Personen aus meiner Heimat hatten Einwände gegen meine Einstellung als Lehrer
Von Hermann Reeh
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Als 68er bin ich ein „Spätberufener“. Dazu meine Vorgeschichte: 1939 in einem Dorf von 400 Einwohnern im Westerwald geboren, der einzig Evangelische in diesem Dorf war mein Großvater väterlicherseits. Die Protestanten wurden abschätzig die „Lutherschen“ genannt. Ich war Messdiener und ein treuer Sohn der katholischen Kirche.
1953 mit dreizehn Jahren aus der Volksschule entlassen, fand ich keine Ausbildungsstelle, ich arbeitete ich als Hilfsarbeiter in einer Lampenschirmfabrik, auf dem Bau und in einem Stahlwerk mit Wechselschicht. 1960 im Januar wurde ich tauglich gemustert, im Juli 60 wurde ich zur Bundeswehr eingezogen. Da ich keinen Beruf hatte, meldete ich mich zur Sanitätsausbildung, wurde Sanitätsunteroffizier, als Stabsunteroffizier verließ ich 1965 die Bundeswehr. Durch die Lehrgänge bei der Bundeswehr, durch die leitende Arbeit im Sanitätsbereich entdeckte ich erstmals, welches Potential in mir steckte, das noch entwickelt werden musste. Bis dahin hatte ich eher Minderwertigkeitskomplexe, fühlte mich auch als Hilfsarbeiter „minderwertig“. Im Sanitätsbereich war ich u.a. Leiter der Ambulanz, der Station und Schreiber des Truppenarztes. Kurse an der Volksschule während der Dienstzeit bei der Bundeswehr verstärkten mein erwachtes Selbstbewusstsein noch.
Hermann Reeh.
Bild: privat.
Nach der Entlassung aus der Bundeswehr zog es mich, vor allem der Liebe wegen, in meine „Heimat“ in das kleine Westerwalddorf zurück. Wichtig: in einem kleinen Dorf kennt jeder jeden. Ich bewarb mich bei der hiesigen Sparkasse und wurde als Angestellter eingestellt. Ein Kollege auf der Sparkasse brachte mich mit sozialistischer, pazifistischer und kirchenkritischer Literatur in Verbindung, zudem empfahl er mir die Frankfurter Rundschau. Erstmalig las in dieser Zeit ich den Satz von Kant „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienten.“ Von dieser Aussage war ich regelrecht fasziniert und stellte fest, mir hatte oft dieser Mut gefehlt. Von Kants Aufforderung machte ich in den nächsten Jahren und auch heute noch häufigen Gebrauch, sowohl auf religiösem, politischen und gesellschaftlichem Gebiet. Auch am kategorischen Imperativ orientierte und orientiere ich mich sowie an Matthäus 25.
1966 heiratete ich, zum Unglück meiner Mutter und Schwiegermutter und des ganzen Dorfes, eine „Luthersche“ und das auch noch vor dem evangelischen Traualtar. Sie haben sich alle später beruhigt.
Neben meiner Arbeit auf der Kreissparkasse, besuchte ich die Abendrealschule mit dem Ziel der mittleren Reife. In dieser Zeit begannen auch die Studentenunruhen, die Demonstrationen gegen den Schah, den Vietnamkrieg, gegen die Notstandsgesetze und gegen den Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in die CSSR. In der Abendschule diskutierte ich mit einigen Lehrern kontrovers. Der Einmarsch in die Tschechoslowakei war für mich der letzte Anstoß einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung zu stellen.
In Betzdorf gründeten wir einen Verband der Kriegsdienstverweigerer, was einen Sturm der Entrüstung nach sich zog. Samstags verteilten wir in der Betzdorfer Fußgängerzone Flugblätter gegen den Vietnamkriege, gegen die Notstandsgesetze, für die Verweigerung des Kriegsdienstes. Von der Mehrheit der Passanten wurden wir beschimpft, besonders die CDU Größen der Stadt bekundeten ihre Abneigung gegen uns. An einem Tag, als wir Flugblätter verteilten, kam ein Mann vom Ordnungsamt der Stadt und verbot uns das Verteilen, der Blätter. Er verwies auf eine Satzung der Stadt Betzdorf, nach der das Verteilen von Informationsmaterial der Genehmigung bedürfe. Ich verwies auf Artikel fünf des Grundgesetzes und erklärte, diese Satzung der Stadt Betzdorf sei grundgesetzwidrig. Aber es half nichts, wir mussten einpacken. Ich schrieb an den Petitionsausschuss des Landes Rheinland-Pfalz und verlangte die Aufhebung der Satzung. Welch ein Wunder: Der Petitionsausschuss(CDU-Mehrheit) teilte meine Rechtsauffassung. Die Satzung der Stadt wurde für ungültig erklärt. Das wurde nur zähneknirschend akzeptiert.
1968 hatte ich auf Anraten einer Lehrerin der Abendrealschule an der Pädagogischen Hochschule in Siegen/Weidenau eine „Begabtensonderprüfung“ mit Erfolg abgelegt. Das Bestehen der Prüfung berechtigte zum Studium für das Lehramt ein Grund- und Hauptschulen an einer Pädagogischen Hochschule.
Mit dem Sommersemester 1968 begann mein Studium in Siegen/Weidenau.
1967 wurde unser erster Sohn geboren, unsere finanzielle Situation war schwierig. Ich erhielt monatlich 320 Mark nach dem „Honnefer Model“, meine Frau arbeitete zeitweise als Aushilfe auf dem Büro. Das Studium war die schönste Zeit in meinen Leben. Wir studierten nicht nur, sondern beteiligten uns auch Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und gegen die Notstandsgesetze. Auch bei dem Verband der Kriegsdienstverweigerer in Betzdorf engagierte ich mich weiter.
Am 26. März 1969 schrieb ich meinen ersten Leserbrief, der in unserer Lokalzeitung veröffentlicht wurde. Er trug die Überschrift „Wer dennoch Orden trägt…“. Darin setzte ich mich kritisch mit ehemaligen Offizieren und Soldaten der Wehrmacht auseinander, die noch Hitlers Orden an ihrer Bundeswehruniform trugen. Der Leserbrief war ein Volltreffer. Ein wahrer Sturm der Entrüstung brach über mich herein. Beschimpfungen, sogar Prügel wurden mir angedroht, weil ich die Soldaten verunglimpft hätte.
1971 bestand ich das erste Staatsexamen an der Pädagogischen Hochschule mit Auszeichnung und bewarb mich in Rheinland-Pfalz um eine Stelle als Hauptschullehrer. Eine Stelle in der Nähe meines Wohnortes Steinebach wurde mir zugesagt. Ich sollte eine Stelle an der neu eröffneten Hauptschule Gebhardshain erhalten, zwei Kilometer von meinem Wohnort entfernt. Etwa zwei Wochen nach der Einreichung meiner Bewerbungsunterlagen, erkundigte ich mich bei der Bezirksregierung in Koblenz, wann ich mit einer Einstellung rechnen könne. Der zuständige Beamte meinte, es gäbe da Probleme, er wisse nicht, wieviel Planstellen genehmigt würden. Ich erinnerte ihn an seine Zusage. Dann forderte er mich auf, zu einem Gespräch nach Koblenz zu kommen.
Mit einem mulmigen Gefühl fuhr ich nach Kolblenz. Von der Vorzimmerdame wurde ich zu dem zuständigen Beamten geführt. Er eröffnete das Gespräch, in dem er sagte, Personen aus meiner Heimatregion hatten Einwendungen gegen meine Einstellung als Lehrer gemacht. Ich stehe nicht auf dem Boden des Grundgesetzes. Zum Beweis hatten sie ihm meine Leserbriefe aus der Lokalzeitung, Flugschriften, auf dem mein Name stand, geschickt. Er zeigt auf einen Stapel, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Bei dem zweistündigem Gespräch versuchte er mich immer wieder in die Nähe der DDR und der DKP zu schieben. Was ich entschieden zurückwies.
Ich forderte Beweise, für seine Unterstellungen und verwies immer wieder auf das Grundgesetz, da kannte ich mich aus. Nach zwei Stunden sagte er mir, er hole meine Einstellungsurkunde und werde sie unterschreiben.
Ich wurde also, vor dem Radikalenerlass 1972, auf meine politische Zuverlässigkeit geprüft.
Nachbemerkung: In den 1980er Jahren wurde Beamten in Rheinland-Pfalz erlaubt, Einsicht in ihre Personalakte zu nehmen. Ich machte davon Gebrauch. Der Beamte, der mich 1971 verhört hatte, war in der Zwischenzeit verstorben, er war aber ein penibler Staatsdiener gewesen. Er hatte alle Telefonate, die 1971 wegen meiner Einstellung geführt wurden, mit Namen und Aussage notiert. Anscheinend hatte man vergessen, diese Notizen aus meiner Akte herauszunehmen. Ich konnte also nachlesen, wer sich gegen meine Einstellung in den Schuldienst ausgesprochen hatte. Darunter waren zwei Landtagsabgeordnete der CDU, ein katholischer Pfarrer über das bischöfliche Ordinariat in Trier, viele Einzelpersonen, Büroleiter, alle mit Namen. In der Regel zweifelten alle an meiner Verfassungstreue. Zwei Aussagen zur
Illustration: Büroleiter (Name) warnte: „Es werde sicher eine große Unruhe im Gebhardshainer Land geben, wenn ich dort in den Schuldienst eingestellt würde.“
Schulrat(Name) meinte: „Herr Reeh ist noch zu verkraften“.
2012, vierzig Jahre nach dem „Radikalenerlass“ veröffentlichte die Rhein-Zeitung in ihrer Lokalausgabe Altenkirchen auf meine Anregung hin, einen zweiseitigen Artikel über meine Person.
Kants Aussage „Habe Mut…..“ und der Aufsatz von Adorno „Erziehung nach Auschwitz“ waren für mich auch im Schuldienst Leitbilder bei meiner Arbeit in der Schule. Noch heute freue ich mich, wenn ich ehemalige SchülerInnen treffe, die mir sagen, ich hätte ihnen das Denken und das Nachfragen sowie das Infrage stellen vermittelt.
1971 trat ich, vor allen Dingen wegen der Ostpolitik Willy Brandts, in die SPD ein.
Ich wurde bald Schriftführer und 1. Vorsitzender des hiesigen Ortsvereins. In der hiesigen Verbandsgemeinde war das öffentliche Bekenntnis zur SPD mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Die CDU erzielte bei Wahlen bis zu 85%. Erstmals trugen wir auch bei Tageslicht Infomaterial der SPD von Haus zu Haus und befestigten Plakate. Bei der Bundestagswahl 1972 erreichten wir fast dreißig Prozent.
Vom Amt des 1. Vorsitzenden trat ich zurück, weil der Ortsverein einen Beschluss pro Atomkraft verfasste. Ich bliebe aber Mitglied der SPD und wurde bald in den Verbandsgemeinderat gewählt, wo wir anfangs mit drei Genossen der CDU-Mehrheit von 21 Mitgliedern gegenüberstanden. 25 Jahre war ich Mitglied im Verbandsgemeinderat.
1977 erfuhren mein Freund und Genosse Heinz Jahns von den Jahrestreffen der ehemaligen SS Divisionen Leibstandarte Adolf Hitler und Hitlerjugend in Nassau/Lahn. Und von der SS-Division Hohenstaufen in Altenkrichen Westerwald.
Zu den Treffen gingen als Gäste auch Vertreter des öffentlichen Lebens: Bürgermeister, Beigeordnete, Land- und Bundestagsabgeordnete, für die Bevölkerung in Nassau und Altenkirchen waren die ehemaligen SS-Mitglieder willkommene Gäste.
1977 organisierten Heinz Jahns und ich eine Demonstration gegen das Treffen der SS-Divisionen in Nassau, die sich dort immer zu Pfingsten trafen. Mit einem kleinen Häuflein Demonstranten(43) zogen wir durch Nassau, wurden von der Bevölkerung beschimpft und hatten Glück, dass einige ausländische Fernsehteams(auch ein israelisches Fernsehteam) und andere Pressevertreter anwesend waren, sie bewahrten uns von den angedrohten Prügel.
Für den Pfingstsamstag 1978 organisierten wir wieder eine Demonstration in Nassau, erhielten Unterstützung von der Christlich-Jüdischen Gesellschaft in Siegen, eine Bitte an die örtliche SPD um Unterstützung, blieb unbeantwortet. Ca. 1500 Demonstranten versammelten sich vor der Stadthalle, in der die ehemaligen SS-Angehörigen tagten, und zogen mit einem Demonstrationszug zum Standort der ehemaligen Synagoge, Pfarrer Martin Stöhr von der Ev. Akademie in Arnoldshain hielt dort eine Ansprache. Viele Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehsender berichteten über die Demonstration, auch die Frankfurter Rundschau berichtete, sogar der Stern brachte eine Beitrag mit Bild, auf dem Foto stehe ich einem SS-Mann gegenüber. Er mit geballter Faust, ich mit ausgestrecktem Finger(Anlage).
Eine Woche später demonstrierten wir in Altenkirchen gegen das Treffen der SS-Division Hohenstaufen. Auch diese Demonstration war ein voller Erfolg. Kurz nach den Berichten in der Presse, erklärte der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, die Angehörigen der ehemaligen SS-Divisionen seien in Rheinland-Pfalz nicht erwünscht.
Auf unsere Initiative hin, fanden erstmals 1978 Gedenkfeiern anlässlich der Pogromnacht 1938 an den Standorten von Synagogen im Kreis Altenkirchen(Altenkirchen und Hamm) statt. Dabei wurden wir von der Christlich-Jüdischen Gesellschaft Siegen und von den evangelischen Pfarrern in Hamm unterstützt. In Altenkirchen war kein evangelischer Pfarrer bereit, an der Gedenkfeier zu sprechen, Wir mussten einen Pfarrer aus einem Nachbarort bitten.
Schon Anfang der siebziger Jahre interessierte ich mich für Entwicklungspolitik.
Willy Brandts Rede von 1974 bei dem Kinderhilfswerk Unicef in Genf, veröffentlicht in der Frankfurter Rundschau, und sein Nord-Süd-Bericht „Das Überleben sichern“, von 1979 waren für mich Motivation mich noch stärker in diesem Bereich zu engagieren. Bereits 1978 hatte ich mit Schülern die „Aktion Jute statt Plastik“ von der gepa im Unterricht thematisiert. Höhepunkt war ein kath. Gottesdienst, den die Religions-lehrerin meiner Klasse mit den Schülern gestaltete. Nach den Gottesdiensten verkauften wir Jute Taschen. In der Lokalzeitung wurden Berichte über die Aktion veröffentlicht.
1982 rief ich zusammen mit einem Freund zur Gründung des „Aktionskreises Eine Welt Handel auf“. In den ersten Jahren verkauften wir Waren an Ständen auf dem Markt oder bei Gemeindefesten von Kirchengemeinden. 1996 eröffneten Wir einen Weltladen in Betzdorf. 32 Jahre war ich 1.Vorsitzender des Vereins. Heute arbeite ich noch ehrenamtlich im Weltladen mit. Zudem engagiere ich mich im Umwelt- und Klimaschutz sowie als Friedensaktivist. Schon einige Jahre mache ich im Herbst eine Friedens- oder Umweltfahrradtour mit einem bestimmten Thema zu Misereor nach Aachen und fahre dabei etwa 300 Kilometer mit dem Fahrrad. Die letzte Fahrradtour 2018 stand unter dem Leitwort von Käthe Kollwitz „Nie wieder Krieg“. Anlass war das Ende des 1. Weltkrieges vor 100 Jahren. Ich fuhr Orte an, die eine Bedeutung für Frieden und Krieg hatten, u.a. die Städte Malmedy, Spa und Eupen in Belgien.
Unsere Lokalzeitungen –Rhein-Zeitung und Siegener Zeitung – berichten über diese Touren. Ich rufe dann zu Spenden für Kriegsopfer, Friedenprojekte oder Klimaschutzprojekte auf. Projekte, die Misereor unterstützt.
Fazit: Proteste, Leserbrief gegen nationale und globale Ungerechtigkeit, gegen Aufrüstung, gegen Ausbeutung und Naturzerstörung, gegen Nationalismus, gegen nationale Engstirnigkeit, gehören auch heute noch wesentlich zu meinem Leben.
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Der Autor
Hermann Reeh,
Bild: privat