Vom Fußballplatz in den antiautoritären Kinderladen

Frankfurter Rundschau Projekt

Vom Fußballplatz in den antiautoritären Kinderladen

Von Harald Seehausen

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Das Frankfurter Seminar für politische Bildung mit Ulla Illing organisierte für uns Schulsprecher 1966 eine Studienreise in die Sowjetunion, nach Moskau und Leningrad. Die Entstalinisierung wirkte. „Ich hatte es mir anders vorgestellt: Planerfüllung, hochdekorierte Arbeiter, überall Plakatparolen, ideologisch verkrampfte Menschen – nichts von alldem – ich erlebte Kommunisten, die wie wir nach der Arbeit durch die Geschäftsstraßen bummeln gehen… Aber – russische Studenten sprechen mich wegen des Verkaufs meiner Kleidung an“, so notierte ich meine Erfahrungen in der Schülerzeitung „rundum“ der Frankfurter Klingerschule. Wir Schülerinnen und Schüler forderten in einem offenen Brief an das Lehrerkollegium „Mehr Unterricht in Politik“. Parallel organisierten wir ein ausverkauftes Konzert „Folklore goes to School“. Mich interessierte als Schulsprecher die Weiterentwicklung demokratischer Strukturen an der Schule, aber auch im Sportverein.
Als Jugendauswahlspieler des Heider SV (Nordseeküste) landete ich mit Beginn der Bundesliga 1964 bei Eintracht Frankfurt, gehörte zum Kreis des Bundesligaaufgebots, spielte mit Bernd Hölzenbein in der Eintracht-Reserve und Fohlenmannschaft. Vormittags in die Schule, danach Training im Riederwald-Stadion, nachts Schulaufgaben.
1968 arbeitete ich als Student in dem antiautoritären Frankfurter Kinderladen in der Leerbachstraße. Die Thesen zur antiautoritären Erziehung im Kursbuch (17/1969) faszinierten mich und verunsicherten meine Kindheitserfahrungen. Es tauchten völlig neue Fragen zur Kindererziehung aus der Sicht der Psychoanalyse, Pädagogik und Soziologie auf. Ohne Zweifel hat diese Phase des pädagogischen Aufbruchs später einen wesentlichen Beitrag zur Bildungsreform der 70er Jahre geliefert.
Meine Eltern waren im letzten Jahr des Zweiten Weltkrieges aus Ostpreußen an die Nordseeküste nach Heide/Holstein geflohen. Ich erfuhr als Kind mit meinen beiden Brüdern die Folgen des Krieges in der zugewiesenen extrem engen Wohnung. Ohne Kindergarten, mit körperlichen Züchtigungserfahrungen in der Grundschule auf der einen Seite, andererseits erlebte ich ab dem siebten Lebensjahr als Flüchtlingskind positive Erfahrungen auf dem Fußballplatz, dem Schulhof sowie dem Hinterhof – die nicht staatlich gesteuerte Integration im konservativen Dithmarschen, der ehemaligen demokratischen Bauernrepublik Schleswig-Holsteins.
„Jugend spielte mit schwarzem Handschuh. Black-Power- Stil am Bornheimer Hang“ so lautete die Überschrift eines Artikels der Internationale Sport-Korrespondenz im November 1969. Nach Sportverletzungen konzentrierte ich mich auf neue Wege im Kinder- und Jugendfußball bei Eintracht Frankfurt und dann FSV Frankfurt. Hier verfügte ich über große Vollmachten für eine moderne demokratische Jugendarbeit im Fußballverein: Mitsprache der Jugendlichen bei der Trainingsgestaltung und Wahl des Mannschaftskapitäns, Beteiligung der Eltern mit einem Förderkreis und Elternbrief, Diese Beteiligungsformen stießen auf heftigen Widerstand der Jugendleitung und führten zu schwerwiegenden Konflikten, mit der Folge meiner Entlassung. Der Protest der Jugendlichen mobilisierte zahlreiche Vereinsmitglieder und die Sportöffentlichkeit mit dem Ergebnis der Wiedereinstellung. Die Jugendlichen feierten ihren gelungenen Protest mit einer Beatveranstaltung. Der damalige Vereinsvorsitzende Karl Seeger kommentierte: “ Gewiss ist die Beatmusik heute nicht das einzig Richtige, aber sicher hinterlässt auch der Spielmannszug der 30er Jahre bei unseren Jugendlichen keinen Eindruck mehr.“
Wir suchten nach einem bestimmten Lebenskurs. Die Zeit nach 1968 war geprägt von
Fragen zur Revolution und Reform. Auf einer Studienreise nach Prag konnte ich im Dialog mit Schülern und Studenten einen ersten Einblick in das demokratisch-sozialistische Experiment des „Prager Frühlings“ gewinnen. Die Tragödie des „Prager Frühlings“ 1968 führte bei mir zur kritischen Auseinandersetzung mit dem menschenverachtenden Zynismus des herrschenden kommunistischen Systems und der Parteinahme für einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Diese Erfahrung hat bis heute meine (sozial-)politische Einstellung geprägt.
Wir waren leidenschaftliche Leser: Die Ideen und Veröffentlichungen von André Gorz „Wege ins Paradies“, von Roger Garaudy „Die Große Wende des Sozialismus“, von dem Individualpsychologen Manès Sperber zu Macht und Ohnmacht des Terrors wurden heftig und kontrovers diskutiert.
An der Universität fand für mich 1968 eine folgenreiche Begegnung mit Ernest Jouhy statt.
Der Professor für Sozialpädagogik am Fachbereich Erziehungswissenschaften. Als ehemaliger Kommunist hatte er die Brutalität des Stalinismus erfahren. Aus den historischen Erfahrungen der Arbeiterbewegung entwickelte er mit uns Studenten theoretische Grundlagen der Bürgerinitiativen mit unmittelbarer Erprobung in der Praxis. Unser Motto lautete: Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen in das Handeln von Personen und in die gesellschaftpolitischen Entscheidungen eingehen. Im Anschluss an den Erfahrungen des Projektseminars „Zur politischen Soziologie von Bürgerinitiativen“, gründeten wir den „Arbeitskreis Bürgerinitiativen Rhein-Main“, der zur „Landesweite Aktion 82 hessischer Erzieher- und Elterninitiativen“ führte. Hier versammelten sich Eltern, Erzieherinnen und Lehrer, Akteure aus der Verwaltung und Kommunalpolitik, Gewerkschaften und Kirchen, um eine „Pädagogische Politik für das Kind“ zu entwickeln, gefördert von der Hessischen Zentrale für politische Bildung. Wir trafen uns nach den Seminaren in unseren Wohnungen, um über Motive, Methoden, Erfolge und Erfahrungen zu streiten. Wir plädierten für die Verteidigung und Erweiterung der Menschen- und Bürgerrechte und damit für die konkrete Höherentwicklung der repräsentativen Demokratie.
Mit dem Rückblick auf 1968 und dem Blick in die Zukunft: Die Erfahrungen mit „Mehr Demokratie wagen“ (Willy Brandt) haben mich und zahlreiche Akteure sowie die sozial- und familienpolitische Landschaft verändert. Bürgerinitiativen sind keine scheindemokratische Spielform des Staates, sondern haben eine demokratisierende Sprengwirkung. Sie haben vielfältigen Spuren hinterlassen. Sie sind eine direkte Folge der Mobilisierungskampagne der außerparlamentarischen Opposition und der antiautoritären Bewegung.

 

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Seehausen FotoDer Autor

Harald Seehausen, geboren 1945 in Heide/Holstein. Nach der Ausbildung zum Erdöl-Industriekaufmann  absolvierte er auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur während er in der Bundesliga-Fohlenmannschaft der Eintracht Frankfurt spielte. Er studierte Wirtschaftspädagogik, Sport und Deutsch sowie Kinderpädagogik und Erwachsenenbildung. Er war Grundschullehrer und  25 Jahre Sozialwissenschaftler beim Deutschen Jugendinstitut. Er ist Inhaber der Frankfurter Agentur für Innovation und Forschung, Politikberater und Vorstandsprecher  sowie Leiter des Kinder- und Familienzentrums des Fußballvereins SG Bornheim Grün-Weiß e.V. Er hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit seiner zweiten Frau in Frankfurt.

Bild: privat

 

 

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