Große Aufregung im Literaturbetrieb: Der Wiener Schriftsteller Robert Menasse, der für seinen Roman „Die Hauptstadt“ 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, hat sich augenscheinlich verhoben. Er hat einen Politiker, der real existiert hat, nämlich Walter Hallstein, mit Worten zitiert, die er nie verbürgt gesagt hat, an einem Ort, an dem er keine Rede – oder jedenfalls diese Rede nicht – gehalten hat. Walter Hallstein (CDU) war der erste Vorsitzende der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Vorgängerin der Europäischen Union, um die es in Menasses Roman geht. Der Autor lässt Hallstein unter anderem sagen: „Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee“. Ein Politikum! Was daran ist Hallstein und was Menasse? So wie das Zitat daherkommt, ist es komplett Hallstein. Und das ist das Problem. Für Menasse läuft das Ganze unter künstlerischer Freiheit. Er befindet sich im Irrtum, aber das sollte man ihm verzeihen.
Ich will das mit einem Beispiel aus meiner eigenen Praxis verdeutlichen. In meinen „Virenkrieg“-Romanen gibt es eine Figur namens Richard Chainey, ehemaliger US-Vizepräsident, den ich an einer Stelle sagen lasse: „Der Krieg, den wir heute beginnen, wird Generationen in Atem halten“. Gemeint ist der Krieg gegen den Terror. Würde diese Figur Richard Cheney heißen – sie hat natürlich mit dem Richard Cheney, der unter George W. Bush Vizepräsident der USA war, überhaupt nichts zu tun –, würde ich denselben Fehler machen wie Robert Menasse, mit einem Unterschied: Richard Cheney lebt noch. Walter Hallstein hingegen ist 1982 gestorben. Ich erinnere mich, irgendwo einmal gelesen zu haben, dass Richard Cheney, der reale Vizepräsident, diesen Satz vom generationenlangen Krieg gegen den Terror gesagt haben soll, habe aber bei meinen Recherchen keine konkrete Quelle gefunden, die das belegen würde. Da ich diese Worte jedoch lediglich meiner fiktiven Figur namens Richard Chainey in den Mund lege, ist es nicht nötig, eine konkrete Quelle angeben zu können. Egal, ob Richard Cheney das wirklich gesagt hat oder nicht. Meinen Chainey kann ich sagen lassen, was immer ich will. Das ist künstlerische Freiheit. Im anderen Fall würde ich ein Faktum behaupten, das es möglicherweise nicht gibt. Das wäre Lüge. Oder neudeutsch: Fake news. Auch in einem Roman.
Zumal Menasses „Hauptstadt“ keineswegs „nur“ ein Roman ist. Er ist auch eine Reflektion über die EU, und zwar eine lesenswerte. Darum kommen derart handfeste, debattenfördernde Sätze darin vor wie der von der Nation, die durch die EU überwunden werde. Menasse wäre aus dem Schneider, wenn er seine Figur Halstein genannt hätte oder Hallstain. Hat er aber nicht. Sie heißt wie die die historische Figur, die der EWG einmal vorstand. Damit behauptet die literarische Figur, der historischen zu entsprechen. Das ist Menasses Fallstrick – dem man ihm allerdings nicht als Strick um den Hals legen sollte. Autoren machen Fehler, denn auch Autoren sind nur Menschen, auch wenn von ihnen erwartet wird, dass sie besonders kluge Sachen sagen. Gerade dann, wenn man ganz auf sich allein gestellt um eine Geschichte, ihre Botschaft und die Formulierungen ringt, in die das alles gepackt werden soll, kann man sich auch mal vergaloppieren. Das Lektorat trifft übrigens keine Mitverantwortung. Man kann von LektorInnen nicht erwarten, dass sie die Hintergründe der Romane überprüfen, die ihnen anheim gelegt werden. Sie dürfen davon ausgehen, dass der Autor diese Hintergründe sorgfältig recherchiert hat – jedenfalls da, wo diese Sorgfalt nötig ist. Insofern hat FR-Autor Harry Nutt völlig recht, wenn er schreibt, Menasse habe sich wohl „in seinen verschiedenen Rollen als Schriftsteller, Essayist und politischer Akteur verheddert“.
Und jetzt zum Thema „Nation“
Kein Verständnis habe ich hingegen für den Furor der Aleida Assmann und des Johann Hinrich Claussen, die Menasse für seine „Fälschungen“ kritisieren. Assmann nahm den Skandal um Menasse zum Anlass, um an die bürgerliche Mitte zu appellieren, sich dringend mit ihrem Verhältnis zur „demokratischen Nation“ auseinanderzusetzen und dies nicht Rechtsradikalen zu überlassen. Es sei symptomatisch für unsere Gesellschaft, „dass viele Deutsche mit dem Begriff der Nation nichts anfangen können“, sagte Aleida Assmann. „Wenn wir Europa retten und stärken wollen, müssen wir dringend anfangen, über unser Verhältnis zur demokratischen Nation zu sprechen. Aufgrund unserer Geschichte haben es die Intellektuellen nicht vermocht, zu einem positiven Nationen-Begriff zurückzukehren, der mit unserer Verfassung, Gewaltenteilung, Menschenrechten und gerade auch mit kultureller Vielheit verbunden ist.“
Ehrlich gesagt: Das ist Mumpitz! Was soll das sein, eine „demokratische Nation“? Ein „positiver Nationen-Begriff“? Der Begriff „Nation“ ist hochproblematisch und alles andere als klar definierbar, und das größte Problem in diesem Zusammenhang ist, dass es immer ein Dagegen gibt, ein Gegenüber, einen Gegner. Indem das betont wird, was die eigene Nation zusammenhält, wird eine Gegnerschaft zu anderen Nationen konstruiert. „Nation“ und „Vielfalt“ schließen sich daher gegenseitig aus. Auch in diesem Zusammenhang sei an den letzten großen Auftritt von Francois Mitterrand vor dem EU-Parlament im Jahr 1995 erinnert: „Nationalismus heißt Krieg. Krieg, das ist nicht nur Vergangenheit. Er kann auch unsere Zukunft sein.“ Positiver Krieg?
Nein, wir brauchen keine Debatte über einen wie auch immer gearteten Nationen-Begriff. Wir brauchen in der Tat – und da hat Hallstein/Menasse in „Die Hauptstadt“ völlig recht – eine Debatte über die Überwindung der Nation. Lasst die Rechten meinetwegen über die Nation schwadronieren. Ich würde es vorziehen, stattdessen über Werte zu reden, denn „der Westen“ will ja schließlich eine Wertegemeinschaft sein. Die EU ebenso. In Anlehnung an John F. Kennedy: Lasst uns nicht das Trennende (die Nation) in den Vordergrund unserer Bemühungen stellen, sondern das Verbindende (die Werte). Dann wären wir auf dem richtigen Weg. Und genau das hat Robert Menasse gemeint.
Leserbriefe
Axel Stolzenwaldt aus Königstein meint:
„Hat Feuchtwanger den spanischen Maler Goya immer im Wortlaut zitiert? Hat Heinrich Mann immer genau wiedergegeben, was Henry Quatre gesagt hat? Warum also die Aufregung um nicht wissenschaftliche Zitierweise in Menasses Roman „Die Hauptstadt“?
Sicher hat sich Menasse vergallopiert, indem er seine Phantasie als Realität verkauft. Es scheint aber, dass der Stein des Anstoßes nicht die Äußerungen Menasses sind, sondern die Erinnerung daran, dass die europäische Idee in Folge der Verbrechen der Nationalsozialisten entwickelt wurde.
Der neue, auch in der sogenannten Mitte immer weiter grassierende Nationalismus bringt jetzt solche Blüten hervor, wie sie in der FR zu lesen waren: Dort fordert Aleida Assmann „zu einem positiven Nationen-Begriff zurückzukehren, der mit unserer Verfassung, Gewaltenteilung, Menschenrechten und gerade auch mit kultureller Vielheit verbunden ist“.
Wie soll denn ein positiver Nationenbegriff aussehen? Sollen wir jetzt wieder stolz die preußischen Tugenden gegen die chaotischen Italiener setzen, die es ja gar nicht fertigbringen, stabile Regierungen zu bilden? Wie wäre es, wenn wir als deutsche Nation mal den Engländern beibringen, wie ein ordentliches Parlament arbeitet ohne Gebrüll? Und interessant wäre mal die Frage, wie man im nationalen Rahmen die gefährliche undemokratische Tendenzen im Internet in den Griff bekommen will.
Mir scheint dies ein schickes Ablenkungsmanöver aus dem elfenbeinernen Turm zu sein. Um Demokratie zu entwickeln stehen ganz andere Probleme im Raum als die „nationale Frage“: die immer weiter klaffende Lücke zwischen Arm und Reich, die massenhafte Zerstörung unserer Privatsphäre durch die großen Internetkonzerne, der Stillstand in der Bildungspolitik oder die immer weiter getriebene Zerstörung sozialer Absicherungen fürs Alter, das sind alles Problem jenseits des Nationalstaats.“
Reinhold Schmidt-Kessler aus Essen:
„Ein Roman ist ein Roman. Ein Roman ist keine Reportage und kein dokumentarischer Bericht, sondern Fiktion. Wer den als historische Proseminararbeit korrigiert wie der Historiker Winkler, verstellt sich den Spaß an dieser ironischen und mahnenden Klageschrift zu Europa. Nutt und Winkler gerieren sich als Beckmesser und messen Literatur mit der Elle einer historischen Wissenschaft. Der Roman stellt die Frage, welches Europa nach Ausschwitz unsere Aufgabe ist. Ob Hallstein da dies oder das oder wo oder wann gesagt hat, ist völlig unerheblich. Das neu aufkommende Grunzen des Nationalismus verheißt das gleiche Unheil wie dazumal.
Die Preisträgerin Frau Assmann mahnt eine positive Konnotierung des Begriffs Nation auf der Linken an. Das verweist darauf, dass die Nationalideologie nicht nur Frau Wagenknecht kontaminiert hat. Die Nation, was ist das? Eine Konstruktion aus dem 19.Jahrhundert. Was definiert eine Nation, wenn man Deutschland, Spanien (Kastilien, Katalonien), Großbritannien (England, Schotland, Wales, Nordirland), die Schweiz, Indien, Japan, Belgien … betrachtet? Beim genauen Hinsehen fällt dieser Begriff auseinander. Deshalb ist er auch so gut instrumentalisierbar. Jede politische Ideologie füllt in den Begriffskarton, was sie will.
Frau Assmann findet dort dann Gewaltenteilung und und und. Die haben „wir“ aber nicht als als Nation errungen, sondern nach dem Scheitern des Nationalismus in der totalen Nierderlage und Zerstörung im Westen als politische Medizin geschluckt, im Osten (eine Nation? zwei Nationen?) als Diktatur weiterleben müssen oder wollen.
In Zeiten von Google, Amazon, Blackrock und Ikea ist die Nation eine reichlich nostalgische Veranstaltung und der Nationalismus logischerweise gefährlich: Amerika first, Italien first, England first, Frankreich first, Deutschland first, Russland first. Da braucht es nicht viel Fantasie bis zum nächsten Krieg.“
Karl Stengler aus Norderstedt:
„Gerade hatte ich den Roman von Robert Menasse mit großer Freude gelesen, da wurde ich erschlagen von der Kritik, ja Häme wegen des falschen Zitates. Bei dem Werk „Hauptstadt“ handelt es sich ja weder um eine Dokumentation, noch um eine wissenschaftliche Arbeit, noch um eine Biografie oder eine ähnliche Veröffentlichung, bei der es auf Zitierregeln und die Genauigkeit der historischen Darstellung ankommt. Es ist ein Roman!
Dass Menasse den Gründungsmythos der Europäischen Union auf das Vernichtungslager Auschwitz aufbaut und dies zu einem ganz besonderen Plot in seinem Roman ausgestaltet, das Scheitern dann in Beziehung zu dem Erstarken von Nationalstaaten und deren Interessen in Europa setzt, ist eine mehr als interessante Setzung. Sie richtet unseren Blick darauf, dass Europa eben nicht nur ein Zusammenschluss aus wirtschaftlichen Interessen heraus ist, wie es heute gerne gesehen wird, sondern ein Vorhaben darstellte und immer noch darstellt, das dazu geeignet war und ist, Krieg, Verfolgung, Diskriminierung zu verhindern.
Und das geht eben nicht dadurch, dass Nationalstaaten innerhalb Europas ihre Interessen an erste Stelle setzen und damit das gemeinsame Interesse und Ziel der Europäischen Union hintanstellen. Und genau das zeigt uns Robert Menasse in hoher sprachlicher Virtuosität und Ausdruckskraft auch in seinem Roman. Insofern denke ich schon, dass die Triebkräfte dieser Kritik bei denen zu finden sind, die am liebsten all das, was mit dem Begriff Auschwitz zu tun hat, hinter sich lassen würden. Das ist schon ziemlich nahe am ‚Vogelschiss‘.“
@Bronski:
ich gebe Ihnen insofern Recht, als dass der Begriff Nation schwer zu definieren ist. Problematisch hingegen finde ich eher, dass sie in einer möglichen, erkennbaren Unterscheidbarkeit offenbar gleich ein „Dagegen“ erkennen. Wieso? Es macht ja zum Beispiel gerade den Reiz des Reisens aus, das ANDERE und nicht das DAGEGEN kennenzulernen.
Zu Menasse:
Da muss ich den beiden Leserbriefschreibern zustimmen. Wenn nicht mehr unterschieden wird zwischen wissenschaftlichen Abhandlungen, Reportagen und erzählender Literatur (im Englischen nicht umsonst „fiction“ genannt), muss man auch Shakespeare, Schiller, Büchner, Brecht etc. an den Pranger stellen.
Zum Nationalstaat:
Auch ich kann die automatische Gleichsetzung von einem Festhalten an Nationalstaaten, die sich zu einem Bund zusammenschließen und gut zusammenarbeiten, mit dem negativ besetzten Begriff Nationalismus nicht nachvollziehen.
Das kommt manchmal von denselben Leuten, die, wenn eine Fußball-Weltmeisterschaft ansteht, ganz begeistert – mit oder ohne Fähnchen – mit ihrer Nationalmannschaft mitfiebern und jeden ihrer Siege bejubeln. Genauso verhält es sich mit den Olympiaden. Wenn man die Aufteilung in Nationen für derart zerstörerisch hält, muss man auch so konsequent sein, sportliche Wettkämpfe. bei denen Nationalstaaten gegeneinander antreten, stehenden Fußes abzuschaffen.
Das müsste dann natürlich auch für die besondere Verantwortung gelten, die „wir Deutsche“ verspüren, wenn es um die Erinnerungskultur zum Holocaust geht. Wenn es keine Nation gibt, geht es mich, das Individuum Brigitte Ernst, überhaupt nichts an, dass irgendwelche Leute, die zufällig in meiner Nähe wohnten, vor 74 bis 78 Jahren einen Massenmord begangen haben. Völkermord darf ich das dann auch nicht nennen, weil es ja angeblich auch keine Völker gibt.
Alles reichlich undurchdacht.
Es scheint doch in vielen Menschengruppen ein nationales Zusammengehörigkeitgefühl zu existieren, sei es aufgrund der Sprache, der Kultur oder der gemeinsamen Geschichte, das auch lange Zeiten überdauert, in denen der Nationalstaat gar nicht existiert. Das beste Beispiel ist Polen, aber auch die Sowjetrepubliken, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion so scnell wie möglich ihre eigenen Nationalstaaten wieder aufleben ließen.
Wie geht man mit diesem Bedürfnis um? Sagt man diesen Völkern, sie seien rückständig und sollten gefälligst in den supranationalen Einheiten verbleiben?
Das „innre Band“ einer modernen Gesellschaft, das in seiner Universalität laut Karl Marx noch zu erforschen ist, fällt nicht in eins mit dem, was unter Werten verstanden wird. Ist das erste eine natürliche Gegebenheit, sind Werte von Menschen gemachte Konstrukte, die dem Individuum einen Akt der unbedingten Unterwerfung abverlangen, wie Marcuse kritisch anmerkt. Will man also dem auf die Spur kommen, was schon immer das Verbindende war, führt eine Beschäftigung mit kulturellen Werten geradewegs in die Irre. Auch kann realiter das Völkische aus demselben Grund niemals der Autonomie des Individuums vorgelagert sein. Die Rede von einer Nation der Deutschen verliert sich daher ebenfalls im Nichts. Insofern ergibt es keinen Sinn, wie Menasse den Anspruch zu erheben, den Begriff der Nation zu überwinden, der dadurch ohnehin bloß eine Fiktion ist. In der Konsequenz bedeutet das, dass dessen Abschaffung nicht am Anfang der europäischen Idee stehen kann, wenn die Idee selbst nicht gegenstandslos sein soll. Nicht der Hallstein untergeschobene Satz ist demnach das Problem, sondern die Tautologie der Aussage, derer sich Menasse als ihr Autor offenkundig befleißigt hat.
Vielleicht wäre es im Zusammenhang mit dem Begriff „Nation“ dienlich, Emotion und Ideologie beiseite zu stellen und ihn rein sachlich zu betrachten.
Nur innerhalb bestimmter Grenzen kann man Demokratie realisieren und Wahlen durchführen: Wer darf wählen(z.B. ab welchem Alter), jeder darf nur einmal abstimmen usw. Das muß kontrolliert werden, um gerechte Wahlen zu gewährleisten. Wer oder was wird gewählt? D.h. es müssen Parteien zugelassen und Kandidaten aufgestellt werden. Wenn dieser Prozeß abgeschlossen ist und ein Parlament seine Arbeit aufnimmt mit so gewählten Volksvertretern, können Gesetze erlassen werden, die innerhalb der Grenzen gelten, in denen auch die Wahlen stattgefunden haben. Und wiederum der Staat ( die Nation) muß die Gesetze durchsetzen, sonst herrscht das Gesetz des Stärkeren bzw. Lynchjustiz.
Wer die Abschaffung des Staates fordert, scheint diese Banalitäten, die ich hier in epischer Breite dargelegt habe, glatt übersehen zu haben. Also: Ohne Staat (Nation) keine Demokratie und kein Rechtsstaat. Aber: Was man aus dieser Nation macht, das kann man kritisieren und diskutieren.