Die Leserbriefe vom 18. Juni 2019 befassen sich mit folgenden Themen: Wälder sind CO2-Senken, CDU attackiert die Grünen, Hasskommentare im Fall Lübcke, Hungerlöhne in der globalen Textilproduktion, Methoden von „Park & Control“ und: Solidarisches Wirtschaften ist möglich. Unter folgenden Links sind pdf-Dokumente der beiden Zeitungsseiten zu finden: Seite 1 und Seite 2. Und nun kommen die vollständigen Zuschriften in ihren ungekürzten Versionen. Alle in diesen Leserbriefen angesprochenen Themen können in diesem Thread diskutiert werden. Auf geht’s!
Wälder sind auch CO2-Senken
Zu: „Die Wälder leiden“, FR-Wirtschaft vom 12. Juni
„Die Wälder leiden“ und wir leiden, besonders bei Bränden, mit. Positiv fällt beim Betrachten der Grafik auf, dass die Zahl der Waldbrände in D trotz des Temperaturanstiegs abgenommen hat. Das ist dem Personal zu verdanken, das , wie ich 2018 am Fernseher verfolgen konnte, die Waldflächen rund um die Uhr auf dem Schirm hatte und Brandnester schnell erkannte und erstickte.
Bei der Aufforstung mit trockenheitsresistenten Laubbäumen haben die Forstleute hoffentlich den tiefen, dunklen Märchenwald im Sinn und nicht den lockeren, sonnendurchfluteten. Es wurde nach den letzten Sommern nämlich nachgewiesen, dass nur Flächen mit eng stehenden, Schatten spendenden Bäumen der Hitze trotzten und Inseln relativer Kühle und Feuchtigkeit bildeten.
Verstärkt beachtet wird neben den bekannten Funktionen der Wälder auch die Aufgabe, als CO2-Senke zu dienen. Dazu müssen die Bäume aber stehen bleiben. Werden sie gefällt, halten sie nur das CO2 der Vergangenheit fest, falls sie nicht verbrannt werden. Kohle verhält sich genau so.
Sollen, vielleicht wegen einer Baumaßnahme, alte Bäume gefällt und der Verlust durch Anpflanzung neuer junger Bäume an anderer Stelle kompensiert werden, ist der Umwelt, dem Klima Genüge getan – denkt man als gutwilliger Bürger. Genauer googelnd hat man aber folgende Situation vor sich: Zu den vage als „alt“ bezeichneten Bäumen gehört genau vermessen eine Buche, 80 Jahre alt, 23 Meter hoch, Stammdurchmesser 30cm in 1,30m Höhe. Sie hat in ihrem Leben 1 Tonne CO2 gebunden. Wird diese Buche gefällt und im schlimmsten Falle im Kamin oder per Pellets verbrannt, wird 1 t CO2 freigesetzt ( vorher noch die Sammeltätigkeit des Baumes abgebrochen). Kurzfristig wird die Atmosphäre, die eigentlich entlastet werden soll, zusätzlich mit über 1 t CO2 befrachtet. Das betrifft von mehreren nur einen Baum. Ein Jungbuchensetzling als Ersatz bindet praktisch null CO2. Er wird gepflanzt, um in 80 Jahren die Buche von heute voll zu ersetzen. So lange wartet die Klimakatastrophe vermutlich nicht. Meinen wir es mit der Klimarettung ernst, muß der alte Baum stehen bleiben. Alte Bäume zu fällen und junge als gleichwertigen Ersatz zu bezeichnen ist Irreführung. Müssen Bäume fallen, ist dies ehrlich als zusätzliche CO2-Belastung zu deklarieren.
Volker Knuth, Hamburg
Künftige Koalitionen
Zu: „Die Socken von gestern“, FR-Politik vom 11. Juni
Es ist auffallend, wie wenig Grundsätzliches und Weiterführendes zu der gegenwärtigen deutschen Parteien-Landschaft in fast allen Medien zu finden ist. Deshalb meine Deutung der Ereignisse: Die bisherigen Groß-/Volks-Parteien befinden sich im Sinkflug und müssen sich dieser Situation endlich stellen. Alles Gefasel von einer „Trendwende“ (der dann Leute geopfert werden, wenn sie nicht eintritt) kann man vergessen. Sogar in unserer bayerischen Nachbarschaft freut sich die CSU schon, wenn sie mehr als 30 Prozent erreicht.
Die künftige Parteien-Landschaft wird so aussehen: Es gibt drei Parteien mit zweistelligen Wahlergebnissen: CDU/CSU, SPD, Grüne. Ihr Stimmenanteil wird zwischen zehn und 25 Prozent liegen (mit kleineren Ausreißern nach oben oder unten. Außerdem gibt es drei Einsteller: FDP, Linke, AVD (das ist eine Abkürzung für „Arschlöcher Verderben Deutschland“). Die Funktion einer solchen Protestpartei, die programmatisch von einem großen Teil ihrer eigenen Wähler*innen nicht ernst genommen wird, kann in bestimmten Situationen auch von den andern Parteien übernommen werden.
Konsequenzen: Die Zweisteller müssen überlegen, ob damit nicht auch die Chance verbunden ist, sich von einer (schwachen) Breitband-Programmatik zu verabschieden und mit besonderen Schwerpunkten wieder stärker zu wirken. Koalitionen werden nur in Ausnahmefällen Zweier-Koalitionen sein können. Dreier-Koalitionen können die Absichten unterschiedlicher Wählergruppen/Gesellschafts-Milieus vielleicht eher erfüllen, haben aber mehr Unwucht. Die stabilere politische Willensbildung der alten Volksparteien wird mehr Wähler*innen-Wanderungen weichen.
Ich fände es sinnvoll, sich über diese längerfristigen Veränderungen in unserer Demokratie wirklich Gedanken zu machen, und nicht endlos über Personal-Hickhack zu spekulieren.
Frieder Held, Blaustein-Dietingen
Selbst vergiftet
Zu: „Der Fall Lübcke“, FR-Titel vom 8. Juni
Im Internet sind als Reaktion auf den Mord an Regierungspräsident Walter Lübcke Hasskommentare zu lesen. Frage: Muss man solche Kommentare nicht gleich wieder löschen? Was ich mir ansehe, prägt mich. Im Grundgesetz steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. In der Frankfurter Straßenambulanz der Caritas las ich im Warteraum das Schild: „Hass macht krank“. Diese Tatsache habe ich als Ärztin oft erlebt. Es ist grobes gesellschaftliches Versagen, solche Kommentare stehen zu lassen und damit zur Nachahmung zu empfehlen. Mit Hasspropaganda haben Nazis das millionenfache Morden geschafft und sich selbst vergiftet.
Dietmut Thilenius, Bad Soden
Audits helfen nicht
Zu: „Schuften für C&A“, FR-Wirtschaft vom 8. Juni
Bei der Produktion von Textilien werden systematisch Arbeits- und Menschenrechte verletzt. Wie kann das sein, wo die Fabriken doch „regelmäßig auditiert“ werden, wie der Sprecher von C&A beteuert? Offensichtlich tragen Audits nicht zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen bei und helfen auch nicht bei akuter Gefahrenabwehr. So wurden zwei Produktionsstätten des Rana Plaza – Fabrikgebäudes in Bangladesh vor dessen Einsturz im Jahr 2013 von der Business Social Compliance Initiative (BSCI, jetzt Amfori) auditiert. Der Einsturz hat dann über tausend Menschen das Leben gekostet.
Im September 2012 brannte die pakistanische Textilfabrik Ali Enterprises ab, 254 Menschen verbrannten bei lebendigem Leib. Wenige Wochen zuvor hatte das italienische Prüfunternehmen RINA dieser Fabrik das Zertifikat SA 8000 ausgestellt, das u.a. hohe Brandsicherheitsstandards beinhaltet. Oft sind es private Dienstleister, die diese Audits durchführen. Sie müssten für ihre Prüfungsfehler haftbar gemacht werden.
Zu Recht wird im Artikel auf das Problem der niedrigen Löhne hingewiesen, es sind in Wirklichkeit Hungerlöhne, die meilenweit von einer existenzsichernden Bezahlung entfernt sind, wie sie die Internationale Arbeitsorganisation der UN (ILO) fordert. Im Oktober vergangenen Jahres habe ich eine Schicht in einer äthiopischen Textilfabrik verbracht. In diesem Land gibt es nicht einmal einen gesetzlichen Mindestlohn, was Unternehmen anzieht, die möglichst billig produzieren wollen. In der von mir besuchten Fabrik wurden gerade T-Shirts für das deutsche Unternehmen KiK hergestellt, die im Doppelpack für 5,99 Euro zu haben sind. Der Lohnanteil einer Näherin an einem dieser T-Shirts beträgt 0,38 Cent! Unternehmen, die eine solche Preispolitik betreiben, machen sich schuldig.
Als kirchlicher Beauftragter für nachhaltige Textilien bemühe ich mich, diakonische Einrichtungen wie Krankenhäuser oder stationäre Pflegeeinrichtungen zu motivieren, bei ihrer textilen Beschaffung auch ökologische und soziale Kriterien mit einzubeziehen. Hier sind die Kirchen Großverbraucher, die den Markt beeinflussen können, wenn sie sich hier umstellen. Zur Größenordnung: In einem Krankenhaus mittlerer Größe werden täglich ca. 3 Tonnen Wäsche verbraucht. Hier hat die Diakonie Verantwortung und Chance, Vorreiterin zu sein, denn bisher wird in Krankenhäusern und Pflegeheimen noch nicht danach gefragt, woher Bettwäsche und Arbeitskleidung kommen und wie sie produziert wurden. Übrigens gilt dies auch für Einrichtungen der Caritas, denn ein Bettlaken ist ja nicht konfessionell gebunden.
Die Ev. Kirche von Westfalen hat zu diesem Thema eine klare Haltung, wenn sie sagt, „dass Wirtschaft dem Leben dienen muss, dass Gesundheit und Leben von Arbeiterinnen und Arbeitern absoluten Vorrang haben vor der Gewinnmaximierung von Unternehmen“.
Dass auch die Bundesregierung dieses Feld entdeckt hat zeigt die kürzliche Vergabe einer „Machbarkeitsstudie zur nachhaltigen Beschaffung in der Diakonie“ durch die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) an das Institut Südwind.
Alles in Allem hat sich gezeigt, dass jahrzehntelange freiwillige Maßnahmen von Unternehmen grundsätzlich nichts der Situation in der globalen Textilproduktion geändert haben. Noch setzt die Bundesregierung auf Freiwilligkeit. Es ist zu hoffen, dass sie bald gesetzgeberisch tätig wird und Unternehmen verpflichtet, menschenrechtliche Sorgfaltspflicht wahrzunehmen. In Frankreich ist ein entsprechendes Gesetz bereits in Kraft. Es geht also.
Dietrich Weinbrenner, Witten
Interesse an Einnahmen
Aldi-Parkplätze: „Von wegen kostenfrei“, FR-Wirtschaft vom 15.6.
Abgesehen von der Methode, im Kleingedruckten die möglichen Probleme zu verstecken – bzw. die Bedingungen so zu platzieren, dass ein normaler Autofahrer wohl nicht aussteigt, um das zu lesen, wenn hinter ihm nach 2 Sekunden schon jemand hupt – kann ich der Methode doch etwas Positives abgewinnen: Wenn z.B. die Stadt Frankfurt genau so verfahren würde, könnte sie ohne weiteres Personal den knappen Parkraum effektiv überwachen; denn für die Stadt wäre diese Dienstleistung wohl kostenfrei und „Park & Control“ hat ja ein Interesse an den Einnahmen.
Man könnte ja mit der Überwachung von Fahrradwegen anfangen, die ja demnächst auch die E-Scooter verkraften müssen. Ach nein, die E-Scooter fahren sicher lieber auf der Straße – wenn keine Radwegbenutzungspflicht dem entgegensteht –, weil der bauliche Zustand der Radwege für die kleinen Räder viel größere Risiken bereithält als für ein ausgewachsenes 28-Zoll-Fahrrad.
Warum diese Fahrzeuge TRET-Roller heißen, obwohl man gar nicht treten muss – anders als beim Pedelec – weiß der Verkehrsminister vermutlich auch nicht.
Henning Kaufmann, Frankfurt
Solidarische Ökonomie
Zu: „Gier, Neid und Geiz sind der falsche Antrieb“, FR-Wirtschaft vom 13. Juni
Im Interview mit Joachim Wille skizziert Reinhard Loske eine Ökonomie, die für mehr Gemeinsinn und damit für Nachhaltigkeit sorgen könnte, eine Fragestellung die Fridays for future mit Nachdruck auf die politische Bühne gebracht hat. Aufhänger des Gesprächs ist die CO2-Steuer. Um das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft auszuleuchten, greift Loske auf „The Great Transformation“ von Karl Polanyi (1944!) zurück. Polanyi zeigt auf, das in der vorkapitalistischen Gesellschaft „die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen in der Regel in seine Sozialbeziehungen eingebettet war“ (S. 75).
Was das heißt? Nach Polanyi, Marcel Mauss und anderen waren im Vorkapitalismus die Prinzipien ‚Reziprozität‘ und ‚Redistribution‘ wesentlich (Tauschakte in Form von Geschenken, nicht als Äquivalententausch; Verteilung der Güter und Gaben an alle). Man kann die vergangene Gesellschaftsform nicht wiederherstellen und sollte sie nicht anstreben. Darauf weist Robert Kurz („Geld ohne Wert“) hin. „The Great Transformation“ thematisiert den Weg hin zum Kapitalismus. Im Umkehrschluss ist ein Übergang weg von der marktwirtschaftlichen Produktionsweise denkbar: Kapitalismus stellt nicht das Ende der Geschichte dar (Francis Fukuyama).
Für die Ökonomie jenseits von Markt und Staat weist Loske eine Reihe von Innovationen hin: Gemeinwohlökonomie, Commons Economy, solidarische Ökonomie, die bislang von der Mainstream-Ökonomie völlig vernachlässigt werden. Es entwickelt sich eine heterodoxe, plurale Ökonomie, die der politischen Unterstützung bedarf, um aus der Nische herauszukommen (an der Stelle: vielen Dank euch Schulstreikenden). Das übliche Mantra, der Markt sei ‚rational‘, ist unangemessen. Im freien und vollkommenen Wettbewerb entsteht eben kein Markt-Gleichgewicht. Bei jeder Krise zu sagen, dass nichtwirtschaftliche Einflüsse von Gewerkschaften bis Sonnenflecken (Jevons) das System ins Trudeln gebracht hätten, überzeugt nicht mehr. Im Gegenteil: durch ihr starres Festhalten an ‚effizienten Märkten‘ hat die Grenznutzentheorie die „Gesellschaft noch schlimmer gemacht: ungleicher, instabiler und weniger ‚effizient‘“ (Steve Keen).
Der Grundrechtsartikel 15 (Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel; Vergesellschaftung mit Entschädigung; Gesetz; Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft) darf mitgedacht werden. In der Verfassung wird deutlich auf andere Ökonomie verwiesen. Der Vollständigkeit halber sei darauf verwiesen, dass Union und Liberale 1989 die Wohnungsgemeinnützigkeit abgeschafft. Das Dilemma badet zwei Privatisierungswellen später die Gesellschaft aus, so ist das mit Entbettung.