel ist es, in die EU zu kommen. Lukaschenko nutzt sie als Waffe gegen die EU, möglicherweise als Retourkutsche für die Sanktionen, welche seitens der EU gegen Belarus verhängt wurden, nachdem das Regime in Minsk ein Flugzeug gekapert hatte, um sich mehrerer Regimekritiker zu bemächtigen (hier die Hintergründe im FR-Blog). Dabei hat Lukaschenko offenbar kein Problem damit (oder keine Wahl), als sich vom russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin als Werkzeug benutzen zu lassen. Putin arbeitet seit langem an der Destabilisierung der Europäischen Union.
Es geht um Geostrategie, um einen großen Bogen. Die Geflüchteten gehören ebenso zum Gesamtbild wie die Demütigungen, die Putin durch Barack Obama erfahren hat (Stichwort „Regionalmacht“), aber auch der russische Militäreinsatz in Syrien und die Waffen, welche die Türkei in Russland eingekauft hat und weiterhin einkauft. Und Putins Muskelspiel im Zusammenhang mit Hyperschallwaffen, die Aufkündigung von Anti-Aufrüstungsverträgen durch die USA, die Annektion der Krim durch Russland und die Gaspipeline Nord Stream 2. Im Osten der EU befindet sich also ein Machtblock mit höchst unterschiedlichen Köpfen, die aber ein gemeinsames Ziel verfolgen. Lukaschenko und Putin sind sich dabei näher als mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan, der offenbar das Ziel verfolgt, die Türkei zum Kernstaat der islamischen Welt zu machen, den Thesen von Samuel P. Huntington folgend („Clash of Civilizations“, deutscher Titel, falsch übersetzt: „Kampf der Kulturen“). Das ist ein weiter Weg.
Wir befinden uns in einem hybriden Krieg, in dem die Geflüchteten als Waffe eingesetzt werden. Das ist wahrhaft fürchterlich, denn diese Menschen sind vor Gewalt geflohen! Und nun helfen sie dabei, die EU, von der sie sich Hilfe erwarten, in eine schwierige Lage zu bringen. Die EU hat dabei kaum eine Wahl. Sie muss sich gegen die Machenschaften der belarussischen und türkischen Staatsschlepper zur Wehr setzen, um ihre inneren Konflikte unter dem Deckel zu halten. Dabei gibt sie ein herzloses Bild ab und agiert gegen ihre Werte, aber was bleibt ihr übrig?
Das zeigt vor allem eines: Diese Werte sind schwer zu verteidigen, wenn auf der anderen Seite skrupellose Akteure wirken, die solche Werte nicht haben. Werte machen also verletzlich! Die Verteidigung der Demokratie wird dennoch nur gelingen, wenn den vielfältigen Destabilisierungsversuchen in dieser hybriden Auseinandersetzung etwas entgegengesetztt wird. Perfiderweise hat auch die gegenwärtige polnische Regierung ein Interesse daran, die EU zu destabilisieren. Auch sie spielt eine Rolle in diesem geostrategischen Machtpoker, was die ganze Sache wahrlich nicht einfacher macht. Die Ironie dabei: Diese polnische Regierung ist aus vielen Gründen (etwa Katyn, Flugzeugabsturz bei Smolensk) strikt antirussisch eingestellt, spielt jetzt aber dem belarussichen Machtpoker in die Hände. Sie hat in der Vergangenheit eher in den USA um Unterstützung gesucht als in Brüssel. Auch die USA haben ein Interesse daran, die EU zu schwächen. Das hat die Trump-Präsidentschaft deutlich gezeigt.
Trotz alldem kann man nicht darüber hinweggehen, dass den Menschen, die da benutzt werden, also den Geflüchteten, geholfen werden muss. Humanität muss für alle Vertreter:innen westlicher Werte grundlegend fürs Handeln sein. Zugleich aber kommen wir am Befund nicht vorbei, dass die Geflüchteten als Waffe gegen unsere Werte eingesetzt werden. Die gegenwärtigen Zustände an der polnisch-belarussichen Grenze sind eine bewusst herbeigeführte Aggression Lukaschenkos, Putins und Erdogans. Darauf muss die EU eine Antwort finden. Und die, das steht wohl außer Frage, sollte nicht militärischer Natur sein. Also weitere Sanktionen? Kein Gas per Nord Stream 2? Mehr Unterstützung für die Ukraine in ihrem Ringen mit Russland, um sie als Gegenwicht zu erhalten? Oder doch — reden? Diplomatie? Aber wie soll man konstruktiv mit jemandem reden, der offenkundig aggressiv agiert, sich nicht an rechtsstaatliche Regeln hält und nicht auf Verständigung aus ist?
Auf dem gleichen Niveau wie der Despot
Jan Opielkas beeindruckende Dokumentation zeigt überdeutlich, dass die EU bereit ist jede Hemmung über Bord zu werfen im Bestreben Flüchtlinge mit allen Mitteln abzuwehren. Ich möchte nie mehr den unzutreffenden und selbstgerechten Begriff der „Wertegemeinschaft“ hören! Von keinem Politiker und erst recht nicht von Frau von der Leyen ! Wenn jetzt nicht endlich zu Menschenrecht und angemessenem Umgang mit den eingesperrten Menschen im belarussischen Grenzgebiet zurück gekehrt wird wird es viele Tote geben und diese sind das Ergebnis eines menschenverachtenden Verbrechens – ebenso wie die Weigerung, Flüchtlinge von den Schlauchbooten im Mittelmeer zu begrenzt
Mit dem Ausnahmezustand an der Grenze begibt sich Polen – hinter der vorgehaltenen Hand auch die EU („Wir werden prüfen …“) – auf das gleiche Niveau wie der belarussische Despot.
Hört endlich auf, in Bezug auf Flüchtlinge in Panik und Abwehr zu verfallen und kehrt zurück zu Menschenrechten und Flüchtlingskomvention!
Mein Dank und meine Anerkennung gelten den Menschen, die den Mut haben, sich nicht einschüchtern lassen und den Flüchtlingen helfen!
Barbara Erben-Wunder, Hamburg
Ein perfekter Grenzwall für Belarus
Das Flüchtlingsdrama an der Grenze zwischen Belarus und Polen wird bisher immer nur als Provokation des Herrschers in Belarus, also von Lukaschenko, gegenüber der EU dargestellt und die Menschverachtung von Belarus hervorgehoben. Mir kam inzwischen der Gedanke, dass das ganze ein Geniestreich des belarussischen Regimes ist. Früher bauten die Ostblockstaaten ihre Genzbefestigungen selbst, um die Flucht ihrer Staatsbürger zu verhindern. Heute bauen die Nachbarstaaten diese Grenzbefestigungen, um die Flucht aus diesen Staaten zu verhindern. Wenn diese Grenzbefestigungen perfekt ausgebaut sind, ist auch jede Flucht eines belarussischen Staatsbürgers aus Belarus verunmöglicht. Die EU hat vor lauter Achtung der Menschenwürde der Flüchtling auf dieser Welt einen perfekten Grenzwall für Belarus gebaut und auch noch bewiesen, dass der erklärte Schutz von echten Flüchtlingen auf dieser Welt durch die EU nichts wert ist, weil er nicht realisiert werden kann. Wer ist da eigentlich der/die wahre Saubermann/Sauberfrau? Menschenleben haben offensichtlich nicht immer einen Wert.
Ludwig Müller-Volck, Frankfurt
Die EU sollte das Gespräch mit Putin suchen
An der Grenze zwischen Belarus und Polen herrscht „hybrider Krieg“. Lukaschenko und Putin versuchen die EU zu destabilisieren, indem sie unschuldige Flüchtlinge missbrauchen. So weit die eine Sicht.
Die andere wurde vor einigen Tagen deutlich benannt bei einem Vortrag von Ralf Becker im Gemeindehaus der Evangelisch-Reformierten Gemeinde am Marktplatz in Neu-Isenburg. Er stellte die Initiative „Sicherheit neu denken“ der Evangelischen Landeskirche in Baden vor. Krieg führe nie zum Frieden, wenn man nicht versuche, auch die andere Seite, die des „Feindes“, zu verstehen.
Deshalb danke ich Ulrich Krökel für seine klaren Worte.Anstatt auf Lukaschenkos Rachefeldzug mit herzloser Härte und weiteren Sanktionen zu reagieren, sollte die EU das Gespräch suchen, vor allem mit dem russischen Präsidenten.
Gregor Böckermann, Neu-Isenburg
Schande über die, die nichs tun
Wo bleibt denn die ach so katholische polnische Kirche, die doch wenigstens kleine Wasserflaschen und Brötchen über den Stacheldrahtzaun werfen könnten, wo das Belarssische Rote Kreuz, daa Zelte aufbauen könnte, um diese armen Menschen vor dem Regen zu schützen? Schande über die, die nichts tun!
Herrn Hahn und allen Leuten, die finden, Deutschland sei ein „relativ dicht besiedeltes, kleines Land“, in dem bei weiterem Zuzug bald „keiner mehr gern leben möchte“, gebe ich zu bedenken: Wir alle leben auf einer zu dicht besiedelten, kleinen Erde und haben nicht die Wahl, ob wir das möchten.
Die Menschheit hat sich in einer Art und Weise ausgebreitet, die alles Leben auf dieser Erde bedroht. Nun liegt es wohl in der Natur jeder Lebensform, sich ihren Fähigkeiten entsprechend auszubreiten. Beim Menschen allerdings hat diese Macht einen Grad erreicht, der alles zerstören kann.
Unsere einzige Hoffnung ist, dass Homo sapiens auch Vernunft entwickelt hat, die es grundsätzlich möglich macht, den Ausbreitungstrieb zu beschränken und mit den Ressourcen der kleinen Erde sorgsam umzugehen. Wir müssten da sehr schnell umdenken.
Zu den Qualitäten, die dabei gebraucht werden, gehört auch ein humaner Umgang mit Menschen in Not und ein Denken über die Landesgrenzen hinaus.
Übrigens kenne ich niemanden, der fordert, dass nach Deutschland „jeder, der möchte, einwandern kann“. Wer davor warnt, zeigt keinen Mut, sondern baut einen Popanz auf.
Moin lieber Herr Büge „Bronski „,
„schon jetzt sterben Menschen in der Grenzregion (zwischen Polen und Belarus), und der Winter steht erst vor der Tür“, bemerkt erschüttert die Grünen-Bundestagsabgeordnete Merle Spellerberg in der Frankfurter Rundschau vom 11.11.21, Seite 7.
Ja. Das unerträgliche Drama findet nicht mehr weitgehend unbemerkt ausschließlich im fernen Afrika statt, wo Menschen auf der Flucht vor Krieg und Elend in der Wüste verdursten oder in libyschen Lagern gefoltert werden. Es findet nicht mehr ausschließlich im Europa und Afrika trennenden und verbindenden Mittelmeer statt, wo man normal denkende und handelnde Humanisten daran hindert, Schiffbrüchige vor dem Ertrinken zu retten (anstatt sich selbst an der Rettung zu beteiligen!). Ab sofort sterben Menschen in und an unserem Nachbarland Polen. Frauen. Kinder. Männer. Erfroren. Verdurstet. Verletzt.
Sterben? Sterben lassen. Zuschauen beim Sterben. Nicht helfen. Zurückführen. Gewaltsam. Verletzen.
Was sind das für Kinder und Frauen und Männer, die mitten in Europa so brutal behandelt werden, wie man Tiere nicht behandelt haben möchte.
Gestern lief der oskarprämierte Film „Für Sama“ auf ARTE im Fernsehen. Sama ist das Kind im Bauch einer Mutter und das Kind auf dem Bauch der Mutter und das Kleinkind, das in Aleppo aufwächst im Bürgerkrieg. Ihre Mutter filmt sie und den Krieg. Ein Syrer hatte mir vor einiger Zeit den Film empfohlen. Dumm wie ich war empfahl ich den Film meiner syrischen Auszubildenden. 10 Minuten konnten sie und ihr Mann zugucken. Mehr konnten sie nicht ertragen. Die vielen Toten im Film. „Echte“ Tote. Mit halbem Kopf. Ausgeblutete Kinder.
Es sind solche Menschen, die sich auf den Weg nach Europa machen. Frauen und Männer schleppen ihre Kinder mit. Weil sie dort nicht leben können, wo Faßbomben Menschen zerfetzen oder Chlorgas sie ersticken läßt.
Jetzt haben sie die Europäische Wertegemeinschaft fast erreicht bis auf wenige Meter. Westlich. Demokratie. Menschenrechte. Böser Assad. Böser Lukaschenko. Und was passiert? Sterben. Sterben lassen. Zuschauen beim Sterben. Nicht helfen. Zurückführen. Gewaltsam. Verletzen. Kinder. Ihre Väter und Mütter. Männer und Frauen.
Armselig! Schändlich. Würdelos. Verbrecherisch! Das ist die Europäische Union. Alles lauter Assads und Lukaschenkos.
Vor 32 Jahren fiel die Mauer. Vor 83 Jahren zerstörte der Mob jüdische Einrichtungen, und der Holocaust formierte sich. Heute läßt man Menschen erfrieren und ertrinken.
Morgen, also tatsächlich morgen sollten die westlichen Demokratien, sollte die Friedensnobelpreisträgerin Europäische Union menschlich handeln und nicht rassistisch! Und ab dann jeden Tag! Wie es sich für eine Demokratie ziert.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Lübbers
Ursprünglich als Leserbrief gedacht.
Vor zwei Tagen gedachten wir des Falls der Berliner Mauer. Umso erschütternder ist die Tatsache, dass 32 Jahre später wieder eine europäische Grenze militarisiert wird, um Zivilpersonen an der Flucht zu hindern. Indem die polnischen Behörden Armee und Polizei an die Grenze zu Belarus schicken, Stacheldrahtzäune errichten, in einem zehn Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze den Ausnahmezustand verhängen, mit Spürhunden, Hubschraubern und Geländewagen mit Nachtsichtgeräten patrouillieren und Flüchtende in völkerrechtswidrigen Pushbacks auf die belarussische Seite zurückdrängen bzw. -bringen, zeigt die Europäische Union wieder einmal an ihrer Außengrenze ein unmenschliches Gesicht. Wenn nun von Polens legitimem Sicherheitsbedürfnis gesprochen wird, verkennt dies, dass nicht fremde Armeen an der Grenze stehen, sondern aus Not geflüchtete Menschen, die einfach nur ein menschenwürdiges Leben erstreben. Wo bleiben hier die viel beschworenen Werte der Europäischen Union?
Warum ist es möglich, Menschen an einer Grenze in Eiseskälte im Freien quasi zu internieren, Verletzungen und Tod in Kauf nehmend, sie dort ausharren zu lassen, ohne ihnen zu helfen?
Warum ist das möglich von Menschen, die sich als Vorkämpfer für Freiheit und Menschenrechte verstehen, nämlich die EU-Staaten?
Die Flüchtlinge werden gar nicht als Menschen gesehen. Sie werden nicht gebraucht, sie stören, sind überflüssig, gehören nicht zu unserer EU. Deshalb kann man sie auch als Nicht-Menschen behandeln. Sie sind nur Spielbälle von verschiedenen Interessen:
Polen, die PISS-Partei benutzt sie, um ihre reaktionäre Politik zu durchzusetzen. Das diktatorische antidemokratische Belarus gebraucht sie, um sich gegen die EU-Sanktionen zu wehren. Deutschland fürchtet um den Verlust der Wählergunst und schiebt lieber die Verantwortung der Türkei, Polen, Belarus und Russland zu. Die EU desgleichen, sie nutzt sie, um ihr Feindbild vor allem gegenüber Russland zu stärken: Putin sei ja sowieso an allem schuld.
Die Verantwortung tragen nicht wir in Deutschland, in der EU, sondern die anderen. Deshalb muss man auch nicht darüber nachdenken, was richtig und was falsch ist.
Aber wieso kommen überhaupt die Flüchtlinge? Ihr Land, z.B. der Irak, ist zerbombt worden, vom freiheitlichen, demokratischen Westen! Danach herrschte Chaos und der IS-Terror. Da liegt die Verantwortung des Westens, die er übernehmen müsste. Die Verantwortung nicht anzunehmen, nicht zu helfen, die Verantwortung anderen zu überlassen, das ist die ganz normale Banalität des Bösen, wie Hannah Arendt es formulieren würde. Eigentlich müsste die EU sich selbst sanktionieren, weil sie es unterlässt, Menschen in Not zu helfen und damit Menschenrechte verletzt.
@ Heike Kunzelmann:
„Die Flüchtlinge werden gar nicht als Menschen gesehen. Sie werden nicht gebraucht, sie stören, sind überflüssig, gehören nicht zu unserer EU. Deshalb kann man sie auch als Nicht-Menschen behandeln“…
Dazu habe ich gerade einen interessanten Text in dem Buch „Rassismus“ von Natasha A. Kelly gelesen:
„In Europa schauen wir…vom Sofa aus zu, wie Schwarze Körper seit Jahren im Mittelmeer ertrinken, wenn sie versuchen, diesen Krisen zu entfliehen. …Erst dann, wenn wir …verstanden haben, daß Rassismus strukturell ist, daß Rassedenken ungebrochen fortwirkt, Kolonialismus noch andauert und die Erderwärmung und das Sterben im Mittelmeer unmittelbar damit zu tun haben, können wir … nicht nur soziale Gerechtigkeit, sondern intersektionale Gerechtigkeit einfordern.“ (Seite 30 und 31).
Es ist also (auch) purer Rassismus, warum -wie Sie es schreiben, Frau Kuntze-Engelmann, „Menschen an einer Grenze in Eiseskälte im Freien quasi zu internieren, Verletzungen und Tod in Kauf nehmend, sie dort ausharren zu lassen, ohne ihnen zu helfen?“
Wer Flüchtlinge sterben läßt ist ein Rassist!
Es ist verständlich, dass Swetlana Tichanowskaja die Politik gegen den zynischen Diktator fortsetzen will, der ihren Mann eingekerkert hat. Aber sie darf nicht die gleichen zynischen Methoden wie er benutzen. Menschen und insbesondere Kinder dürfen nie Mittel der Politik sein. Wer immer sie an Grenzzäunen verrecken lässt, macht sich schuldig.
Im Angesicht von bereits zwölf Todesfällen im Grenzgebiet zwischen Belarus und Polen hat Wolfgang Schäuble völlig recht, wenn er eine schnelle, humanitäre Lösung für die rund 4000 verzweifelten Menschen, die unter unwürdigen Bedingungen an der belarussisch-polnischen Grenze ausharren, fordert. In dieser einmaligen Ausnahmesituation sollte Deutschland als wirtschaftsstärkstes Mitgliedsland der Europäischen Union in einer humanitären Geste diesen Menschen die Einreise nach Deutschland gewähren und hier zügig geordnete Asylverfahren durchführen. Betrachtet man die Tatsache, dass in den ersten zehn Monaten dieses Jahres bereits 150.332 Asylanträge in Deutschland gestellt wurden, dürften 4000 weitere Asylanträge kein ernstzunehmendes Problem darstellen. Auch wenn nach der Dublin-III-Verordnung derjenige Staat verpflichtet ist, das Asylverfahren durchzuführen, in dem die asylsuchende Person zum ersten Mal die EU-Grenzen irregulär überschreitet, sieht Artikel 17 derselben Verordnung ein Selbsteintrittsrecht vor, nach dem sich ein Dublin-Staat für ein Asylverfahren für zuständig erklären kann, obwohl er an sich nicht zuständig wäre. Insofern könnte man in einer mit Polen konzertierten Aktion die Grenze zu Belarus öffnen und die rund 4000 Geflüchteten mit Bussen und Sonderzügen nach Deutschland bringen, um ihnen hier ein geordnetes Asylverfahren zu ermöglichen. Ein positiver Nebeneffekt dieser humanitären Geste wäre, dass damit der belarussische Diktator Lukaschenko jegliches Druckmittel gegenüber der Europäischen Union verlöre.