Antisemitismus: Einseitig positioniert sich nur, wem es an Empathie fehlt

Die jüngste Eskalation im Nahen Osten hat auch in Deutschland Auswirkungen gehabt – etwa in Gestalt von Demonstrationen mit klar israelfeindlichen und antisemitischen Botschaften. Es herrscht große Wut über das Verhalten der israelischen Regierung, das von vielen Menschen (nicht nur vor Ort in Israel bzw. Palästina) als aggressiv erlebt wird. Israel bricht mit seiner Siedlungspolitik im Westjordanland das Völkerrecht, und seine Palästinenserpolitik wird als unterdrückerisch wahrgenommen. Die Palästinenser, so weiterhin die Wahrnehmung, befinden sich darum in einem legitimen Befreiungskampf, was ihnen Sympathien sichert – auch dann, wenn sie ihrerseits als Aggressoren auftreten so wie kürzlich mit ihren massiven Raketensalven auf Israel. Viele Israelis nennen das Terror. Nun ja, so darauf die Pro-Palästinenser-Seite, welcher Befreiungskampf ist jemals ohne Gewalt abgegangen? Auch zionistische Aktivisten haben vor der Gründung des Staates Israel blutigen Terror verübt, gegen die britische Mandatsmacht.

Palästinenser RömerbergEs gibt einen relativ einfachen Ausweg aus dieser verfahrenen Lage, aber der Gedanke ist naiv. Er heißt: gegenseitiger Respekt. Und damit sind wir beim Antisemitismus hierzulande. Antisemitismus, das ist pauschaler Judenhass oder pauschale Judenfeindlichkeit. Wie beim Rassismus werden Urteile ohne Ansehen einer Person verhängt, sondern qua Zugehörigkeit zu einer Gruppe, hier: der Juden. Zahllose Menschen weltweit und auch in Deutschland erleben Rassismus hautnah (obwohl es keine Menschenrassen gibt). Man muss nur als junger Mann einen dunklen Teint, starken Bartwuchs und dunkle Haare haben, schon steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man als – um es mit einem rassistischen Wort zu sagen – „Nafri“ einsortiert wird. Das steht für „Nordafrikaner“ bzw. „nordafrikanischer Intensivtäter“ und ist Slang der Polizei von NRW. Man muss nicht wirklich „Nafri“ sind, um so einsortiert zu werden. Es reicht, dass man so aussieht.

Das ist das Problem mit allen diesen Einsortierungen: Das Urteil sitzt. Es ist oft genug ein Vor-Urteil. Im Hintergrund schwingt eine Melange von Attributen und Eigenschaften mit, die man nicht mehr einzeln benennen muss, da sie mitgemeint ist bzw. zum Konnotationsumfeld gehört, wie man in der Linguistik sagen würde. Beim „Nafri“ sind das Attribute wie aggressiv, hochfahrend, Drogendealer, Messerstecher, Vergewaltiger und einiges mehr. Wer dieses Bedeutungsumfeld aktiv bedient wie seinerzeit Alice Weidel im Bundestag mit ihren „alimentierten Messermännern“, der und die darf ohne Zögern als Rassist:in bezeichnet werden.

Bei „den Juden“ ist es nicht viel anders. Zum antisemitischen Konnotationsumfeld gehört charakteristischerweise, dass „den Juden“ eine Neigung zu Verschwörungen angedichtet wird. Auch beherrschen sie die Weltwirtschaft oder wenigstens die US-Politik und streben nach der Weltherrschaft. Sie sind Wucherer und Parasiten und haben eine eigenwillige, elitäre Religion sowie enge Gruppenbeziehungen, durch die sie einander an die Spitze helfen, und halten sich für auserwählt. Das alles pauschal auf alle Juden bezogen ist Antisemitismus. Der kann mehr oder weniger offen auftreten und ist manchmal alles andere als leicht zu erkennen. Unter anderen hat sich FR-Kolumnistin Aneta Kahane, die Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung, der Aufklärung und dem Kampf gegen Antisemitismus verschrieben, zum Beispiel in ihrem Text „Antisemitismus: Israel wird zum Ventil für Judenhass“.

So entsteht das Problem, dass es eine Schnittmenge gibt zwischen dem Eintreten für die Rechte der Palästinenser bzw. der Sympathie für ihren Befreiungskampf auf der einen Seite und Antisemitismus auf der anderen, denn laut Antisemitismusdefiniton der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) kann auch der Staat Israel Ziel solcher antisemitischen Angriffe sein. Diese Definition lautet:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“

Die Crux, man ahnt es schon, liegt dabei in der problematischen Passage vom jüdischen Kollektiv. Wer will denn entscheiden können bzw. wie soll entschieden werden, ob jemand, die/der sich kritisch über die israelische Politik äußert, den Staat Israel als jüdisches Kollektiv versteht? Wie tief müsste man dafür in die Köpfe hineinsehen können? Das ist schlicht nicht möglich. Damit ist diese Definition nicht alltagstauglich. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die Macher dieser Definition müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, Kritik am Staat Israel generell mit dem Etikett „antisemitisch“ behaften und damit erschweren zu wollen und dass sie also ihrerseits eine Methode des Rassismus anwenden: Sie verhängen ein pauschales Urteil. Verkürzt gesagt: Wer Israel kritisiert, kann Antisemit:in sein. Und daraus wird natürlich in der Zuspitzung, wie sie in solchen Auseinandersetzungen zwangsläufig passieren: Wer Israel kritisiert, ist Antisemit:in. Mit der ebenso erwartbaren wie unschönen Pointe, dass also viele Juden und Jüdinnen zu Antisemiten erklärt werden können, da sie die Politik des Staates Israel bzw. seiner Regierung kritisieren. Dagegen wenden sich die Autor:innen der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus, zu deren Unterzeichnern auch Professor Micha Brumlik gehört, der regelmäßig in der FR veröffentlicht, zuletzt den Artikel „Antisemitismus: Diskussion über die Jerusalem Declaration„.

Uwe BeckerIm Streit der Intellektuellen droht das Problem unterzugehen, dass Antisemitismus auch in Deutschland ein weit verbreitetes Problem ist. Es gibt dafür einen eigenen Beauftragten der Bundesregierung, und auch das Land Hessen hat einen Antisemitismusbeauftragten, nämlich den bisherigen Kämmerer der Stadt Frankfurt Uwe Becker (CDU), der, so hat es den Anschein, die ganze Debatte am liebsten mit einem Schlag beenden würde. Er hat durchgesetzt, dass Veranstaltungen in Frankfurt abgesagt wurden, sobald daran Vertreter:innen bzw. Sympathisant:innen der BDS-Bewegung zu Wort kommen sollten (BDS: Boycott, Divestment und Sanctions). FR-Redakteur Georg Leppert schreibt im Zusammenhang mit der jüngsten Eskalation im Nahen Osten über Becker:

„Als Außenminister Heiko Maas (SPD) auf Twitter „beide Seiten“ aufforderte, „diese wirklich explosive Lage zu entschärfen“, sprach Becker von einem „völlig inakzeptablen Kommentar“ und schrieb zurück: „Vielleicht können die israelischen Familien im Süden des Landes gerade nichts zur ,Deeskalation‘ beitragen, weil sie mit ihren traumatisierten Kindern in Schutzräumen um ihre Gesundheit und ihr Leben fürchten.“ Und auch über Eintracht-Spieler Amin Younes äußerte sich Becker. Younes hatte das Foto eines Palästinensers mit Fahne in der Jerusalemer Altstadt vor heranrückenden israelischen Soldaten veröffentlicht und dazu geschrieben: „Möge Allah mit Dir sein!“. Becker nannte solche Veröffentlichungen ebenfalls „inakzeptabel“ und forderte die Vereinsführung der Eintracht auf, das Gespräch mit dem Spieler zu suchen. Das geschah dann auch.“

Das zeigt vor allem eines: dass die Lage mal wieder angespannt ist. Und dass ein Ausweg für den Nahen Osten nicht in Sicht ist. Aber zumindest für den Diskurs in Deutschland könnten wir etwas versuchen. Dazu müsste allerdings Uwe Becker mal den Mund halten (was nicht zu erwarten ist). Die Versuchsanordnung ist prinzipiell ganz einfach: Wir treten einen Schritt zurück aus der aufgeheizten Situation, also dahin, wo es etwas kühler ist, und bemühen uns dann, im Gegenüber zuallererst einen Menschen zu sehen. Ein Individuum. Nicht einen Feind. Dabei vergessen wir nicht, dass er wohl Kontrahent bleiben wird, aber diesen Gedanken schieben wir mal kurz beiseite und denken darüber nach, wie es uns gelingen könnte, diesen Menschen zu respektieren. Wollen nicht auch wir respektiert werden? So wie wir sind? Warum sind wir dann so leicht bereit, dem Anderen pauschale Urteile anzuheften? Weil es uns die Auseinandersetzung erleichtert? Weil es einfacher ist, mit jemandem zu streiten, den wir abwerten? Immerhin streiten wir. Das ist positiv zu sehen, auch wenn Streit nicht zwangsläufig konstruktiv ist. Wer in einen solchen Streit von vornherein mit der Haltung eintritt, dass er sowieso recht hat, sollte lieber wegbleiben. Es gibt immer (mindestens) zwei Seiten. Einseitig positioniert sich nur, wer es sich einfach machen will, weil es ihm an Empathie fehlt. Mehr Empathie, das wäre ein Segen für die Welt.

fr-debatteDie Interessen beider Seiten sind ernst zu nehmen

Mit einiger Verwunderung habe ich Äußerungen des hessischen Landesbeauftragten gegen Antisemitismus, Uwe Becker, zur aktuellen Eskalation des israelisch-palestinensischen Konfliktes zur Kenntnis genommen. Dieser wie folgt: einem deutschen Außenminister, der über Twitter die beiden Konfliktparteien (also Hamas und die israelische Regierung) dazu auffordert, „diese wirklich explosive Lage zu entschärfen“ oder aber einen arabisch-stämmigen Fussballspieler der Frankfurter Eintracht, der aus seiner Solidarität mit der palestinensischen Sache aus seinem Herzen keine Mördergrube macht, beide als inakzeptable Reaktionen darzustellen, dem ist, gerade als Politiker, ein ausgewogenes Grundverständnis für den seit 1948 schwelenden Konflikt abhanden gekommen. Jeder am Nahen Osten Interessierte wird in der Auseinandersetzung zweier Völker um das gleiche Land eine Grundhaltung beziehen, die mit jeweils rationalen Argumenten belegbar ist und die nicht sofort als antisemitisch oder zionistisch diffamiert werden sollte. Es ist gerade die Aufgabe eines Außenministers, in einem nahezu unlösbaren Konflikt eine differenzierte Position einzunehmen und dazu beizutragen, dass die Interessen sowohl der Israelis wie auch der Palestinenser ernst genommen werden.
Als Mangel an Empathie würde ich angesichts des asymmetrischen Kräfteverhältnisses zwischen beiden Parteien ein einseitige Verständnis für israelische Familien und ihre traumatisierten Kinder, die in Schutzräumen um ihr Leben vor Hamas-Raketen fürchten müssen, ansehen aber andererseits die täglichen Traumata der palestinensichen Bevölkerung in Gaza wie auch im Westjordanland als unvermeidbare Kollateralschäden israelischer Siedlungspolitik hinnehmen. Vielleicht würde es Herrn Becker anstehen, sich Gedanken über die warmen und empathischen Worte von einem Unverdächtigen wie Daniel Barenboim zu machen, die da lauten: „jüdisches Blut fließt in meinen Venen, mein Herz schlägt für die palestinensische Seite“. Für einen Politiker, der sich mit dem Gedanken trägt, sich als Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt zu bewerben, eine durchaus zumutbare Aufforderung.

Jörg Müller, Frankfurt

fr-debatteVertreibung als Ausdruck christlich-jüdischer Werte?

Der Antisemitismusbauftragte Uwe Becker äußert sich in bekannter Weise anläßlich des Nakbatages. So wie alle Jahre wieder , und verteidigt an Völkerrecht, Menschenrechten und und den Leitlinien des Grundgesetzes vorbei die israelische Politik. Als wäre die Vertreibung und Entrechtung und Enteignung der Palästinenser aus ihrem Land ein Ausdruck christlich-jüdischer Werte oder lediglich Verteidigung der Geschundenen dieser Welt, die in Israel ihre Heimat gefunden haben , indem sie den dortlebenden ihre Heimat nahmen.
Ein Blick in das israelische Staatsarchiv und die Dokumente des israelischen Mlitärs genügt, um die früh geplante und pausenlos konsequent durchgeführte ethnische Säuberung nachzuvollziehen. Gegen die sich ja auch viele Israelis und viele Juden unter ihnen zu Recht wenden. Bis heute hat er weder die Westbank noch Gaza besucht,. Und zum Beispiel auch nicht Abed Shokry zugehört.

Eva Renate Marx-Mollière, Mainz

fr-debatteDifferenzieren fällt in der Praxis häufig schwer

Ja, Frau Kahane hat recht, es ist vieles falsch und kaputt an der Situation um den Konflikt zwischen Israel und Palästinensern. Und natürlich ist es unsäglich wenn jetzt mit antisemitischen Parolen und Spruchbändern auf die Straße und vor Synagogen aufgezogen wird. Daran kann und will ich mich nicht beteiligen, das ist Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Ich arbeite seit Jahren in der Geflüchtetenhilfe und habe auch dort mit judenfeindlichen Standpunkten zu tun, speziell bei Geflüchteten muslimischen Glaubens und aus dem arabischen Raum. Zwischen Antisemitismus und berechtigter Kritik an der Politik des israelischen Staates zu differenzieren fällt gerade dort sehr schwer. Und es wird nicht leichter, wenn große Teile unserer Medien sich einseitig auf die Seite Israels stellen. Es gibt derzeit Tote, und darunter viele Zivilisten, speziell auch Frauen und Kinder, auf beiden Seiten. Wobei das Zahlenverhältnis sehr ungleich ist, in Israel im kleinen 2-stelligen Bereich während die Zahlen im Gaza-Streifen an die 200 gehen. Das wird von beiden Seiten in Kauf genommen, Israel will damit abschrecken und die Hamas den vorhandenen Hass verfestigen. Aber ist ein palästinensisches Kind weniger wert als ein israelisches? Und es ist ein Teufelskreis der sich bereits oft wiederholt hat, d.h. es funktioniert nicht, zumindest nicht in Richtung einer Befriedung und Lösung des Konfliktes. Offenbar gibt es gewaltige Interessen, diesen Konflikt zu erhalten, und das auf beiden Seiten.
Die Hamas und Netanjahu scheinen mir da durchaus gemeinsame Interessen zu haben und die Toten des Konfliktes für ihre Politik zu instrumentalisieren. Normalerweise würde ich bei so etwas auf die Straße gehen, aber ich will mich weder mit Antisemiten noch mit bedingungslosen Anhängern Israels gemein machen. Also tatsächlich vieles falsch und kaputt, wobei meine Befindlichkeit das geringste Problem ist.

Jochim Maack, Hamburg

fr-debatte

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21 Kommentare zu “Antisemitismus: Einseitig positioniert sich nur, wem es an Empathie fehlt

  1. Seit Tagen höre ich in den Medien, dass Antisemitismus in Deutschland wächst und die Antisemiten bestraft werden müssen. ich hörte aber bis jetzt noch von keinem eine geringere Kritik an die israelischen Regierung oder eine geringere Empathie für palästinensische Zivilbevölkerung. Ich bin der Meinung, dass diese Atmosphäre in Deutschland den jüdischen Bevölkerung mehr schadet als nutzt. Es bringt mehr Spaltung und Hass sowohl gegen Mosleme als auch gegen Juden.
    Da ich für eine gerechte und gleichberechtigte Gesellschaft bin, merke ich, dass die Gerechtigkeits- Waage wackelt. Ich wünschte mir, das mindestens eine/r von PolitikerInnen sich unparteiisch in das Bereich zeigen würde und die Situation den Zivilbevölkerung in Palästina verstünde.
    Stellen Sie sich vor: Sie lebten seit 1962 in einem Haus, in dem hängte Ihre ganze Identität und Geschichte, plötzlich steht jemand da, der sogar aus Amerika kommt , nicht aus Israel , er behauptet , dass dieses Haus Ihm gehöre. Was würden Sie tun? Was würden Sie tun, wenn Ihr Land besetzt wird, obwohl Sie an die Massenmord an den Juden in Deutschland nicht beteiligt waren. Man/Frau redet in Deutschland nur von Palästinensischen Regierung und seine verbündeten, aber nicht von der Politik Israels und seine verbündeten.
    Ich empfinde den Holocaust in Deutschland als grausamstes Ereignis der Weltgeschichte, die wir Deutschen nie vergessen werden, deswegen dürfen wir nicht anderes unrecht vernachlässigen und hinnehmmen.
    Das kann sein, dass Deutschland ein Rechtsstaat ist, seit NSU und der gescheiterte juristischen Aufheiterung hat man/Frau zweifel, aber es ist nicht unbedingt ein gerechtes Land. Ich hoffe, dass sich des ändert.

    Mit freundlichen Grüßen
    Pourandokht Maleki

  2. Die Beiträge und Texte von Stephan Hebel in der FR schätze ich meistens sehr, so auch dem Leitartikel vom 18.5., in dem er unter Beweis stellt, dass er zu differenzieren vermag.
    Beim „Existenzrecht Israels“ differenziert er mir zu wenig. Was heißt „Israels Existenzrecht unmissverständlich anerkennen“ bzw. welches Israel ist gemeint? Ist es das Israel auf dem Territorium, das der UNO-Teilungsbeschluss von 1947 den Juden zugewiesen hat?
    Oder das Israel nach der Staatsgründung 1948 und dem anschließenden Krieg mit Flucht und Vertreibung von 750 000 Palästinensern und erheblichem Flächenzugewinn? Oder das Israel nach dem 6-Tage-Krieg? Ein Israel inclusive der zahlreichen jüdischen Siedlungen im Westjordanland und Jerusalem? Oder ein Israel, nachdem es die erklärte Absicht umgesetzt hat, weitere Teile des Westjordanlandes zu annektieren?
    Sicherlich trifft es auch zu, dass das ungeheuerliche Verbrechen der Nazis und ihrer Helfershelfer an den Juden zur schließlichen Staatsgründung Israels erheblich beigetragen hat. Die zionistische Bewegung, die die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina anstrebte, gab es aber schon lange vor den Nazis.
    Trotz aller in der damaligen und darauf folgenden schrecklichen historischen Situation liegenden guten Gründe für die Errichtung einer „nationalen Heimstätte für das jüdische Volk“ in Palästina, wie es in der „Balfour-Daklaration“ von 1917 schwammig formuliert und befürwortet und später in der Gründung des Staates Israel realisiert wurde, kann eine Tatsache nicht ignoriert werden. Die Tatsache, dass Vorgeschichte, Gründung und Entwicklung des Staates Israel eben auch ein siedlerkolonialistisches Unternehmen darstellt; zum Nachteil der ursprünglich im Lande lebenden Bevölkerung.
    Deshalb kann das Existenzrecht der Palästinenser, egal wie es sich manifestieren könnte, nicht miderwertig gegenüber dem Existenzrecht Israels sein. Das wird gerne übersehen, wenn vom Existenzrecht Israels gesprochen wird.
    Zu erörtern, wie eine Lösung dieses scheinbar unlösbaren Konflikts zustande kommen könnte, würde an dieser Stelle wohl zu weit führen.
    Es sei aber ein Satz angefügt, den Wolf Iro in seinem Feuilleton-Artikel „Warum sich nichts bewegt“ in der FR vom 12. Mai zitiert: „Solange die Palästinenser kein Zuhause haben, werden auch die Israelis keines haben.“

  3. Stephan Hebel trifft in seinem Leitartikel den Nagel auf den Kopf. In der Kritik an der Regierung Israels die Existenz des Staates Israel grundsätzlich anzuerkennen und zu befürworten; Differenzierung zwischen der Regierung und der Masse der Bevölkerung in Israel; Verwendung einheitlicher Standards! Doch wenn Gerechtigkeit unteilbar ist, muss man diese Standards auch umkehren. In der Positionierung gegen Antisemitismus braucht Kritik ebenfalls Regeln: Keine Ignoranz der gleich in Serie begangenen Verstöße gegen das Völkerrecht und Beschlüsse der UNO durch die Regierung Israels; null Toleranz gegen die Vertreibung von Palästinensern aus Land und Wohnungen; keine doppelten Standards in den Lehren aus der deutschen Geschichte.

  4. Wäre ich jung und lebte in Gaza (Gendering umschifft), dächte ich etwa so: Zu verlieren habe ich nichts, Zukunft habe ich keine, wie soll die aussehen? Böllerei hab ich gerne, damit mal was los ist, und Raketen sind genug da. Mir doch egal, wo die herkommen. Wen sie treffen, weiß ich nicht. Morgen kann ich auch tot sein. Klar, drüben gibt es auch viele Menschen, die wahrscheinlich richtig nett sind, vielleicht sogar ganz viele. Oder die meisten. Aber zu sagen haben die auch nicht viel gegen die da oben, die bestimmen. Wie bei uns. Was sie bestimmen, wie und warum – keine Ahnung, aber es fühlt sich falsch an.

  5. Kampf gegen Antisemitismus und Palästinasolidarität – geht das zusammen ? (Zu:Thema des Tages FR 21.5.21) Ja, das geht zusammen.
    Als Tochter eines Antifaschisten, der Zuchthaus und KZ überlebt hat, setze ich mich seit meiner Jugend gegen Rassismus und Antisemitismus ein. Es ist schockierend, wenn unsere jüdischen Mitbürger in unserem Land angefeindet oder angegriffen werden. Das darf nicht sein.
    Durch meinen palästinensischen Ehemann habe ich das Heilige Land Israel/Palästina seit Jahrzehnten kennen und lieben gelernt. Ich fordere bei jeder Gelegenheit die Solidarität mit den PalästinenserInnen ein, auch im Interesse der jüdischen Menschen in Israel. Mit Fassungslosigkeit frage ich mich, wieso alltägliche Menschenrechtsverletzungen, Apartheid, Rassismus und die Gewalt der dauerhaften israelischen militärischen Besatzung in der deutschen Öffentlichkeit noch nicht einmal dann Teil der Debatte werden, wenn es zu schweren kriegerischen Handlungen kommt.
    Die berechtigte Solidarität mit der unterdrückten palästinensischen Gesellschaft sollte nicht als antisemitisch diffamiert werden. Dies ist nicht nur undemokratisch, sondern auch kontraproduktiv. Sollten wir aus historischer Sicht nicht zu den Entrechteten stehen?

  6. Seit dem beiderseitigen Bombardement Israels und Palästinas wird in der Öffentlickeit immer wieder die Begriffe „Staat Israel“ und „Judentum“ in einen Topf geworfen. Wenn man gegen die Aggressionspolitik Israels (auch wenn die Hamas wohl mit dem Bombardement begonnen hat) ist, ist man dann automatisch Antisemit. Das zeigt auch Ihre Bildunterschrift auf S. F2 vom 21.5.). Ich war mit einer Jüdin verheiratet und bin der jüdischen Religion und Kultur sehr nahestehend. Ich würde einem Juden bei Anfeindungen in der Öffentichkeit jederzeit zur Seite stehen. Ich begrüße aber sehr das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser auf einen freien (!) eigenen Staat. Ich bin dann wohl ein Antisemit?

  7. Nach den Ausschreitungen auf dem Tempelberg mit dem Felsendom und der Al-Aksa Moschee in Jerusalem und den folgenden Raketenangriffen der Hamas aus dem Gazastreifen auf israelische Städte, ist die Lage im Nahost-Konflikt wieder auf einem vorkriegsähnlichen Zustand.
    Wenn dann ein Bundesaußenminister Heiko Maas jetzt diese Raketenangriffe der Palästinenser scharf verurteilt und auf das Recht Israels auf Selbstverteidigung hinweist, was formal berechtigt ist, so zeigt das aber auch die Unfähigkeit Deutschlands und des europäischen Westens insgesamt, dieser Dauerkrise politisch ernsthaft zu begegnen. Denn dass dieser Konflikt schier unlösbar geworden ist, ist auch ein Versäumnis Europas und der westlichen Verbündeten.
    Es können nicht nur die militärischen Schläge der Hamas verurteilt werden und andererseits ist die internationale Kritik an der diskriminierenden Politik Israels gegenüber der palästinensischen Bevölkerung in Ost-Jerusalem, in der Westbank, seit Ewigkeiten ein laues Lüftchen oder fällt ganz unter den Tisch.
    Die Häuser-Zerstörungen und Räumungen von palästinensischen Familien durch radikale Siedler, mit Unterstützung der israelischen Behörden und überhaupt die reaktionäre Siedlerpolitik, bestimmen schon seit Jahren das entzündbare Klima der Menschen im arabischen Ostteil Jerusalems. Hinzu kommen noch die eingeschränkten Bürgerrechte der Palästinenser dort, seit dem Sechstagekrieg 1967 (siehe auch Kommentar Inge Günther). Von der auch Menschen rechtlich unmöglichen Situation im Gazastreifen
    Das kann so nicht weitergehen und wenn es zum erneuten Krieg kommen sollte, so ist die politische Verantwortung dafür auch beim europäischen Westen zu suchen. Diese Zurückhaltung gegenüber der gesellschaftsspaltenden Politik Israels ist nicht zu akzeptieren. Außerdem brauchen wir sowas wie ein 2. Oslo-Abkommen (1993), also ein Abkommen zwischen Palästinensern und Israel zur Lösung des Nahostkonflikts. Nicht zu vergessen die USA, die „rasch eine Neujustierung der Nahost-Politik vornehmen muss.“ (SZ 10. Mai)
    Der Tempelberg in Jerusalem, der für Juden wie Muslime von zentraler religiöser Bedeutung ist, ist ebenso von zentraler Bedeutung für einen Frieden. Passiert dahingehend keine Lösung, dann bleibt es eine Nahost-Tragödie ohne Ende, ein hoffnungsloser Dauerkonflikt. Und die Frage, ob ein neuer Krieg ausbrechen könnte (Inge Günther), die wird sich bald nicht mehr stellen. Vor allem auch so lange Netanjahu noch am Ruder ist.

  8. @ Jürgen Malyssek, @ Bronski

    Lieber Herr Malyssek,

    schön, dass Sie hier das 2. Oslo-Abkommen (1993) erwähnen. Und ich möchte einen Namen hinzufügen: Jitzchak Rabin und ein Zeugnis seiner Witwe, Leah Rabin auf „Wikipedia“: „Jitzchak und ich bekamen diese Schmähungen, diese Vergleiche mit faschistischen Unmenschen immer häufiger zu hören, je mehr der Friedensprozess an Dynamik gewann. Auf einer Demonstration in Jerusalem einen Monat zuvor hielt Benjamin Netanjahu am Zionsplatz eine Rede, während irgendjemand ganz in seiner Nähe ein Bild, das Jitzchak in Naziuniform zeigte, vor einer laufenden Fernsehkamera hin- und herschwenkte.“

    Um es zynisch auszudrücken: Damit machen wir uns schon verdächtig.
    Denn es geht ja gar nicht um „Israel-Kritik“, sondern darum, dass wir ein Tabu brechen, nach dem nicht daran zu erinnern ist, dass es bereits einen durchaus erfolgversprechenden Friedensprozess gab, und schon gar nicht der Name des Israelis zu nennen ist, der diesen initiierte, und um Gottes willen nicht zu erwähnen ist, welchen Verfolgungen er durch Anhänger seines Nachfolgers ausgesetzt war.

    Nur meine ich, dass Sie es sich zu einfach machen, wenn Sie pauschal auf „die Unfähigkeit Deutschlands und des europäischen Westens insgesamt“ verweisen. Man muss da schon Ross und Reiter nennen.
    Z.B. einen „Antisemitismus“-Beauftragten Uwe Becker, den Bronski eingangs zitiert, der eine Aufforderung von Heiko Maas „an beide Seiten (…). diese wirklich explosive Lage zu entschärfen“, als „völlig inakzeptablen Kommentar“ bezeichnet. Mit dem – also bildlich gesprochen – der Bock zum Gärtner gemacht wurde.
    Ein ganz ähnlicher Kommentar von mir in der FR zu eben dem Artikel wurde „removed“ (https://www.fr.de/frankfurt/uwe-becker-zwischen-enttaeuschung-und-kampfeslust-90578718.html#idAnchComments).
    Unnötig auszuführen, was unter solchen Vorzeichen von diesem „Antisemitismus“-Beauftragten unter „Israel-Solidarität“ verstanden wird. Und da geht es wohl weniger um „Unfähigkeit“.

    Und die Antwort eines anderen Scharfmachers, einem Kommentator, der schon seit Jahren in der FR provoziert und mit „Antisemitismus“-Verdächtigungen nur so um sich schmeißt, auf meine Erwähnung des Oslo-Friedensprozesses lautet: „Wohin dieser Friedensprozess geführt hat, das sehen wir in Gaza.“
    (https://www.fr.de/politik/das-dilemma-arabischer-laender-nach-den-abkommen-mit-israel-zr-90657915.html#idAnchComments)
    Mit anderen Worten: Der Ermordete ist schuld, wenn über 25 Jahre danach unter seinem Nachfolger die Lage wieder explodiert.
    Der genannte User kennzeichnet seine Einstellung zu dem Konflikt selbst wie folgt:
    „Dieser Konflikt begann im Jahr 628 n. Chr. und ich weiß nicht aus welchem Grund er ausgerechnet jetzt zu Ende gehen sollte.“ (ebd.)
    Und an anderer Stelle äußert er als einzige Kritik an Netanjahu, dass er „keine Bodentruppen eingesetzt hat“.

  9. @ Werner Engelmann

    Lieber Herr Engelmann, Sie haben bestimmt recht, dass es etwas kurz gekommen ist, mit meiner Kritik am Versagen der Nahostpolitik. Es ist halt nur eine Leserbrieffassung und mit der Unfähigkeit Deutschlands ist es schon ernst gemeint. Ich weiß, dass Deutschland durch die eigene Geschichte da in einem gewissen Dilemma steckt. Aber das was eine Freundschaft zum Staate Israel ausmacht, kann nun wahrlich nicht in diesen ständig lautenden Bekenntnissen enden. Deshalb habe ich Heiko Maas und sein Statement (das war nach den ersten Raketenangriffen der Hamas) genannt. Das war ja nun wirklich nichts, was er da von sich gelassen hatte. Für den diplomatischen Dienst ausreichend, aber nicht als Außenminister. Da war damals der Sigmar Gabriel als Außenminister mutiger und klarer nach seinem Israelbesuch (das Jahr habe ich jetzt nich abrufbar): Überhaupt dieses ständige Vor-sich-hertragen der Staatsräson. Bei aller Liebe, aber eine Freundschaft und Solidarität muss eine bisschen mehr aushalten und hergeben!
    Das habe ich alles schon in früheren Kommentaren gesagt. Ich war inzwischen drei Mal in Israel/Palästina und habe dieses Elend der Flüchtlingsquartiere und -häuser der Pälästinenser gesehen, und die Zerstörung der Häuser in Ostjerusalem und Umgebung, die Problematik des Tempelberges, Hebron, Golanhöhen, usw. Da muss man sich nicht wundern, wenn die Hamas das alles für sich nutzt, um ihre Machtstellung zu behaupten.
    Andererseits gibt es so viele Modelle des friedlichen Zusammenlebens von Arabern und Juden, die idealistisch gedacht allemal zu einer Ein-Staaten-Lösung gereichen könnten, wenn die Politik das nun wollte. Aber es geht um die reine Macht, bis hin zur Macht über das Wasser, ganz abgesehen von den religiösen Ansprüchen auf Land und Heilige Plätze.

    Mit Ross und Reiter ist – Europa fällt nahezu aus – meine ich vor allem die USA. Ohne geht es nicht, deshalb habe ich auch das alte Oslo-Abkommen genannt, das war wirklich eine große Hoffnung. Und dann ging alles schief. Der Mord an Rabin war eine Katastrophe (Sie haben es beschrieben).

    Bei mir bleibt es bei mir weiterhin an der Kritik an der Politik Israels und dem fehlenden Mut der westlichen Nationen, Tacheles zu reden.

    Ich sehe nur noch die USA, die vielleicht, qua ihres politischen und wirtschaftlichen Einflusses auf Israel, da die Zügel wieder in die Hand nimmt. Und vielleicht einen Weg findet, den verlorengegangenen Friedensprozess der letzten 25 Jahre wieder aufzunehmen?
    Biden scheint zumindest den Ernst der Lage erkannt zu haben.
    Wie es in Israel nach dem politischen Machtverlust von Netanjahu weitergeht, das kann man jetzt überhaupt nicht sagen. Es muss nicht besser werden.

    Die Antisemitismus-Vorwürfe an die Kritiker der Politik Israels werden leider weiterhin ein großes Hindernis sein, ernsthaft auf einen Weg des Nahostfriedens zu kommen. Es sind damit zu viele Nebenkriegsschauplätze an Stellen, die lieber mal schweigen sollten. Aber das wird nicht passieren.

    Leider ist in diesem gewaltigen Strom der vielen Empörungs- und Hasstiraden bzw. Gewaltausbrüche seit der Pandemie-Krise, der Antisemitismus wieder voll an die Oberfläche der Gesellschaft gelangt. Und davor kann sich wirklich fürchten. Das macht die Lenkung auf das politische Problem im Heiligen Land auch nicht besser. Wieder die nächste Scheuklappe, die nächste Barrikade, die Lösungen unmöglich macht.

  10. Jüdinnen und Juden in Deutschland werden gerade mit antisemitischem Hass überzogen und immer wieder auch körperlich angegriffen, es gibt Brandanschläge gegen Synagogen. Und worüber wird hier diskutiert? Über den Nahostkonflikt. Nicht der Antisemitismus scheint den Diskutanten das Problem zu sein, sondern der „Antisemitismusvorwurf“ gegen Israelkritik.
    Als Quelle des Problems identifiziert Bronsky die Arbeitsdefinition des Antisemitismus der IHRA, nach der auch Kritik an Israel antisemitisch sein kann, und verweist dabei auf die Gegenposition der „Jerusalem Declaration“. Nun enthält auch diese neue Antisemitismusdefinition je fünf Beispielen für Äußerungen zu Israel und Palästina, die „als solche antisemitisch“ beziehungsweise „nicht per se antisemitisch sind“. Dass es „israelbezogenen Antisemitismus“ gibt, ist unstrittig, auch wenn man im Einzelfall darüber streiten kann, ob die rote Linie zum Antisemitismus überschritten wurde. Im Übrigen lässt sich meiner Meinung nach auch mit den Kriterien der „Jerusalem Declaration“ begründen, dass die BDS-Bewegung antisemitisch ist (siehe dazu https://www.hagalil.com/2021/04/jerusalem-erklaerung/).
    Natürlich „darf“ man in Deutschland Israel kritisieren; dies geschieht regelmäßig zum Beispiel in der FR, dem Spiegel, der Süddeutschen Zeitung und auch im FR-Blog. Man darf aber auch die Kritik kritisieren.

  11. Lieber Herr Malyssek,
    Zunächst stimme ich Ihnen zu. Doch Sie scheinen das, worum es mir geht, nicht recht verstanden zu haben. Und es wäre schade, das so stehen zu lassen.

    Zunächst: Ich war selbst nie in Palästina, vertraue da aber Zeugnissen, die mir glaubwürdig erscheinen so wie Ihren. Betr. konkreter politischer Einschätzungen halte ich mich aber lieber zurück, beschränke mich auf das, was von Bronski zurecht dem Thread vorangestellt worden ist: die Bedeutung von Empathie mit Schwächeren und den unseligen Umgang mit dem Begriff „Antisemitismus“.
    Das Problem zuerst auf der politischen Ebene, insbesondere betr. die Bundesregierung zu verorten, halte ich für unglücklich. In Anbetracht der Geschichte und der besonderen Umstände ist eine grundsätzlich anderer Umgang mit Israel auf diplomatischer Ebene wohl kaum machbar oder verantwortbar.
    Worum es mir geht, ist die Frage des gesellschaftlichen Klimas, das gegenwärtig in diesem Zusammenhang geschaffen wird.

    Und damit bin ich beim „Antisemitismus“-Begriff.
    Der dient ja nicht – und da sind wir uns vermutlich schnell einig – der Bekämpfung von wirklichem Antisemitismus (etwa in Form von Ausschreitungen gegen Juden), den es natürlich gibt und dem selbstverständlich entschieden entgegen zu treten ist. Denn dazu bedarf es einer solchen „Definition“ gar nicht.
    Bronski hat in der Einführung das entscheidende Problem ja richtig benannt:
    „Das ist das Problem mit allen diesen Einsortierungen: Das Urteil sitzt. Es ist oft genug ein Vor-Urteil. (…) Die Crux, man ahnt es schon, liegt dabei in der problematischen Passage vom jüdischen Kollektiv. (…) Wie tief müsste man dafür in die Köpfe hineinsehen können? Das ist schlicht nicht möglich. Damit ist diese Definition nicht alltagstauglich.“

    Lassen Sie mich ausführen, was mir aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen da durch den Kopf geht.
    Ich habe die Auswirkungen von systematischen Verdächtigungen und Gesinnungsschnüffelei im breitesten Maß, die man mit dem Begriff „Radikalenerlass“ verbindet, selbst hautnah erlebt. Die juristische „Absicherung“ dessen, was ich lieber Mc.Cartyismus nenne, erfolgte in Form der Verschiebung eines zentralen juristischen Begriffs, der „Verfassungswidrigkeit“ (juristisch klar erfassbar) auf eine diffuse, gar nicht fassbare und somit der Interpretations-Willkür von Administrationen ausgesetzten Ebene, der Deutung einer Gesinnung zur Grundlage macht: dem Begriff der „Verfassungsfeindlichkeit“.
    Die Analogie zu einem eben solchen Vorgang wird von Bronski richtig herausgestellt.

    Und lassen Sie mich bei der Gelegenheit schildern, was das für Hunderttausende von Bewerbern für den Staatsdienst, unter anderem mich, bedeutete.
    Ich hatte den stellvertretenden Schulsenator ja direkt vor mir, über drei Stunden lang, im vollen Bewusstsein, dass der mir feindlich gegenüber Sitzende über mein berufliches Schicksal entscheiden wird.
    Ein Bild, das sich wieder einstellt, wenn ich die unsäglichen, von Dogmatismus und Arroganz der Macht strotzenden Äußerungen eines Uwe Becker lese.
    Was mich in diesem entscheidenden Moment davor bewahrt hat, künftig mit gebrochenem Rückgrat durchs Leben zu laufen (wie ich es bei manchen, auch mir gut bekannten Menschen erlebt habe, die dem Druck nicht stand gehalten haben), das war eine einfache, aber sehr präzise Wahrnehmung: dir gegenüber sitzt ein Psychopath, der schon beim Namen Marx zu zittern beginnt. Und meine feste Entschlossenheit: Einem solchen Kerl beugst du dich nicht!
    Es spricht für die trotz allem noch weitgehend gegebenen rechtsstaatlichen Verhältnisse, dass dann doch nicht eintrat, womit ich mit der Weigerung, mich auf eine erpresste parteipolitische Festlegung einzulassen (konkret: Verurteilung, die fortlaufende Erpressung ermöglicht und Selbstzensur bewirkt hätte), fest gerechnet hatte: dass damit meine berufliche Laufbahn besiegelt war.

    Soviel um zu veranschaulichen, welche Gefühle sich einstellen können, wenn man zu Unrecht verdächtigt wird. Und eben das trifft auch bei vielen des „Antisemitismus“ Verdächtigten zu. Es ist ja nichts Neues hinzugekommen, was die sehr zutreffende Analyse von Moshe Zuckermann, „‚Antisemit!‘ – ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument“ in Frage stellen würde. Im Gegenteil, es hat sich nur noch verschärft. Und die von Hass getriebenen Tiraden eines Uwe Becker, die verordnete Unterwerfung unter vorgegebene Herrschaftsausübung zum Ziel haben, zeugen davon ebenso wie die von mir angeführten Zitate.

    Ohne die Analogie zu weit treiben zu wollen: Ich meine, dass es hier sehr wohl auch darum geht, Gesinnung im Sinne der Verfügbarkeit für politische Interessen zu steuern, eine natürliche Empathie mit Menschen auszutreiben, die sich in Not befinden (ob selbst verschuldet oder nicht), weil diese der Durchsetzung machtpolitischer Interessen entgegen steht.
    Für solche Tendenzen im zivilen Umgang habe ich auch Belege. Etwa die mehrfache Zensur meiner Beiträgen (zurückgenommen nach meinem entschiedenen Protest), die im Prinzip nichts anderes verfolgten als die Anwendung der Moral des Judenfreunds Lessing , bezogen auf die Situation des Aufeinandertreffens dreier dogmatischer Weltreligionen („Nathan der Weise“, Zeit der Kreuzzüge): der Forderung, von einem absolut gesetzten eigenen Wahrheitsanspruch Abstand zu nehmen als Voraussetzung für jeden irgendwie gearteten Friedensprozess – eben im Sinne der Entdeckung und Entfaltung allgemein menschlicher Empathie.

    In diesem Sinne halte ich es auch für sehr wichtig, immer wieder auf Zeugnisse dieser Art hinzuweisen, etwa eines Jitzhak Rabin, welche den Dogmatismus in Frage stellen, der unbedingte Durchsetzung eigener Sicht und Machtansprüche verfolgt.
    Das heißt aber auch, auf den Entwurf vermeintlicher weltpolitischer „Lösungen“ zu verzichten und mit kleinen Schritten zu beginnen.

  12. @ Herr Engelmann, Herr Malyssek

    Herr Becker, sagt doch eigentlich nur,
    das Terroristen wie die Hamas nicht als Verhandlungspartner eines Staates wie Israel möglich sind.Im Gegensatz zu Heiko Maas.

    Krieg führen die Juden um das heilige Land.Krieg führen die Palästinenser um das heilige Land.
    Die Palästinenser habes es schon dutzende Male versucht, die Weltöffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen.
    Die Palästinser verteufeln den zionistischen Staat Israel, haben Krieg geführt, diesen aber verloren.
    Der jüdische Staat hat den Krieg gewonnen, gegen die Palästineser.

    Eine kleine Minderheit, aus jüdischen Siedlern, hat eine Koalition aus mehreren arabischen Staaten besiegt.

    Das der Jammer groß ist, über die Niederlage der arabischen Staaten, ist verständlich.

    Aber nur eine einzige Frage :

    Was würde bei einer Niederlage Israels geschehen ?
    Mit den jüdischen Bürgern ?

  13. @ Werner Engelmann
    Sie meinen, dass es zur „Bekämpfung von wirklichem Antisemitismus“ der Antisemitismusdefinition der IHRA „nicht bedarf“. Das widerspricht leider meinen Erfahrungen, denn „wirklicher Antisemitismus“ wird oft nicht als solcher identifiziert: Wiederholt wurde antisemitisches Mobbing gegen jüdische Schüler von den Verantwortlichen nicht als Antisemitismus erkannt oder als „jugendliche Provokation“ verharmlost; die NRW-Justiz hat bei einem Brandanschlag durch arabische Jugendliche auf eine Synagoge antisemitische Motive der Täter verneint; antisemitische Einträge im Gästebuch von Plasberg (in der Sendung ging es nicht um Israel) hat die Redaktion nicht als solche erkannt und erst auf meinen Protest gelöscht. Diese Liste ließe sich um viele weitere Beispiele ergänzen. Da heute keiner Antisemit sein möchte (mit wenigen Ausnahmen: Vor einigen Jahren wurde bei einer Demonstration „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“ skandiert, ohne das die Polizei einschritt, kürzlich riefen türkische und arabische Demonstranten „Scheißjuden“), werden antijüdische Ressentiments meist in „Umwegkommunikation“ verpackt. Die einen faseln von „Totschilds“ oder der „Weltfinanz“, die anderen von „Kindermörder Israel“ – und brüllen solche Parolen vor Synagogen oder schicken die Hassmails an jüdische Gemeinden und den Zentralrat. Dass „israelbezogener Antisemitismus“ von den „alten“ antijüdischen Stereotypen getragen ist, haben mehrere Studien ausführlich dokumentiert. Dass es solchen israelbezogener Antisemitismus gibt, bestreitet– jenseits der „intelektuellen“ kontroversen Debatte um BDS und deren Anhang – auch Moshe Zimmermann nicht.
    Sicher hat keiner von uns die Wahrheit gepachtet und man kann über einzelne Äußerungen streiten, ob sie tatsächlich antisemitisch sind, so wie man im Einzelfall über Rassismusvorwurf streiten kann. Doch selbst dann, wenn in öffentlicher Auseinandersetzung der Antisemitismusvorwurf zu Unrecht erhoben wird, halte ich Ihren Vergleich mit der staatlichen Repression des Radikalenerlasses weder von den Folgen für den Betroffenen noch von der Dimension nicht für gerechtfertigt.

  14. @ Werner Engelmann
    Noch eine Anmerkung zu Ihrem früheren Beitrag: Keineswegs ist es ein „Tabu“, an Jitzchak Rabin und den von ihm eingeleiteten Friedensprozess zu erinnern. Im November 2020, zum 25. Jahrestag seiner Ermordung, fand auf dem nach ihm benannten Platz in Tel Aviv trotz der Pandemiebeschränkungen eine große Demonstration statt (siehe https://www.fr.de/politik/israel-benjamin-netanjahu-premier-minister-proteste-rabin-jerusalem-90086961.html) und auch in vielen jüdischen Gemeinden weltweit wurde an Rabin erinnert. Zum vollständigen Bild gehört aber auch die Tatsache, dass der Friedensprozess nicht nur durch die Hetze der israelischen Rechten, sondern auch durch palästinensischen Terror gestoppt wurde. Es waren vor allem die blutigen Attentate mit vielen Toten israelischen Zivilisten, die im Mai 1996 zum Wahlsieg von Benjamin Netanjahu (Likud) über den Rabin-Mitstreiter Shimon Peres führten. Ehud Barak (Arbeitspartei), der 1999 Netanjahu ablöste, versuchte dann, den Friedensprozess fortzusetzen, und bot den Palästinensern in den Verhandlungen in Camp David im Jahr 2000 und in Taba im Jahr 2001 einen weigehenden Rückzug aus den besetzten Gebieten (mit Gebietskompensation für die großen Siedlungsblöcke, die Teil Israels werden sollten). Palästinenserpräsident Jassir Arafat verweigerte letztlich die Unterschrift und löste die erste Intifada aus. Diese Gewaltwelle schwächte entschieden das linke Friedenslager in Israel, im November 2001 unterlag Barak bei vorgezogenen Wahlen Ariel Scharon. Scharon, der sich von seinen extrem rechten Positionen löste, die Likud verließ und die mitte-rechts Partei Kadima gründete, setzte 2005 den vollständigen Rückzug der jüdischen Siedler und der israelischen Armee aus Gaza durch. Weitere Rückzugspläne seines Nachfolgers Ehud Olmert (Kadima) scheiterten 2006, weil Palästinenserpräsident Mahmud Abbas die nötigen Kompromisse nicht eingehen wollte. Dies schwächte erneut das linke und liberale Lager in Israel und brachte 2009 Netanjahu erneut an die Macht. Um den Friedensprozess wieder zu beleben, ist nicht nur ein Wandel in der israelischen Regierung nötig, sondern auch einer in der palästinensischen Führung.

  15. @ Werner Engelmann

    Antworte Ihnen später, morgen, bin unterwegs.
    Beste Grüße

  16. Eigentlich hatte ich nicht vor, hier ein weiteres Statement abzugeben. Neuere Beiträge aber zwingen mich dazu.

    @ stefan vollmershausen

    Verehrter Herr Vollmershausen, Ihr Beitrag bestätigt nicht nur Befürchtungen von Bronski, Herrn Malyssek und mir, sondern übertrifft diese noch um einiges.
    Nicht nur Ihre erschreckende Simplifizierung auf zwei Kriegsparteien, auf Kategorien von Sieg und „Niederlage“, auch Ihr Vokabular entlarvt ein antagonistisches Machtdenken in der fatalen Tradition des 19. Jahrhunderts.
    Begriffe wie „Frieden“, „Ausgleich“, „Gerechtigkeit“ haben da offenbar keinen Platz, ganz zu schweigen von „Empathie“ mit leidenden Menschen. Einzelne Menschen existieren danach ja gar nicht in Form jeweils individueller Schicksale, sondern nur ihre Abstraktionen im Plural als kriegführende Parteien.
    Sie disqualifizieren sich mit solchen Ausführungen nur selbst.

    @ Jan Mühlstein

    Sehr geehrter Herr Mühlstein,
    zunächst einmal wäre darauf zu verweisen, dass, in seltener Einmütigkeit und quer durch alle Parteien und Bevölkerungsschichten nicht nur Entsetzen über Übergriffe auf jüdische Mitbürger geäußert, sondern diesen auch ihre volle Solidarität zugesichert worden ist. Und ich kenne niemanden, der dies anders sieht, schon gar nicht in diesem Blog.
    Dies macht ihren Versuch schwer erträglich, solch schlimme Vorfälle zu instrumentalisieren, sie dazu zu benutzen, anderen vorzuschreiben, worüber zu diskutieren ist und worüber nicht.

    Eines der Merkmale dieser scharf zu verurteilenden Ausbrüche ist, dass solche „Demonstranten“ (oder wie immer man sie bezeichnen möchte) jüdische Mitbürger hierzulande zur Zielscheibe nehmen, um an ihnen ihren Frust über Ereignisse in Nahost auszutoben, an Menschen also, die damit nichts zu tun haben.
    Eine ähnliche Vermengung nehmen Sie aber selbst vor, wenn Sie einen direkten Zusammenhang dieser Vorkommnisse mit Bemühungen von Bronski und den Diskutanten hier herstellen und so ihr Bemühen diskreditieren, Voraussetzungen für Friedensbemühungen auszuloten.

    Dass die Begriffsdefinition für „Antisemitismus“ auch und von bestimmter Seite sogar vorzugsweise dazu benutzt wird, Personen öffentlich zu diskreditieren, um Diskussionen über Voraussetzungen für mögliche Friedensperspektiven auszuweichen, dafür finden Sie z.B. in (meist sehr schnell geschlossenen) Kommentarspalten der FR zu dieser Problematik reichliche Hinweise. Zwei Beispiele dazu habe ich in meinem ersten Beitrag genannt.
    Was Sie nicht finden, sind die Kommentare, die gar nicht erst zugelassen werden – offenbar zu Unrecht, aus bloßen Opportunitätsgründen und auf vage Vermutung hin, es könnte sich irgendjemand, der mit dem Austeilen dieses Vorwurfs nicht zimperlich ist, auf die Füße getreten fühlen.
    Auch dazu kann ich Ihnen Beispiele nennen.

    Betreffend Ihre etwas sachlicheren Hinweise, an mich selbst adressiert:

    (1) Ich kann nicht erkennen, weshalb es bei den von Ihnen genannten Beispielen für „antisemitische Motive“ einer solchen umfassenden und problematischen „Definition“ bedürfte. Nicht anders als bei rassistischen Übergriffen oder Morden (etwa im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex) geht es nicht darum, solche Motive nicht erkennen zu können, sondern darum, sie überhaupt sehen zu WOLLEN. In der Beziehung ist bei Strafverfolgungsbehörden sicher einiges zu kritisieren. Das ist aber keine spezifische Frage des Antisemitismus.

    (2) Bezüglich des Vergleichs mit Verfahrensweisen beim „Radikalenerlass“:
    Ich habe ausdrücklich darauf verwiesen, dass es in keiner Weise um eine Gleichsetzung geht.
    Vielmehr ist (a) eine Ähnlichkeit des Verfahrens zu erkennen, Auseinandersetzungen von einer objektiv erfassbaren auf eine schwer erfassbare und für willkürliche Interpretation offene psychische Ebene (mit Tendenz zu Vorverurteilungen) zu verlagern.
    Und (b) wollte ich die Aufmerksamkeit von der Sicht des Anklägers (und derer, die sich in diese Rolle hineinsteigern) auf die des möglicherweise zu Unrecht Beschuldigten oder Verdächtigten lenken. Dies hat schlicht und ergreifend etwas mit Gerechtigkeit und – wie Bronski im Titel des Threats zurecht anmerkt – mit Fähigkeit zu „Empathie“ zu tun.

    (3) Der Begriff „Tabu“, den ich in Bezug auf das Wirken von Itzchak Rabin benutzt habe, ist erkennbar auf das Verständnis derjenigen bezogen, die sich eine Konflikt-„Lösung“ nur als Durchsetzung eigener Machtansprüche vorstellen können. In keiner Weise habe ich die israelische Gesellschaft als solche damit charakterisiert.
    Sollten sich die (von Ihnen angesprochenen) kompromissbereiten Kräfte durchsetzen, für die Wahrnehmung der Befindlichkeiten und Interessen der Gegenseite kein Zeichen für Schwäche ist, so wäre das mehr als erfreulich und nicht nur im Sinne der unmittelbar Betroffenen begrüßenswert. Dass Kompromissbereitschaft prinzipiell von zwei Seiten auszugehen hat, ist eine triviale Feststellung, die keiner näheren Begründung bedarf.

  17. @ Werner Engelmann

    Sehr geehrter Herr Engelmann,

    tatsächlich unterscheiden sich diesmal die Reaktionen auf die antisemitischen Vorfälle wohltuend von denen auf ähnliche Vorfälle im letzten Gaza-Krieg. Dies ist wohl auch auf die zwischenzeitlich breite Diskussion über Antisemitismus zurückzuführen, die auch durch die öffentliche Wahrnehmung der IHRA-Definition (und deren kontroverse Debatte) bewirkt wurde. Ob den Worten Taten folgen und Jüdinnen und Juden in Deutschland vor antisemitischen Anfeindungen im Alltag besser geschützt werden, bleibt abzuwarten.
    Unverständlich sind mir Ihre nicht näher spezifizierten Vorwürfe, ich würde Antisemitismus „instrumentalisieren“ (also für andere Zwecke missbrauchen), um „anderen vorzuschreiben, worüber zu diskutieren ist und worüber nicht“. Genauso wenig finde ich in meinen Beiträgen einen Beleg für Ihre Vorhaltung, ich hätte „einen direkten Zusammenhang dieser Vorkommnisse mit Bemühungen von Bronski und den Diskutanten hier“ hergestellt und so „ihr Bemühen diskreditiert, Voraussetzungen für Friedensbemühungen auszuloten“.

    Das wir zu dem Thema unterschiedliche Meinungen haben, müssen wir beide aushalten. Sie sehen die Diskussion durch ungerechtfertigte Antisemitismusvorwürfe dominiert, ich hingegen nehme wahr, dass kritischen Positionen gegenüber Israel in den Medien viel Raum gegeben wird, was sich an zahlreichen Beiträgen zum Beispiel von Mosche Zimmermann oder Omri Boehm belegen lässt. Auch in der kontroversen Debatte über den Bundestagsbeschluss zum BDS sind die Gegner dieser Entscheidung ausführlich zu Wort gekommen.

    Aber zurück zum Kern der Auseinandersetzung, zur Frage des „israelbezogenen Antisemitismus“, der in der IHRA-Definition wie von Bronski zitiert so beschrieben wird: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher (antisemitischer, J.M.) Angriffe sein.“ Ich teile Bronskis (und Ihre) Bewertung nicht, dass man dafür tief „in die Köpfe hineinsehen“ müsse. Bei der Identifizierung von Antisemitismus (wie vom Rassismus) kommt es auf den Inhalt des „Sprechaktes“, nicht auf die (subjektive) Motivation oder Einstellung der Sprecherin oder des Sprechers. Wenn eine Äußerung als antisemitisch bewertet wird, heiß das doch nicht automatisch, dass der Urheber Antisemit ist. So ist beispielsweise der in Zeitungskommentaren beliebte Ausdruck „alttestamentarische Strenge“ eindeutig ein antisemitischer Stereotyp des christlichen Antijudaismus, seine gedankenlose oder ignorante Verwendung macht die Autorin oder den Autor nicht per se zur Antisemitin oder zum Antisemiten.

    Die IHRA-Definition kann man zu Recht als zu abstrakt kritisieren, sie bietet aber durch Beispiele durchaus anschauliche Konkretisierungen. Auch die als Gegenposition zur IHRA formulierte Jerusalem-Deklaration enthält fünf Beispiele für Äußerungen zu Israel und Palästina, die „als solche antisemitisch“ sind. Diese bieten eine Basis für eine – gerne auch kontroverse – Diskussion über konkrete Äußerungen, ob diese tatsächlich antisemitisch sind oder ob sie unbegründet unter Antisemitismusverdacht gestellt werden. Diese Debatte sollten wir mit Argumenten und nicht mit pauschalen Verdächtigungen führen.

  18. @ Werner Engelmann

    Lieber Herr Engelmann,

    da ich merke, dass ich gerade den Kopf nicht frei habe für die Debatte „Antisemitismus“, fasse ich mich kurz. Bin zur Zeit vor allem mit unseren Buch „Wohnungslose Menschen“ und Lesungen beschäftigt.

    Unabhängig von Ihren vorstehenden Statements und auch den Anmerkungen vom 8. Juni an mich, habe ich ja schon gesagt, dass ich den sehr deutlich aufkommenden Antisemitismus zum Fürchten finde, v.a. mit getragen durch eine furchtbare aufgekommene und teilweise bösartige Empörungswelle und Schlagabtausch-Methoden überhaupt. Die alten abgetauchten dumpfen Geister sind wieder da.

    Es ist wie eine unendliche Geschichte: Sobald es wieder einmal kriselt im Heiligen Land und wie jetzt wie zuletzt Bomben und Raketen unterwegs waren, geht die Antisemitismus-Debatte hier wieder los.

    Diese Vorwürfe von Antisemitismus den Kritikern der Israel-Politik immer wieder an den Kopf zu werfen, erstickt jede vernünftige Auseinandersetzung mit dem Konflikt in Israel/Palästina. Daran sind auch so Leute wie der Antisemitismus-Beauftrage Uwe Becker beteiligt. Zu ihm muss man nichts weiter sagen.

    Diese so einseitige „Israel-Solidarität.“ Eine Totschlagwaffe! Eine Stabilisierung der bestehenden Machtverhältnisse, bisher unter der Führung Netanjahus.

    Das man das nicht vernünftig zu trennen bereit ist, ist auch für Deutschland ein moralischer/politischer Ballast. Und für die Juden und jüdischen Gemeinden in Deutschland eine bedrohliche Lage.

    Mehr will ich nicht mehr im Augenblick dazu sagen.

  19. Ein sehr aufschlussreicher Artikel von Aleida Assmann vom 15.6. zum „Antisemitismus“-Vorwurf gegen die Friedenspreisträgerin Carolin Emcke veranlasst mich, diese Thematik hier nochmal aufzugreifen.
    Hier der Link zum Artikel:
    https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/anfeindungen-gegen-carolin-emcke-der-neue-deutsche-katechismus-90804924.html#idAnchComments

    Für den Fall, dass mein Kommentar dazu – wie schon häufiger – wieder verschwindet, gebe ich ihn hier wieder:

    „Dieser Vorwurf (des Antisemitismus) ist ungeheuerlich und das schlimmste Stigma, das für ernsthafte Deutsche denkbar ist. Gleichwohl wird diese Ächtung reflexhaft ausgesprochen und von der Springer-Presse inzwischen serienmäßig vergeben.“

    Danke, Frau Assmann, für diese sehr notwendige Klarstellung!
    Und ein besonderer Dank vor allem dafür, klipp und klar auch Ross und Reiter zu nennen. Deutlich zu machen, wer gewohnt ist, sich zum Ankläger und Richter über andere aufzuschwingen und diese Anklage für seine Zwecke zu instrumentalisieren.
    Offene Zensur erübrigt sich, wenn vorauseilender Gehorsam und Selbstzensur deren Absichten auf weit „elegantere“ Weise realisiert.
    Es sei an dieser Stelle an die 1972 von BILD selbst in Auftrag gegebene, inzwischen vergessene „Psychoanalyse der BILD-Zeitung“ erinnert, in der diese als das „Über-Ich der Nation“ bezeichnet wird.
    Das „Über-Ich“ ist bekanntlich nach Freud die in die Psyche verlagerte Autorität der „Elterninstanz“, die keinen Widerspruch duldet und mit Erzeugung von Schuldgefühlen operiert.
    Die Sprache hat sich inzwischen geändert, die Strategie jedoch nicht.
    Der hier aufgezeigte Zusammenhang legt nahe, in der schon von Moshe Zuckermann analysierten Verwendung des „Antisemitismus“-Vorwurfs als „Herrschaftsinstrument“ die aggressivere Variante der „Über-Ich“-Funktion zu sehen.

    @ Jürgen Malyssek

    Ganz kurz:
    Ich stimme Ihrer Einschätzung zu, dass der Umgang mit der von Ihnen genannten „Totschlagwaffe“ für alle in Deutschland einen „moralischen/politischen Ballast“ darstellt, insbesondere aber für jüdische Gemeinden, die unsere Solidarität verdienen.
    In dem verlinkten Artikel und meinem Kommentar dazu ist dies, so meine ich, noch einmal deutlich belegt.
    Für Ihre Lesungen und die dabei sicher auch zu bewältigenden Diskussionen wünsche ich Ihnen alles Gute!

    @ Jan Mühlstein

    Zur Klarstellung:
    Es geht und ging mir nie um die IHRA-Definition von „Antisemitismus“ an sich, sondern darum, von wem in welcher Weise und gegen wen die Berufung darauf als politische Waffe verwendet wird.
    „Instrumentalisierung“ bezieht sich immer auf den Umgang mit einer – an sich berechtigten – Definition oder Einschätzung, insbesondere zu anderen Zwecken wie Diffamation von Personen, aber auch Verhinderung notweniger, politisch aber evt. unangenehmer Diskussionen.
    Zum Fall „Diffamation“ gibt der verlinkte Artikel ein gutes Beispiel.
    Bez. Verhinderung von Diskussionen dürfen Sie sich gern meine Kommentare bei mehreren auf den gegenwärtigen Nahost-Konflikt bezogenen FR-Artikel der letzten 3 Wochen (insbesondere von Inge Günther) anschauen. Sie waren fast ausnahmslos mehrere Tage gesperrt und meist erst auf meinen ausdrücklichen Protest zugelassen worden.
    Soviel dazu, was ich „vorauseilenden Gehorsam“ nenne.

    Einen „Zusammenhang“ ähnlicher Art sehe ich in der Kritik an Bronski resp. Verwunderung über diese Diskussion in Ihrem ersten Beitrag gegeben. Gerade die Vorkommnisse der letzten Wochen rechtfertigen diese Diskussion, die gewöhnlich in fairer Weise abläuft.
    Sollten Sie Ihre Einschätzung inzwischen geändert haben, würde mich das sehr freuen und ich sehe diese Diskussion als erledigt an.

    Nützlich erscheint mir dagegen, die Perspektive eines von Vorwürfen zu Unrecht Betroffenen zu vermitteln sowie die Folgen einer Strategie aufzuzeigen, welche Selbstzensur zum Ziel hat. Eben darauf zielte ja mein Vergleich mit den Folgen des „Radikalenerlasses“.
    Die Kurzsichtigkeit einer solchen Strategie, die vorgibt, Antisemitismus zu bekämpfen, erweist sich schon darin, dass wirkliche Antisemiten dadurch mit Sicherheit nicht ihre Einstellung verändern oder gar auf den „Pfad der Tugend“ zu bringen wären. Viel eher tri8fft das Gegenteil zu.

    Zur Perspektive Betroffener ein Beispiel am eigenen Fall:
    Nun habe ich bez. des Umgangs mit diesem Thema mehr als 30 Jahre Erfahrungen. So dadurch, einige Generationen von Schülerinnen und Schülern, in 3 verschiedenen Ländern resp. Schulsystemen, zu aktiver Auseinandersetzung damit gebracht zu haben, darüber hinaus durch Organisation von Diskussionen mit Zeitzeugen in Klassen, intensiv vorbereitete Besuche an Gedenkstätten bei Klassenreisen (darunter 4 x Sachsenhausen, Wannseevilla u.a.), mit Familie in Auschwitz und Theresienstadt.
    Als Beispiel sei eine Diskussion mit einem Wärter in Theresienstadt genannt, der mir von seinen Erfahrungen mit westdeutschen bzw. DDR-Klassen berichtete, wonach das Konzept des „verordneten Antifaschismus“ völlig an dem vorgegebenen Zweck vorbei ging. Die Folgen sind ja auch an der Entwicklung nach der Wende zu erkennen.

    Mir brachte es in diesem Blog (Bronski wird sich vielleicht daran erinnern) den Vorwurf des „Antisemitismus“ ein, weil ich vor dem Hintergrund all dieser Erfahrungen der Forderung des Zentralrats der Juden in Deutschland widersprach, den Besuch von Gedenkstätten in allen deutschen Schulen zur Pflicht zu machen. Eine gut gemeinte Forderung, die auch das Gegenteil des Gewünschten bewirken kann, sofern nicht eine angemessene Vorbereitung garantiert ist.
    So erinnere ich mich an Verhaltensweisen von Japanern in Auschwitz, die ich für skandalös halte. Oder den Beifall einiger Jugendlicher in einem österreichischen Film über Neonazis, als ein Lampenschirm aus Menschenhaut gezeigt wurde, bei dem die KZ-Nummer noch erkennbar war. Was mich spontan veranlasste, in den Saal zu brüllen: „Nazi-Schweine raus!“

    Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht.
    An den genannten Beispielen (und vielen anderen, ähnlich gelagerten) lässt sich auch das „cui bono“ erkennen. Die Tatsache, dass User, die regelmäßig ihren Hass dokumentieren, mit besonderer Vorliebe sich dieses Vorwurfs bedienen, bestätigt dies ebenso.

    Was mich – so wie Herrn Malyssek – auch zu der Einschätzung bringt, dass ein solches Pendant zu „verordnetem Antifaschismus“ die Diskussionskultur nachhaltig schädigt. Und dass jüdische Gemeinden die letzten sind, die davon profitieren, wenn gesellschaftliches Engagement für Toleranz und gegenseitiges Verständnis in der genannten Weise diffamiert wird.

  20. @ Werner Engelmann

    Danke, lieber Engelmann, für Ihre obigen Klarstellungen und für Ihre gute Wünschen bezüglich „Wohnungslose Menschen“ (Lesungen u.a.).

    P.S.: Die Angriffe /Diffamierungen gegen Carolin Emcke zeigen auf, dass es eigentlich nur noch darum geht, die Zielfigur auf frischer Tat zu ertappen und um die rasende Gier nach Feindbildern – vielleicht, um sich überhaupt noch zu spüren.
    Außer den „sozialen“ Medien spielt BiLD weiterhin und vermehrt eine katastrophale Rolle in der Print-Landschaft. Sie ist schlicht und einfach ein Drecksblatt. Wem das alles dient („cui bono“), das kann man sich an fünf Fingern abzählen …

  21. @ Werner Engelmann
    Der „Fall“ Caroline Emcke belegt keineswegs, dass „Antisemitismusvorwurf“ als „Herrschaftsinstrument“ zur Unterdrückung von unerwünschter Kritik führe und „Selbstzensur“ befördere. Die Entgleisung des CDU-Generalsekretärs Paul Ziemiak wurde in den Medien einhellig zurückgewiesen, heute hat er seine Anschuldigung zurückgenommen. Damit zeigt sich, dass die Öffentlichkeit durchaus unterschiedlich auf einen berechtigten, einen unberechtigten und einen umstrittenen Antisemitismusvorwurf reagiert. Im ersteren Fall gibt es meist klare Verurteilung (wobei viele Vorfälle es nicht in die Feuilletons schaffen oder zu „offenen Briefen“ führen), im zweiten – wie jetzt bei Emcke – erfolgt ebenso klar die Zurückweisung des Vorwurfs. Im letzteren Fall gibt es eine kontroverse Diskussion mit pro und contra, was für eine offene und pluralistische Gesellschaft selbstverständlich sein sollte.
    Zu Ihrer Antwort an mich:
    Meine Verwunderung über den Schwerpunkt der Diskussion hier im Blog besteht weiter. Sie ist keine Kritik an Bronski (auch das wäre wohl erlaubt). Soweit ich weiß, wählt er für den Blog die Themen aus, zu den er Leserbriefe bekommt. An dieser Diskussion beteilige ich mich und versuche, meine Meinung mit sachlichen Argumenten zu begründen. Daher verstehe ich immer noch nicht, warum Sie mir „Instrumentalisierung“ vorhalten oder in welchen „Zusammenhang“ Sie meine Beiträge gestellt sehen, aber das müssen wir nicht weiter vertiefen.
    Sie schreiben außerdem: „Mir brachte es in diesem Blog (Bronski wird sich vielleicht daran erinnern) den Vorwurf des ‚Antisemitismus‘ ein, weil ich vor dem Hintergrund all dieser Erfahrungen der Forderung des Zentralrats der Juden in Deutschland widersprach, den Besuch von Gedenkstätten in allen deutschen Schulen zur Pflicht zu machen.“ Wahrscheinlich meinen Sie damit den Thread http://frblog.de/verpflichtend. Ich habe mir die scharf geführte Diskussion aufmerksam durchgelesen, kann aber keinen Beitrag finden, in dem Sie des Antisemitismus beschuldigt wurden.

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