Kürzlich das Urteil zum Kopftuchverbot, kurz davor das Urteil zur Sterbehilfe – liberal denkende Menschen dürfen stolz sein auf unser Verfassungsgericht und zufrieden mit ihm. In diesem wegweisenden Urteil zur Sterbehilfe hat das Gericht erklärt, das selbstbestimmtes Sterben ein Menschenrecht ist. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist groß! „Der selbstbestimmte Tod gehört zum Leben„, ist der Artikel unserer langjährigen FR-Korrespondentin am Verfassungsgericht, Ursula Knapp, überschrieben. Natürlich gibt es Kritik, etwa aus der CDU oder von den Kirchen. Der Stiftungsrat der Deutschen Palliativ-Stiftung, Carsten Schütz, hat jedoch eindeutig daneben gegriffen, indem er sagte: „Wenn ein entgrenztes Gericht selbst in so fundamentalen gesellschaftlichen Fragen wie dem Sterben die eindeutige Mehrheitsentscheidung des Parlaments nicht mehr achtet, hat es offensichtlich jeden demokratischen Respekt verloren.“ Er sprach von einer „Übergriffigkeit des sich allmächtig wähnenden Senats“.
Um das klar herauszustellen: Allmacht ist ein religiöser Begriff, Allmachtsgefühle ein psychologischer. Hier geht es aber um Juristerei, und die ist bekanntlich eine Welt für sich. Selbstverständlich hat das Bundesverfassungsgericht die Deutungshoheit über das deutsche Grundgesetz! Eben darum wird es gefragt, wenn es Unklarheiten in Sachen Rechtsauslegung gibt. Die Mehrheitsentscheidung des Bundestags kann in dieser Hinsicht wohl als Ausdruck des Wählerwillens gewertet werden, auch wenn eine direkte Volksbefragung vielleicht ein anderes Votum ergeben hätte als das, was die Volksvertreter im Bundestag gefunden haben, aber sie kann keinesfalls als wegweisend oder gar bindend für das Verfassungsgericht gesehen werden. Das sieht – mit ein bisschen Abstand zur Aufregung jener Tage – hoffentlich auch Carsten Schütz so, denn sonst stünde er nicht auf dem Boden unseres Grundgesetzes.
Niemand will sterben, aber Sterben gehört zum Leben. Niemand kann darüber entscheiden, ob er geboren wird. Darüber gebieten andere Mächte, die – bis auf eine Singularität, die richtungweisend zu sein behauptet – biologischer Natur sind. Mann und Frau und hoffentlich mit Spaß dabei und so weiter. So will man geboren werden: aus Lust heraus. Man geht seinen Weg durchs Leben, und aus dem unvermutet empfangenen Leben wird eines, das sich seiner nicht nur selbst bewusst ist, sondern das Werte geschaffen hat. Die Würde hat es sowieso, qua Grundgesetz. Warum soll ein solches Leben am Ende entwürdigt werden, indem man ihm vorenthält, die letzte Entscheidung selbstbestimmt zu treffen?
Das ist keine schöne Entscheidung! Niemand, wie gesagt, will sterben. Aber welche Gründe jemand dafür erkennt, ob er leben will oder kann oder nicht, ist von nun an ihr oder ihm selbst anheim gegeben. Der Staat soll Beratung schaffen und Hilfe anbieten; dann werden gewiss viele, die voher keine Hilfe erhalten haben, weil der Staat sich in dieser Frage verweigert hat, ihre Entscheidung aufschieben oder sich sogar anders entscheiden. Für die Beratungs- und Hilfsangebote hat das Gericht einen breiten Spielraum gegeben. Ehrlich gesagt: Wäre die Politik in dieser Frage nicht so ideologisch verbohrt gewesen, wie es sich etwa in Meinungsäußerungen wie denen von Carsten Schütz zeigt, hätte längst vielen Menschen geholfen werden können. So aber ist dies keine Frage: Das Verfassungsgericht hatte eine seiner Sternstunden.
Menschlicher als die Bundesregierung
Das deutsche Grundgesetz (GG) ist menschlicher als die deutsche Bundesregierung und die Mehrheit des deutschen Bundestages, die „ihrem Gewissen folgend“ mit dem § 217 StGB (Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung) – „Lex Kusch“ – die Sterbewilligen und ihre Helfer für einen assistierten Freitod so verunsichert haben, dass die Menschen, die aus dem Leben scheiden wollten sich – wie in früheren Zeiten – wieder aus der Höhe in die Tiefe oder vor einen Zug werfen, einen anderen unwürdigen Tod suchen mussten oder unter großem Leiden und Schmerzen starben.
Dank des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 26.02.2020 erhält nun die Menschlichkeit des GG die ihm zustehende Bedeutung – denn das BVerfG hebt nicht nur den § 217 StGB auf und stellt so den Status quo ante wieder her: NEIN, das BVerfG hält – urbi et orbi – fest: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.“
Das ist ein sehr gewichtiger Schritt – ein Donnerschlag – hin zu einer modernen konsequent laizistischen Gesellschaftsordnung. Es ist ein sehr gewichtiger Schritt weg vom immer noch grassierenden Obrigkeitsdenken hin zu selbstverantwortlichen, selbstbewussten Bürgerinnen und Bürgern.
Es ist jedermann überlassen einer von ihm gewählten Gemeinschaft – wie die der römisch-katholische Kirche in Deutschland, wie die der evangelisch-lutherischen Kirche Deutschlands – anzugehören und sich nach deren Moralkodex auszurichten: kein Schwangerschaftsabbruch, kein Freitod. Jedermann kann in diesen Fragen nach seinem Gewissen entscheiden.
Aber der deutsche Staat, seine Organe – d. h. die Minister, die Parlamentarier, die Beamten und die staatlichen Angestellten (w./m.) haben diesem wegweisenden Entscheid ihres obersten deutschen Gerichts konsequent – „ohne Wenn und Aber“ – zu gehorchen:
„Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet das Recht, selbstbestimmt die Entscheidung zu treffen, sein Leben eigenhändig bewusst und gewollt zu beenden. “
Jürg Walter Meyer, Leimen
Eintönig starr
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Grundgesetz für die Republik Deutschland, Art 1 (1)) So steht es geschrieben, das ist die „graue Theorie“! Doch wie sieht es mit dieser Unantastbarkeit des Menschen im Alltag aus? Nicht nur Freundlichkeit und Höflichkeit, oft auch Streitereien und Streitigkeiten, bis hin zur Gewalt und hin zum Krieg sind Teile des menschlichen Lebens. Das Umgehen im Miteinander, das birgt viele Schwierigigkeiten, zum Teil auch Gefahren in sich, und hier „liegt der Hase schon im Pfeffer“, denn diese „Neckereien“, ob innerhalb der Familie, ob mit den Nachbarn und Bekannten, ob mit den Kollegen, oder ob auch mit dem „Fremden“, das sind diese „berühmten Kleinigkeiten“, die dann das „Fass zum Überlaufen“ bringen können. Wo fängt es nun an, dass eben diese Würde und die Selbstbestimmung nicht mehr so „unantastbar“, vielleicht schon sehr ziemlich fragil und angreifbar geworden sind? Das Leben verläuft einfach nicht einfach nur so, „Grenzen“ sind mehr und mehr fließend, als eintönig starr geworden, und (nur) dazu hat das Bundesverfassungsgericht sein richtungsweisendes Urteil gefällt.
Riggi Schwarz, Büchenbach
Eine Stimme der Menschenwürde
Diese beeindruckende Rede des abschiednehmenden Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes war eine Rede für die Geschichtsbücher: Der Aufschrei des Rechts gegenüber der Politik und dem Lobbytum: „Wir sind ein Rechtsstaat und nicht ein Politikerstaat! Hier müssen grundlegende Menschenrechte gelten und nicht Lobbyinteressen!“ Voßkuhle gab den schwachen Schwerstkranken, die keine Lobbyisten ohne Eigeninteressen haben, eine Stimme der Menschenwürde.
Haben nicht in den letzten Monaten machtgierige Politiker diese Entscheidung geradezu herausgefordert, wenn Minister Heil höchstrichterliche Urteile zur Zulässigkeit von Kürzungen bei Hartz IV einfach vom Tisch fegte oder Gesundheitsminister Spahn die gerichtlich verlangte Ausgabe von Medikamenten zur Selbsttötung durch Anweisung an das Bundesgesundheitsamt unterlief?
Schon 2015 kam dieses Gesetz auf rechtlich zweifelhaftem Wege zustande: Politiker konnten sich ohne Parteivorgaben einem der vier Gesetzesvorschläge anschließen und der Vorschlag Brand / Griese bekam die meisten Unterschriften. Die folgende massive Kritik höchstrangiger Experten in den vorgeschriebenen schriftlichen und mündlichen Anhörungen blieb völlig wirkungslos: Das Gesetz wurde genau so wie der Entwurf verabschiedet.
Dem scheidenden Präsidenten Voßkuhle gebührt großer Dank, der Politik ins Gewissen geredet zu haben. Wir leben in einem Rechtsstaat und wollen ihn auch behalten: „Die Würde des – auch sterbenden – Menschen ist unantastbar!“.
Solange eine Regierung die Pflege vorwiegend nicht nach humanitären und sozialen Paradigmen, sondern nach kapitalistischen und neoliberalen ausrichtet, wird sie weder eine gesetzliche, noch eine konzeptuelle Sterbehilfe, die diesen Namen verdient, beschließen können. Wenn jegliche soziale Arbeit zuerst nach monetären Gesichtspunkten betrachtet und praktisch ausgerichtet wird, öffnet dies windigen Geschäftemachern, auch bei der Sterbehilfe, Tür und Tor, und es gibt nur Murks, wenn Regierungen versuchen, diese Missstände per Gesetz einzudämmen. So titelt die FR in ihrer heutigen Ausgabe sehr originell „Der Pflege Rechnung tragen“, offenbart aber damit auch, dass der Blick auf das Zwischenmenschliche getrübt ist, wenn nur die Finanzierung im Vorder-, zumeist auch im Mittel- und Hintergrund steht. In Altenheimen müssen rund 120000 Pflegekräfte eingestellt werden. Das entspricht einer Erhöhung um 26 Prozent. Stellen wir uns einmal das Geschrei von Arbeitgeberverbänden vor, wenn ihnen so viel Arbeitskräfte zum Beispiel in der Produktion für den Export fehlten. Die Politik hat die Missstände in der Pflege über Jahrzehnte ausgesessen. Die Skandale überfordern mittlerweile unser Erinnerungsvermögen. Aber es wird weiter geschachert. Auch dies ein Beispiel für den Umgang mit Menschenwürde in diesem Land. Sie prägt Haltungen und Einstellungen und trägt nicht selten zu inhumanen und radikalen Gesinnungen bei. Auch an diesem Beispiel ist die Spaltung eines Landes ablesbar: Eine Sterbehilfe verkommt zu einem Luxusproblem für Reiche, die Armen müssen sich als Pflegebedürftige mit einer menschenverachtenden Pflege abfinden. Die Pflegenden arbeiten für wenig Geld und zu schlechten Bedingungen und sollen sich mit einer Konkurrenz auseinandersetzen, die in Ländern abgeworben wurden, wo sie dringend gebraucht werden, während die Sterbehilfe als neuer Geschäftszweig Furore macht. Das ist Klassenkampf von oben.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Grundgesetz für die Republik Deutschland, Art 1 (1))
So steht es geschrieben, das ist die „graue Theorie“! Doch wie sieht es mit dieser Unantastbarkeit des Menschen im Alltag aus? Nicht nur Freundlichkeit und Höflichkeit, oft auch Streitereien und Streitigkeiten, bis hin zur Gewalt und hin zum Krieg sind Teile des menschlichen Lebens. Das Umgehen im Miteinander, das birgt viele Schwierigigkeiten, zum Teil auch Gefahren in sich, und hier „liegt der Hase schon im Pfeffer“, denn diese „Neckereien“, ob innerhalb der Familie, ob mit den Nachbarn und Bekannten, ob mit den Kollegen, oder ob auch mit dem „Fremden“, das sind diese „berühmten Kleinigkeiten“, die dann das „Fass zum Überlaufen“ bringen können.
Wo fängt es nun an, dass eben diese Würde und die Selbstbestimmung nicht mehr so „unantastbar“, vielleicht schon sehr ziemlich fragil und angreifbar geworden sind?
Das Leben verläuft einfach nicht einfach nur so, „Grenzen“ sind mehr und mehr fließend, als eintönig starr geworden, und (nur) dazu hat das Bundesverfassungsgericht sein richtungsweisendes Urteil gefällt.
Es wäre fatal, wenn sich die Bezeichnung „Sterbehilfe-Urteil“ für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts durchsetzen würde. Bei einer Sterbehilfe würde der Mensch zum Objekt des Entscheidens und Tuns anderer. Die schlimmste Entgleisung war die als Euthanasie (guter oder leichter Tod) schön geredete systematische Tötung psychisch kranker und behinderter Menschen und von KZ-Häftlingen durch die Nazis. Einen Suizid hingegen kann der Mensch nur selbst begehen, er ist also Handelnder im Sinne persönlicher Autonomie, und genau diese Selbstbestimmung steht im Fokus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Zwischen der Freiheit zum Suizid des Menschen als Subjekt und der maximal fremdbestimmten „bevölkerungshygienischen“ Vernichtung demzufolge als unnütz und lästig abgewerteter Menschen kann somit trennscharf unterschieden werden. Diese Freiheit zum Suizid zu kritisieren, ist in einer modernen und tendenziell säkularen Gesellschaft letztlich nicht zielführend. Sicherlich passt der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts nicht zur christlichen Sicht der Dinge. Der christliche Grundgedanke müsste somit folgerichtig sein, dem leidenden Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, durch erfahrene barmherzige Hilfe in Form von Schmerzlinderung, von Pflege, von Zuwendung von der legitimen Suizidoption Abstand nehmen zu können.
Zu: „Ausbau von Palliativmedizin und Hospizen muss weitergehen“
„Die Kirchen sollten sich überdies verstärkt an der Suizidprävention beteiligen“, schreibt Nikolaus Schneider.
Dafür sind zunächst kirchliches Handeln und kirchliche Begriffe kritisch zu hinterfragen. Da wurde und wird noch immer (kirchlich und außerkirchlich) vom Selbstmörder/Selbstmord gesprochen. Das führte dann zur posthumen Bestrafung des „Selbstmörders“. Er wurde nicht auf dem Friedhof/Kirchhof beerdigt, es fand auch keine kirchliche Bestattung statt. Dem Toten dürfte das wohl nicht mehr berührt haben, aber was für ein zusätzliches Leid wurde damit den Hinterbliebenen aufgedrückt! Heute sind die Kirchen weitgehend mit einer erheblich sensiebleren, pastoralen Seelsorge bei den Trauernden.
Was aber bleibt und hilft dem Menschen, der als Christ sich in dem Entscheidungsprozess wiederfindent, in Würde und Verantwortung für sich selbst und gegenüber den Hinterbliebenen, die Frage zum selbstbestimmten Ende seines Lebens, handlungsfähig zu beantworten?
Mein christlicher Glaube hilft mir, mein Leben, als ein von Gott geschenktes Leben zu beantworten. So bin ich in diese Welt gegeben worden, um darin gestalterisch wirksam zu sein. (vgl. Mt 25.15f.). Kann ich dann nicht auch , dieses mir zur freien, veranwortlichen Gestaltung gegebene Leben an meinen Schöpfer, an meinen Gott dankbar zurückgeben?
Anmerkung Bronski: Dieser Leserbrief wurde hier nachträglich veröffentlicht, damit er nicht verlorengeht. Es ist leider nicht möglich, alle Zuschriften im Print-Leserforum zu veröffentlichen. Bitte nutzen Sie auch die Möglichkeiten, die Ihnen das FR-Blog zur Veröffentlichung Ihrer Positionen bietet.
Beste Grüße, Bronski