Aus dem streng katholischen Dorf in die große, fremde Stadt
Von Michael Eismann
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1968 war ich erst 14 Jahre alt. Geboren und aufgewachsen in einem kleinen Dorf in Nordhessen, ca. 1000 Einwohner. Anfangs zwangsweise bei einer Familie im Dorf unter dem Dach, dann für drei Jahre (1960-1963) in einer alten Holzbaracke der Wehrmacht, denn meine Mutter und meine Oma mussten aus Breslau (Schlesien) flüchten. Mein Vater hatte sich fünf Monate vor meiner Geburt, verzweifelt von der erfolglosen Arbeitssuche, vor eine Zug geworfen. Mein Opa starb, entkräftet vom Krieg und Hunger, bei der Arbeit im dörflichen Steinbruch. Ihn habe ich, genau wie meinen Vater, nie kennen gelernt. Wir wohnten oberhalb des Dorfes, genannt „die Siedlung“, wo alle Flüchtlinge ihre kleinen Unterkünfte und später Häuser gebaut hatten; von dem ausgezahlten „Lastenausgleich“ für im Krieg verlorengegangenen Grund- und Hausbesitz nur unzureichend finanziert. Fast alle waren streng katholisch. Im Dorf unten stand die protestantische Kirche. Unsere katholische inmitten der Flüchtlingshäuser.
Von einer schweren, lebensbedrohlichen Verbrennung mit knapp drei Jahren erholte sich mein Körper nur sehr langsam. Die Fahrt zur Mittelschule in die 12 Kilometer entfernte Kreisstadt Frankenberg/Eder traute meine Mutter mir deshalb nicht zu. Also erreichte ich vorerst nur den Hauptschulabschluss und bereits mit 14 Jahren begann ich eine Lehre bei der „Deutschen Bundespost“ als sogenannter „Postjungbote“. Ich war damals, als Spätfolge der frühkindlichen Erkrankung, nur 1,45 Meter groß und wog nur etwa 45 Kilogramm. Die große lederne Zustellposttasche schlug mir bei jedem Schritt in die Kniekehlen. „Als Beamter bist Du abgesichert“, sagte meine Mutter und war glücklich, dass ich die Aufnahmeprüfung knapp bestanden hatte. Zumal das kleine Häuschen mit 65 m² Wohnfläche noch lange nicht abbezahlt war, denn der Lastenausgleich von ihr und ihrer Mutter hatte bei weitem nicht ausgereicht das Grundstück und den Hausbau zu finanzieren. Am Tag als wir einzogen starb meine Oma, entkräftet von Flucht, Hunger und Schmerzen durch den Krebs. Da war ich acht Jahre alt. Ihr Zimmer stand aus Pietätgründen lange leer. Erst später durfte mein älterer Bruder diesen Raum für sich nutzen. Nach dem Tod meiner Oma, war meine Mutter alleinerziehend und musste arbeiten gehen, so wurde ich als Achtjähriger „Schlüsselkind“ und aß nach der Schule mittags bei einer befreundeten Familie. Später habe ich dann von ihr Kochen gelernt.
Von 1968 kriegte ich erst einmal nichts mit. Aber die katholische Enge, in der es z.B. bei der „Beichtandacht für Kinder“ verboten war am Glauben zu zweifeln oder auch nur über Sexualität nachzudenken (geschweige denn dieser nachzugeben) bedrückten mich zusehens. Auch lange Haare, so wie sie die Beatles trugen, waren verpönt, zumal als angehender Beamter. Ich musste zum Postdirektor in Frankenberg und der verlangte, dass meine Haare sofort gekürzt werden. Meine Mutter erledigte das abends mit einem um den Kopf gespanntem Gummiband. Der „Topfschnitt“ sah Scheiße aus, aber der Herr Postdirektor war zufrieden. Ich hingegen war erst todunglücklich, dann wurde ich wütend und machte mich auf die Suche: Im Nachbardorf gab es einen Jugendclub, dort ging ich bald ein und aus. Ich bekam Kontakt zu jungen Pädagogen, Lehrer zumeist. Auch „68er“ Sozialarbeiter waren darunter. Die kamen aus Frankfurt am Main zu uns und arbeiteten für die „Hessische Landeszentrale für politische Bildung“ (HLB). Ich erfuhr, dass es noch mehr gibt, als die Enge im Dorf und bei der Post. Bald schloss ich mich der Schüler- und Lehrlingsbewegung an und besuchte Seminare auf der Ronneburg. Die trugen Titel wie: „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ oder „Soziale Ungleichheit“. Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass die Seminarleiter fast alle dem KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland) angehörten und die HLB nahezu komplett unterwandert hatten. Ich weiß nicht ob das stimmt, aber ich habe damals sehr gelacht, als ich das erfuhr. Es war für mich nicht wichtig. Ich fand die damals einfach nur „cool“.
Ich begann viel zu lesen: Kant, Kafka, Tucholsky, Brecht, Böll, Wallraff. Marx und Engels natürlich auch, fand ich aber schwierig. Ich wollte eher wissen „Wie ein Mann gemacht wird“, was „Subversiv“ heißt und wie die „Rote(n) Fahnen über Polen“ kamen. Wenn ich die Bücher von damals mir heute ansehe, dann sind sie voller Anmerkungen, Ausrufungszeichen und Fragezeichen. Ich wollte lernen, wissen, fragen, verstehen!
Zur Bundeswehr musste ich nicht: Einen Soldaten mit Verbrennungsnarben wollte der Bund nicht haben und das, obwohl ich den Wehrdienst vorsorglich verweigert hatte (das konnte damals ein Grund sein, doch eingezogen zu werden). Ich wurde „ausgemustert“ und unterlag nicht mehr der „Wehrüberwachung“, wie das damals wirklich hieß. Da machte ich Luftsprünge vor Freude.
Die erste Demonstration in meinem Leben fand in Frankfurt am Main statt. Es ging um den Putsch in Chile, später auch um den Vietnamkrieg. Ich bekam eine Ahnung, dass es noch mehr geben könnte in meinem Leben, als Topfschnitt und Beichte, dass ich noch mehr kann, als Briefe abzustempeln und auszutragen. Ich bewunderte auch die Pädagogen und Sozialarbeiter, die mit uns politische Arbeit machten. Und erst sie, später aber auch meine Gruppe, darunter Studenten, in der ich inzwischen angekommen war, bestärkten mich einen neuen Weg einzuschlagen, mich weiterzubilden. In meiner Familie (Bruder, Mutter, hieß es nur: „Das schaffst Du eh nicht!“
Ende der 60er Jahre gab es in Hessen die Möglichkeit mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung den sogenannten „zweiten Bildungsweg“ einzuschlagen. Ich beendete also meine Lehre (= Leere!), hängte meine Beamtenlaufbahn an den Nagel und holte die Mittlere Reife in Marburg/Lahn auf der Adolf-Reichwein-Schule nach, in einem Jahr. Pendelte jeden Tag von zu Hause 24 Kilometer hin und 24 Kilometer zurück mit dem Zug und zu Fuß. Dass war hart, denn Englisch, Algebra, Trigonometrie und noch einige Fächer mehr, gab es auf der Dorfschule damals nicht. Mit Nachhilfe hatte ich eine 40 Stunden Woche, aber ich wollte das unbedingt schaffen und ich schaffte es auch. Bald danach fuhren ein Freund und ich in halsbrecherischer Fahrt von Frankfurt nach Darmstadt, um die Aufnahmeprüfungen für beide Fachoberschulen für Sozialpädagogik und Sozialarbeit an einem Tag zu schaffen: In Darmstadt bestand ich knapp die Prüfung. Also mit einem Freund, der einen Fiat 500 besaß, mein erster Umzug mit 18 Jahren in eine fremde Stadt. Meine Mutter weinte, jetzt war sie zwar alleine, aber auch stolz auf mich.
Schule, Praktika in den Städtischen Kliniken Darmstadt und bei der Firma Robert Bosch. Dort gab es einen Meister der Metallverarbeitung, der meinte: „So was wie Euch hätte man früher vergast.“ Und da inzwischen nicht nur meine Haare (wieder) gewachsen waren, sondern auch mein Verstand, hatten wir sehr wohl kapiert wessen Geistes Kind dieser „Meister“ immer noch war: Wir ließen uns dass nicht gefallen und gingen empört bis zur Schuldirektorin. Ergebnis: Wir mussten nicht mehr in die Abteilung dieses Altnazis. Welche Konsequenzen seine Äußerung für ihn hatte, erfuhren wir allerdings nie.
In Darmstadt wurde ich nicht richtig heimisch, in dem kleinen, schlecht möbliertem Dachzimmer, mit WC auf dem Flur. Ich bat einen Freund aus meiner alten Clique aus der Schüler-Lehrlingsbewegung mal mit seiner Klassenlehrerin zu reden und das klappte dann auch: Ich konnte das 12 Schuljahr der Fachoberschule in Frankfurt an der Hedwig-Heyl-Schule erfolgreich beenden. Aber es gab einen Numerus Clausus schon damals, wenn man studieren wollte. Über ein Jahr musste ich warten auf den begehrten Studienplatz und wohnte in dieser Zeit mit Halbwaisenrente, Jobs und Sozialhilfe im „Fritz Tarnow Heim“. Das war ein Wohnheim für Arbeiter*innen, Schüler*innen, Lehrlinge, Jungarbeiter*innen und Student*innen, mit einer 25%-Quote für Ausländer, getragen von der Arbeiterwohlfahrt. Meine spätere Frau und ich waren in der „Heimselbstverwaltung“ aktiv und lernten uns dort näher kennen und lieben. Seit 44 Jahren gehen wir gemeinsam durchs Leben. Viele unserer Freund*innen stammen direkt oder indirekt bis heute aus dieser Zeit!
Auch mit dem Studienplatz an der Fachoberschule für Sozialarbeit, die damals in der Nordweststadt untergebracht war, klappte es schließlich und nach sieben Jahren (1972-1979, hatte ich dann endlich mein Ziel erreicht: Sozialarbeiter zu werden, so wie meine Vorbilder aus der Schüler- Lehrlingsbewegung.
Dann kam der „Praxisschock“. Lange Stellensuche, wieder zeitweise Sozialhilfe, Zeiten der Erwerbslosigkeit und großer Selbstzweifel, ob ich diesen Beruf überhaupt ausüben kann. Berufspraktikum in der Jugendpflege der Stadt Frankfurt (unter Frau Mahlmeister und Amtsleiter Faller), Stadtjugendpfarramt, Sozialamt Königstein, Evangelische Luthergemeinde Frankfurt. Hier durch Gemeindepfarrer Jürgen Schwarz Gründung des Vereins „HILFE IM NORDEND“ (HIN), dessen Leiter und geschäftsführender Sozialarbeiter ich bis 2018 war. In dieser Zeit unzählige Fortbildungen: Unter anderem ein dreijähriges, berufsbegleitendes Zusatzstudium zum therapeutischen Gestaltberater. Die HIN arbeitet für und mit Langzeiterwebslosen, die aus allen bisherigen „Maßnahmen“ herausgefallen sind. Die Stadt Frankfurt, die Luthergemeinde und die Evangelische Kirche sowie Spender*innen und viele Ehrenamtliche unterstützen die Arbeit. Der Verein wird nun seit Mitte 2018 in „zweiter Generation“ weiterentwickelt. Über das Fortbestehen meines „beruflichen Lebenswerkes“ freue ich mich sehr!
Ein langer Weg, dessen Anfänge und Motivationen durch meinen Vorbilder aus der Schüler- Lehrlingsbewegung gefördert wurde, entstanden auch aus der Achtundsechziger-Bewegung. Ihnen habe ich viel zu verdanken.
+++ Das Projekt „Mein 1968“ – Der Aufruf +++ Schreibtipps +++ Ein Beispiel +++ Kontakt +++
Der Autor
Michael Eismann, geboren 1954 in Ernsthausen,
studierte Sozialarbeit und arbeitete nach dem Diplom unter anderem
für den sozialdiakonischen Verein der Evangelischen Luthergemeinde Frankfurt.
Bis 1994 außerdem Ausbildung zum therapeutischen Gestaltberater.
Verheiratet, keine Kinder. Er ist seit 2018 im Ruhestand.
Bild: privat