In den Leserforen vom 6. und 8. Juli geht es um Antisemitismus, die Gefahr von rechts und auch wieder um den Klimawandel bzw. das, was dagegen getan werden müsste: Lasst uns schon die Rohstoffe mit einer CO2-Steuer belegen, fordert Jürgen Hoffmann aus dem Rheingau. Dieser Thread fasst die Print-Leserforen vom 6. und 8. Juli zusammen. Außerdem erschienen an diesen beiden Tagen Leserbriefe der Beitrag „Die Ereignisse der 68er Zeit wirkten im Leben weiter“ in der Serie „Mein 1968“, der im FR-Blog natürlich separat veröffentlicht wird. Unter folgenden Links sind die pdf-Dokumente der Leserforum-Zeitungsseiten vom 6. und 8. Juli zu finden: zu finden: 6. Juli 2019 / 8. Juli 2019 Seite 1 und 8. Juli 2019 Seite 2. Hier nun die vollständigen Zuschriften in ihren ungekürzten Versionen. Alle in diesen Leserbriefen angesprochenen Themen können in diesem Thread diskutiert werden. Bitte nennen Sie zu Beginn Ihres Kommentars das Thema, zu dem Sie sich äußern.
Menschenrechte für alle!
Zu: „Hass geht nicht von selbst weg“ und „Die Linke ist verwirrt“, FR-Politik und -Feuilleton vom 24. Juni
Imre Grimms Interview mit Tuvia Tenenbom im Vergleich zu dem von Anja Reich mit Eva Illouz zeigt in entlarvender Weise und zum wiederholten Mal die Art, wie eine offene Debatte zum Konflikt zwischen den Palästinensern und Israel zunehmend lückenlos in diesem Land unterdrückt und diskreditiert wird – im Interesse der israelischen Regierung unter Benjamin Netanjahu sowie dem Zentralrat der Juden in Deutschland – (der ja selbst nur einen Teil der Juden in Deutschland vertritt). Dafür steht exemplarisch wie Josef Schuster und andere Vereinfacher den Leiter des Jüdischen Museums in Berlin, Peter Schäfer aus dem Amt gemobt hat – unwiedersprochen von unserer Bundesregierung!
Frappierend bei Tuvia Tenenbaum, wie er auch die interne Kritik in Israel und/oder von Juden in Deutschland zu diffamieren versteht: „Sich selbst hassende Antizionisten“ sind für ihn Menschen, die mit dieser Art von Zensur (Peter Schäfer nicht mehr tragbar; BDS-Bewegung pauschal antisemitisch, Kritik an Israels Besatzungspolitik – verschwiemelt formuliert – aber doch fast eigentlich immer im Grunde doch…. als antisemitisch qualifiziert) und Ausgrenzung (keine offene Diskussion im Jüdischen Museum; keine Orte für niemand mehr, die/der der BDS-Bewegung nahesteht) nicht einverstanden sind.
Erschreckend, dass sich daran fast der ganze Bundestag bereit ist zu beteiligen!
Eva Illouz ist gegenüber Tenenbom deutlich differenzierter – aber auch sie verstrickt sich in einer merkwürdigen Weise in der Auseinandersetzung mit dem, was in ihren Augen Antizionismus sein könnte – zwischen moralisch verwerflich bis hin zu hmmja – wenn es denn Kritik ist an der Art und Weise, wie die jüdische Vorherrschaft im Staatsrecht verankert ist…… was dann?
So geht das einfach nicht! „Paranoide Säuberungsversuche“ nennt Yossi Bartal diese“ Hetzkampagnen gegen Verteidiger der Menschenrechte“! Und hat seine Mitarbeit im Jüdischen Museum aus Solidarität mit Peter Schäfer gekündigt.
Es muss in diesem und anderen Ländern um Menschenrechte für alle gehen, nicht nur für Juden in und außerhalb Israels! Das sollte auch bei allen Antisemitismusbeauftragten dieses Landes ankommen.
Hannah Erben, Hamburg
Zynische Einteilung
Zu: „Ins Herz des Staates gezielt“, FR-Politik vom 28. Juni
Man muss sich die Augen reiben! Markus Decker schreibt: „dass ein Rechtsterrorist nun einen Repräsentanten des Staates hinrichtete, schickt ein anderes, weil beängstigenderes Signal als die NSU-Morde (…) das Signal, dass sich nicht mehr allein Migranten oder Vertreter der ‚Antifa‘ fürchten müssen.“
Nach Deckers Auffassung war es also durchaus weniger (oder vielleicht gar nicht?) beängstigend, wenn sich in Deutschland „allein Migranten oder Vertreter der ‚Antifa‘“ vor Hinrichtungen fürchten mussten. Der abgedroschene RAF-Vergleich wird bemüht, um mit dieser zynischen Einteilung der Opfer in zwei Klassen auch gleich noch die bisherige Blindheit gegenüber dem Rechtsterror zu verharmlosen. Dabei ist man ja noch nicht mal aufgewacht, als Alexander Gauland mit seinem „Wir werden sie jagen!“ das Zielfernrohr eindeutig auf Politiker richtete. „Jagen“, also nach Abschussliste aufspüren und töten – das genau ist doch mit Walter Lübcke passiert! Aber auch schon mit Halit Yozgat und anderen. Dieser Kommentar passt seltsam schlecht zur Rhetorik der Titelseite dieser FR-Ausgabe. Robert Schweitzer, Lübeck
Die Frisurenmode der Hitlerjugend
Kolumne: „Der letzte modische Schrei“, FR-Meinung vom 25.6.
Der letzte modische Schrei“ …ist nicht unbedingt ein völlig neuer, das könnte auch Michael Herl wissen, alt genug ist er ja (sorry). Die Mode kehrt nach dreißig, vierzig, manchmal auch erst nach 75 Jahren zu ehemals „letzten“ Schreien zurück. Ich erinnere mich noch gut, dass es in den 1960ern bis in die 70 er hinein für Jugendliche nicht nur todschick, sondern quasi „Pflicht“ war, Latschen aller Art zu tragen (Birkenstock wäre damals für mich zu teuer gewesen, falls es sie schon gegeben haben sollte).
Die „75 Jahre“ führe ich an, weil seit ein paar Jahren und immer häufiger (es ist fast eine Epidemie) die Hitlerjugendfrisuren bei den jungen und manchmal auch gar nicht mehr so jungen Männern en Vogue sind (auch Herbert Grönemeyer konnte man in diesem Jahr schon auf einem Foto so frisiert sehen). Ich frage mich deshalb seit längerem, ob man den Männern nicht mal einen Tip geben könnte, wessen Frisurenmode sie da eigentlich auf dem Kopf spazieren tragen.
Ansonsten aber: Die Problemaufzählung von Michael Herl ist neben erschreckend auch amüsant, vor allem in der von ihm gewählten Zusammenstellung.
Roswitha Ristau, Braunschweig
Die emotionale Ebene ist entscheidend, nicht die intellektuelle
Rechtsgesinnte im Sicherheitsapparat: „Es fehlt an politischer Bildung“, FR-Politik vom 29. Juni
Der Autor des Artikels lässt den Polizeiwissenschaftler Rafael Behr bzgl. rechtsextremistischer Aktivitäten in den Sicherheitsbehörden dahingehend zu Wort kommen, dass sich in der Polizei eine „rigorosere Grundstimmung“ entwickelt habe, dass es „rigide Einstellungen“ gebe und dass „die Unlauteren lauter würden“. Als ein Mittel dagegen schlägt er eine intensivere politische Bildung vor. Dabei handelt es sich um einen guten alten deutschen Denkfehler. Man denke an die Entstehung des Bildungsbürgertums nach der gescheiterten Revolution 1848, daran, dass auch gut gebildete Menschen in der Nazi-Zeit ungeheure Verbrechen begingen oder an die Diskussion, ob KZ-Besuche von Schülern hilfreich sind. Bei extremen Einstellungen handelt es sich nicht um ein Problem fehlender Bildung, dem mit mehr Bildung zu begegnen ist, sondern um Gefühle (Ressentiments): Angst, Ärger, Enttäuschung, Wut, Hass. Diesen muss man begegnen! Es geht um eine „L’éducation sentimentale“ (Flaubert), d.h. man muss auf der emotionalen Ebene erwidern, entängstigen und nicht auf der intellektuellen. Aber angesichts der Dauerhaftigkeit dieses fehlerhaften Ansatzes steht zu befürchten, dass sich nichts ändert.
Rüdiger Erdmann, Pattensen
Ein weiterer Skandal
Arbeitsrecht: „Lockruf der Richter“, FR-Wirtschaft vom 29. Juni
Man mag’s nicht glauben, was in obigem Artikel zu lesen ist: da empfehlen zwei Bundesverfassungsrichter der Kirche den „Chefarzt-Fall“ (allein schon ein Skandal, dass der Arzt 10 Jahre um sein Recht kämpfen und bis zum EuGH gehen musste) noch einmal vor das oberste deutsche Gericht zu tragen.
Sind diese Herren denn durch ständigen Weihrauchdunst mittlerweile so vernebelt, dass sie nicht mehr klar denken können und/oder haben sie gar noch ein Parteibuch der CSU, das ihnen den Blick gefährlich trübt? Wie anders ist ein solcher Vorschlag zu bewerten?
Wissen sie denn nicht, dass es ein Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates gibt, und dass selbige Richter durch ihren Eid angehalten sind, dieses Verfassungsgebot durchzusetzen (erinnert sei an die Artikel 136 – 141 der Weimarer Verfassung, die 1949 in das Grundgesetz aufgenommen wurden, die – kurz gesagt – darauf hinweisen, dass es keine Staatskirche gibt, dass alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gleichberechtigt sind, und dass die finanziellen Verflechtungen zwischen Staat und Kirche aufzulösen seien).
Erinnert sei daran, dass die Kirchen zur Finanzierung der von ihren Wohlfahrtsverbänden Diakonie und Caritas geführten Einrichtungen der Pflege und medizinischen Versorgung nur ca. 2% der Mittel beisteuern, der Rest aber (98%!) von den Kranken-und Pflegekassen, den Patienten selbst und dem Staat kommt.
Trotzdem schreiben die kirchlichen Arbeitgeber ihren Angestellten vor was sie zu glauben und wie sie sich zu verhalten haben. Ein weiterer Skandal, der durch den Hinweis auf das in der Verfassung verankerte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen legitimiert werden soll. Tatsächlich aber wird die Verfassungsvorgabe Trennung von Staat und Kirche häufig ignoriert.
Höchste Zeit, dass die Kirchen als Organisationsform geführt werden, die der staatlichen Gesetzgebung und Rechtsprechung unterstellt sind wie alle andere Organisationen auch.
Lorenz Breitinger, Rimpar
Die Atmosphäre der Erde ist die größte Müllhalde geworden
Kolumne: „Spurengas, Klima und Biergarten“, FR-Meinung vom 29. Juni
Als für unseren Hausmüll die Deponien nicht mehr reichten, bauten wir Verbrennungsanlagen. Wir zahlen dafür heute Müllgebühren. Als unser Abwasser die Flüsse verschmutzte und Fische starben, bauten wir Kläranlagen und zahlen heute dafür Abwassergebühren. Doch unsere gasförmigen Abfälle gehen in die Luft.
Jetzt müssen wir endlich verstehen, dass auch unsere Abgase aus Schornsteinen und Auspuffen einen riesigen Müllberg verursachen, zum Schaden von Klima, Ozeanen und Böden. Nur können wir die Abgase nicht in Mülltonnen, Becken oder Containern einfangen oder auf Müllhalden deponieren. Deswegen zahlen wir bis heute noch – fast – keine Abgasgebühren. Und die Pflanzen, die die Abgase verwerten können – von den Algen bis zu den Bäumen – schaffen es nicht schnell genug. Im Übrigen fehlen ihnen über kurz oder lang die Nährstoffe, besonders das Phosphat.
Die Atmosphäre ist die größte Müllhalde geworden, ohne Zäune und Mauern, grenzenlos. Deshalb müssen die Abgase einen Preis bekommen, wie Müll und Abwasser, schnell und effizient, um die Mengen zu begrenzen und zu reduzieren. Am effizientesten ist es, die Rohstoffe, die die Abgase – besonders das Treibhausgas Kohlendioxid – verursachen (Öl, Erdgas, Kohle, Holz), am Ursprung ihrer Nutzung mit Abgaben zu belegen, ob als CO2-Steuer, -Abgabe oder –Gebühr, Tonne für Tonne. Vom Ursprung an wirken diese Kosten auf jeden Schritt der Nutzungskette. Viele bestehende Förder- und Lenkungsmaßnahmen können zum Ausgleich abgebaut und eingespart werden, EEG, Zuschüsse für E-Autos, manche Abgaben im Strompreis, CO2-Zertifikate, Autobahnmaut etc.
Die Energie- und Verkehrswende ist auch eine Kulturwende; wir müssen umdenken und anders glücklich werden. Unsere Atemluft, unsere Ozeane dürfen nicht länger zur Müllhalde verkommen!
Die Einführung einer CO2-Steuer ist konsumorientiert: Wer viel Öl, Gas etc. verbraucht und damit mehr CO2 erzeugt als andere, zahlt auch mehr für Umweltschäden, unsaubere Luft und Klimaverschmutzung. Eingeführt in zwei oder drei Staffeln/Jahren bietet sie die kurze Zeit, die uns noch bleibt, zur Neuorientierung, Umstrukturierung und zur Umstellung auf ein neues Lebensgefühl. Das haben wir hingekriegt mit der aufkommenden Motokultur in der 50er Jahren, der Digitalisierung der Fotografie und der Kommunikation mit digitalen Medien; das schaffen wir!
Jürgen Hoffmann, Oestrich-Winkel
Kipp-Punkt erreicht
Erwiderung auf „Klimaschutz seit 40 Jahren“, Leserforum vom 28. Juni
Sehr geehrte Frau und Herr Momberg, es ist schön dass Sie zu der Sorte Mensch gehören, die sich beschränken können und versuchen den eigenen ökologischen Fußabdruck möglichst klein zu halten. Wären Sie jedoch damit einverstanden, dass das Stehlen künftig erlaubt ist, weil sie selbst ja ehrlich sind?
Mein Mann und ich, wir haben ein Passivhaus mit Solaranlage auf dem Dach, wir haben kein Auto bewegen uns fast nur mit dem Fahrrad oder dem ÖPNV fort und nehmen nur zu speziellen Anlässen ein Carsharing-Auto. Die Zahl der Flüge in meinem Leben, kann ich ebenfalls an einer Hand abzählen. Aber was bringt das, wenn die Leute um uns herum ganz anders handeln. Wenn Leute sechs mal im Jahr in den Urlaub fliegen und große SUV fahren? Wenn Fliegen weiterhin so billig ist, weil es keine Kerosinsteuer gibt und wenn Inlandsflüge nicht endlich verboten werden? Wenn der Strom zur Herstellung von Produkten, die wir kaufen, nicht konsequent aus erneuerbaren Energien stammt und viel zu viele Waren um den Erdball transportiert werden ?
Was bitte meinen Sie mit Klima-Hysterie? Eine Studie, die im Januar dieses Jahres in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ veröffentlich wurde kommt zu dem Schluss dass die Antarktis seit 2009 jährlich fast 252 Millionen Tonnen Eis verloren hat. Das Eis taut dort jetzt 6 Mal so schnell wie zwischen 1979 und 1990. Schon 2014 stellt den Wissenschaftler erschrocken fest, das der riesige Eisschild in Westantarktis unwiderruflich in Rutschen gekommen kommen ist und ins Meer rutscht. Damit ist einer der gefährlichen Kipp-Punkte erreicht, der nicht mehr rückgängig zu machen sind! Das arktische Eis und Gletscher im Inland ziehen sich weit zurück und ständig haben wir neue Hitzerekorde. All das haben uns Forscher bereits vor vielen Jahren vorausgesagt. Leider waren die Berechnungen sehr konservativ und vorsichtig, da die Klimaforscher befürchteten, sonst nicht seriös zu wirken und ernst genommen zu werden. Deshalb kommt nun alles viel schlimmer als befürchtet. Der Permafrostboden taut jetzt schon auf, Forscher hatten erst in 70 Jahren damit gerechnet ! Wenn das so weiter geht, setzt der Boden große Mengen von Methan frei, welches auf 100 Jahre gerechnet ein 28 Mal wirksameres Treibhausgas ist, wie Kohlendioxid! Schon jetzt gibt es überflutete Inseln im Pazifik, die aufgegeben werden mussten,und durch den Klimawandel ausgelöste Missernten.
Unsere Bundesregierung tut leider nicht das, was sie tun müsste. Ich habe mich auf der Demonstration am Tagebau Garzweiler an einem RWE-Stand mit einem Mitarbeiter unterhalten. Der Mann erzählte mir von zwei nagelneuen Gaskraftwerken, die den Strom auf viel saubere Weise mit viel weniger CO2-Ausstoß herstellen könnten. Diese Kraftwerke stehen still und werden nicht benutzt ! Er erzählte mir auch, um wieviel billiger RWE den Strom mit dem Braunkohlekraftwerk produzieren kann. Es ist der kurzfristige Gewinn, der billige Strom, für den die Zukunft der Menschheit auf unserem Planeten geopfert wird! Der Mitarbeiter von RWE hat selbst kleine Kinder und war sehr nachdenklich. Ihm ist klar, dass wir so nicht weitermachen können und dass es auch um die Zukunft seiner eigenen Kinder geht! Eine konsequente Umsteuerung in der Politik ist jedoch leider in weiter Ferne. Es gibt z.B. immer noch Kohle Subventionen und es wird viel zu wenig in den ÖPNV investiert. Ich habe mich mit einem Mann unterhalten, der im Güterzugverkehr tätig ist. Es werden immer weiter Güterzugsgleise abgebaut, weil sie nicht „rentabel“ sind. Häufig wissen die Bahnmitarbeiter nicht mal mehr wo sie die Güterzüge noch hinstellen sollen! Soviel zum Programm „Güter auf die Schiene“.
Es ist deshalb wichtig, dass vernünftige Menschen wie Sie endlich aufwachen und Druck auf die Politik machen ! Wenn wir jetzt nichts mehr machen haben wir weitere Kipp-Punkte erreicht und dann ist es zu spät. Dann können wir tun, was wir wollen, der Klimawandel wird sich von selbst immer weiter beschleunigen. Wie wir in den nächsten zehn Jahre handeln bestimmt, wo und wie Menschen auf diesem Planeten künftig noch leben können. Ich weiß nicht, wie alt sie sind und ob sie das „dicke Ende“ des Klimawandels noch erleben werden. Aber bitte engagieren sie sich für die nachfolgenden Generationen und machen sie Druck auf die Politiker der CDU auch und gerade weil Sie diese bisher gewählt haben!
Antje Sander, Darmstadt
Größere Visionen
Zu: “‚Politik ist keine Vorabendserie‘“, FR-Politik vom 26. Juni
Die Philosophie von Olaf Scholz kann nicht ganz überzeugen, auch wenn der Vize-Kanzler Recht damit hat, dass ein Beispiel wie Dänemark nicht für eine Renaissance der Sozialdemokratie taugt, da bei genauerem Hinsehen die neue Ministerpräsidentin Mette Frederiksen bei der letzten Wahl zum Folketing ein eher dürftiges Ergebnis erreicht hat und in arithmetischer Hinsicht vornehmlich von dem Erfolg von anderen Parteien profitiert. Denn die Probleme von CDU und CSU ändern nichts daran, dass sich die SPD derzeit in einer Jahrhundertkrise befindet, aus der heraus nur größere Visionen und Gesellschaftsentwürfe helfen, die wirklich etwas verändern. Wobei gerade hier das große Manko der großen Koalition liegt, wenn man nur einmal daran denkt, wie wenig finanzielle Mittel im neuen Bundeshaushalt für die Digitalisierung und die künstliche Intelligenz (KI) bereit gestellt werden, wo selbst kleinere Länder auf der Welt wie Israel oder Singapur deutlich mehr Geld ausgeben. Deshalb sollte der Finanzminister dringend seinen Kurs stärker hinterfragen, zumal schon in seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister das Thema Internet als aktive politische Gestaltungsaufgabe viel zu träge angegangen wurde, obwohl man sich rechtzeitig auf die Zukunft vorbereiten muss!
Zu: „Menschenrechte für alle!“
FR-Leserin Hannah Erben hat deutlich auf die Verlogenheit einer Politik hingewiesen, die Kritik an Israel pauschal als Antisemitismus diffamiert. Jüdische Intellektuelle wie Yossi Bartal, Moshe Zuckermann oder Moshe Zimmermann laufen gegen solche Vereinfachungen Sturm. Doch sie werden nicht gehört. Stattdessen wurden dem Leiter des jüdischen Museums in Berlin, dem renommierten Judaisten Peter Schäfer, einseitige Darstellungen im Rahmen der Jerusalem-Ausstellung dieser Einrichtung vorgeworfen, worauf dieser schließlich seinen Rücktritt erklärte.
In Deutschland folgen Bundesregierung, Bundestag und der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung den Merkmalen eines „3-D-Tests für Antisemitismus“, der von dem rechten israelischen Politiker Natan Scharanski (Likud) formuliert wurde. Scharanski stammt aus der Sowjet Union und war neun Jahre in einem sibirischen Straflager inhaftiert.
Das erste D steht für Dämonisierung und meint unzulässige Vergleiche zwischen palästinensischen Flüchtlingslagern und dem Gaza-Streifen mit Auschwitz sowie dem Warschauer Ghetto.
Das zweite D bedeutet doppelte Standards, also die propagandistische Herausstellung vermeintlicher Menschenrechtsverletzungen in Israel, denen gegenüber solche in China, Iran oder Russland heruntergespielt würden.
Das dritte D meint Delegitimierung und versteht darunter die Infragestellung des Existenzrechts Israels bzw. dessen strikte Ablehnung.
Solche Einschätzungen sind durchweg von politischen Interessen geleitet und in den meisten Fällen leicht zu entkräften. Populär sind sie vor allem im arabischen Raum, weil mit ihnen die inneren Probleme der Nachbarländer Israels (autoritäre Strukturen, religiöser Fundamentalismus und massive wirtschaftliche Probleme) verschleiert werden. Sie werden jedoch auch von deren Unterstützern in anderen Ländern instrumentalisiert, um jeweils eigene politische Interessen zu verfolgen. Aber auch die nationalistischen und ultraorthodoxen Parteien in Israel bedienen sich dieser Klischees, um Ängste in der Bevölkerung zu schüren und diese in Zustimmung für ihre eigenen politischen Ziele umzumünzen.
Allerdings sind sie nicht zwangsläufig mit Antisemitismus gleichzusetzen. Denn letzterer ist eindeutig rassistisch motiviert und hat seine Ursprünge im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts vor allem in Deutschland und Österreich. Er basiert auf dem jahrhundertelangen christlichen Antijudaismus des so genannten Abendlands. Der Begriff selbst wurde von Wilhelm Marr 1879 geprägt, einem politischen Journalisten, der im Judentum nicht eine religiöse Gruppe, sondern eine durch äußere und kulturelle Merkmale bestimmte minderwertige Rasse ansah, die der germanischen nicht gleichwertig sei. Die Vermengung von Juden- und Germanentum würde zur Auslöschung des letzteren führen.
Dem rassistischen Schriftsteller und Schwiegersohn Richard Wagners, Houston Stewart Chamberlain, der ähnlich wie Marr und dessen Anhänger dachte, wollte deswegen die arische Abstammung Jesu nachzuweisen. Dieser sei weder Jude noch Palästinenser, sondern römischer Abkunft gewesen – ein sowohl historischer als auch theologischer Irrsinn. Alfred Rosenberg und Adolf Hitler zählten zu Chamberlains bekanntesten Rezipienten.
Natan Scharanskis „3-D-Test“ vermengt antijüdischen Rassismus mit den politischen Interessen nationalistischer Kreise Israels. Eines der ersten Opfer dieser abwegigen und politisch durchschaubaren Kategorisierung war Günter Grass. Der hatte in seinem im Frühjahr 2012 veröffentlichtem Gedicht „Was gesagt werden muss“ vor der Lieferung deutscher U-Boote an Israel gewarnt. Der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger befürchtete, dass diese Schiffe mit Atomraketen bestückt werden könnten, die sich gegen den Iran richteten. Grass wörtlich:
„Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern, / mehr noch, allen Menschen, die in dieser / vom Wahn okkupierten Region / dicht bei dicht verfeindet leben / und letztlich auch uns zu helfen.“
Auch Jakob Augstein, Herausgeber der Wochenzeitung „Freitag“, handelte sich den Vorwurf ein, Antisemit zu sein, weil er Kritik an der israelischen Politik äußerte. Im November 2012 entgegnete Augstein auf derartige Anfeindungen im SPIEGEL, dass der Antisemitismusvorwurf zu oft gebraucht werde, um Israels Besatzungspolitik vor jeder Kritik zu schützen. Damit werde der Begriff bedeutungslos und zur beliebigen Beschimpfung. Das nütze wirklichen Judenfeinden und schade Israel.
Dennoch werden beispielsweise das „Mideast Freedom Forum Berlin“ oder das „Simon Wiesenthal Center“ nicht müde, die 3-D-Methode zu propagieren. Besondere Resonanz findet diese u.a. beim umstrittenen Publizisten Henryk M. Broder und dem übereifrigen, aber nicht wissenschaftlich-seriös arbeitenden Antisemitismusforscher Matthias Küntzel, der Netanjahus und Trumps Anti-Iran-Kurs geradezu sklavisch unterstützt.
Der im August 2018 in Tel Aviv verstorbene Schriftsteller und Friedensaktivist Uri Avnery hielt die in Deutschland tabuisierte Kritik am Staat Israel für antisemitisch, weil das allen Antisemiten der Welt in die Hände spiele.
Avnerys Haltung diametral entgegen steht regelmäßig die Position des Zentralrats der Juden in Deutschland. Dafür ein Beispiel: Als der in Limburg an der Lahn ansässige Finanzmakler Markus Stillger, ein Mitglied der CDU, Anfang Juli 2017 als Reaktion auf die Krawalle am Rand des Hamburger G20-Gipfels „einen kleinen Holocaust“ gegen gewaltbereite Demonstranten forderte (im Klartext: die systematische Ermordung von Menschen nach dem Beispiel des NS-Staats), erntete er regional und überregional dafür viel Protest; einige Bürger stellten Strafanträge, die aber vom zuständigen Oberstaatsanwalt in Limburg nicht angenommen wurden, weil der Aufruf nicht die Merkmale der Volksverhetzung erfülle. Der Zentralrat hüllte sich in Schweigen.