… und ich dachte: Student erschießen geht gar nicht!
Von Ursula Eisenberg
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1965 ging ich zum Studium von Kassel nach West-Berlin.
Warum Berlin? Mich lockte die doppelte Grenze zwischen meiner Familie und mir. Wir waren sieben Kinder, fünf Jungen, zwei Mädchen. Ich genau in der Mitte – ein Nichts. Was ich konnte – Verse schmieden und in Schul-Aufsätzen das Thema verfehlen –, galt nicht viel. Nur beim Cello-Spielen wurde ich gehört – und studierte Musik.
Im Studentenwohnheim am Grunewald gab es ein Kämmerchen, in dem ich jederzeit üben konnte. Zehn Minuten von uns entfernt lag der „Hundekehle-See“, in dem wir an Sommertagen regelmäßig schwammen. Auch als am 2.Juni 1967 Benno Ohnesorg erschossen wurde, überquerten wir gerade den See.
„Kommste mit nach Hannover zur Trauerfeier?“ fragte mich jemand ein paar Tage später, und weil ich dachte: „Student erschießen geht gar nicht“ sagte ich „Ja“.
In Hannover nahm ich an der ersten Demonstration meines Lebens teil. Die große Trauerfeier mit vielen berühmten Rednern beeindruckte mich, ohne dass ich viel davon verstand. Danach ging ich auch in Berlin zu Demonstrationen. Die Sprechchöre, das rhythmische Gehen inspirierte mich. Oft fiel mir zum Anlass der Demo irgendein Zweizeiler ein, und es kam vor, dass der ganze Zug diesen Spruch übernahm, ohne zu ahnen, dass er ursprünglich von mir kam.
Das Cello wurde unwichtiger. Ich informierte mich gründlicher, dachte mehr mit. In unserer Hochschule gab es „kritische Arbeitskreise“. Wir lasen zuerst Adorno. Die Funktion von Musik in unserer Gesellschaft wurde für mich zunehmend fragwürdiger. Die Marx-These von „Gebrauchs-und Tauschwert“ beeindruckte mich so sehr, dass ich das Alltags-Leben um mich herum mit anderen Augen ansah.
„Willste was von mir?“ fragte mich mal ein Straßenarbeiter, als ich mir gerade ausrechnete, wie viel Hirn, Muskelkraft und Schweiß er eben seinem Chef abgeben musste…
Inzwischen bestand ich das erste Examen, traf Gleich-und Ähnlich-Gesinnte, „Spontis“, „Maoisten“, „Revisionisten“ und Sonstige in den Ausbildungs-Seminaren. Allen war es wichtig, Lehrer zu werden, mir nun auch.
Nach dem zweiten Examen bot sich die Gelegenheit, eine Ganztags-Gesamtschule mit zu gründen. Das Haus war schon fertig – nun ging es um das Konzept. Arbeiter-Kinder unterrichten in einem Gebäude moderner Schulpädagogik – wie für mich gemacht!
Die Kinder kamen.
120 13-Jährige überschwemmten den Teppichoden, verteilten sich in Klassenräumen, die keine waren – nur durch Zwischenwände voneinander getrennt. Unterricht musste leise sein in diesen Etagen, bei mir war es laut.
„Knallen Sie Ronny mal ab und zu eine“, riet mir ein Vater beim ersten Elternabend, „der braucht das.“
Viele meiner Kampfkolleginnen und Kollegen der letzten Jahre kamen besser zurecht als ich.
„Komisch“ sagte mal ein Schüler zu mir, „die netten Lehrer sind immer krank. Sie nie“
Mir blieb als Trost nur mein Oktavheft, in das ich auf Zug-und Busfahrten schrieb, was mir durch den Kopf ging.
Nach der Revolution
wird’s keine
Schulräte geben.
Ach, ich freue mich schon auf
nach der Revolution.
Nach der Revolution
wird das Volk
seine Lehrer ganz alleine wählen.
Ach, ich graule mich schon vor
nach der Revolution!
Drei Jahre hielt ich das aus, dann wechselte ich die Schule. Fing in einer Erzieher-Schule an, wo mich schon vor dem Vorstellungs-Gespräch die Kritzeleien an den Wänden begeisterten: „Hoppe hoppe Reiter, der Widerstand geht weiter.“ – „Proletarier aller Länder, vergnügt Euch!“
Es war eine „Achtundsechziger-Schule“, in der Lehrende und Lernende, Frauen und Männer sich äußerlich kaum unterschieden. Manche Schülerinnen und Schüler waren älter als ich, hatten viel Lebenserfahrung. Wir waren neugierig aufeinander. Ich kam in einen Pädagogik-Rausch, fand auch im Kollegium Freunde. Wir waren alle sehr links, befreiten auf unseren Konferenzen einstimmig Diktaturen wie Chile, warfen uns in der Alltagsarbeit aber auch gegenseitig Knüppel zwischen die Beine. Ich ließ mich jedoch nicht beirren, „lernte“ sogar noch Gitarre spielen – und war überrascht, wie viel sich mit drei Griffen schon anfangen lässt.
In einem Kindergarten durfte ich Praktikum machen. Die Kinder warteten jeden Mittwoch auf mich und sangen schon hinterm Zaun die Lieder, die ich für sie geschrieben hatte – in mein Oktavheft. Das Heft schwoll an vor Liedern und kleinen Gedichten. Kollegin und Freundin A., mit der ich viele Jahre eine Theatergruppe leitete, kannte sich aus in der Schriftsteller-Szene. „Die Gedichte sind richtig gut“, sagte sie, „gib sie weiter!“ …und so stand eines Tages in der Berliner Programm-Zeitung „Zitty“:
HERZLICH
Natürlich
haben sie
ein Herz für Kinder.
Es klebt an den Autos.
Wenn es abgeht,
werfen sie es
in den Papierkorb.
Am nächsten Tag klingelte das Telefon.
„Hier ist Harald Schmid. Was für ein schönes Gedicht. Wissen Sie, ich habe da so einen kleinen Verlag…“ – und ich begann mein erstes Buch zu schreiben.
„Achtundsechzig“ wurde und wird in meinen Büchern immer wieder zum Thema, aber bewusst weder als Helden-Gesang noch als Rundumschlag.
Im Nachhinein stelle ich fest, dass meine Generation die denkbar schönste Epoche erleben durfte: Wann – vorher und nachher- gab es so viel Chancen zur Selbstverwirklichung und so viel Hoffnung?
+++ Das Projekt „Mein 1968“ – Der Aufruf +++ Schreibtipps +++ Ein Beispiel +++ Kontakt +++
Die Autorin
Ursula Eisenberg, geboren 1945 in Spornitz, Mecklenburg, aufgewachsen in Kassel, Studium und Berufstätigkeit in Berlin. Seit 1975 neben dem „Brotberuf“ literarisches Schreiben, erst Gedichte, dann zunehmend längere Texte. „1968“ wird besonders in den beiden bei S. Fischer erschienenen Romanen zum Thema: „Tochter eines Richters“, „Mauerpfeffer“ (beide 2015 nachgedruckt) sowie in: „Die Freiheit benimmt sich oft unerhört“ – 68 Gedichte über das „Achtundsechziger“-West-Berlin mit erzählenden Zwischentexten und Zeichnungen von Thilo Krapp. (erschienen 2012 bei Shaker Media). Auch in ihren aktuell erschienen Büchern (Gedichte und ein Roman) blinzelt „Achtundsechzig“ immer wieder durch: „Das Dorf, die Andern und ein Hund“ (Roman) und diverse Gedichtbände, alles im Stadthaus-Verlag Blankenfelde.
Ursula Eisenberg hat eine erwachsene Tochter und lebt mit Partner und Hund wechselweise in Berlin und im Wendland.
Bild: privat
„Im Nachhinein stelle ich fest, dass meine Generation die denkbar schönste Epoche erleben durfte: Wann – vorher und nachher- gab es so viel Chancen zur Selbstverwirklichung und so viel Hoffnung?“ –
Ein schöner Satz von Ursula Eisenberg, dem ich emotional sofort zustimme, dem ich aber nach einiger Überlegung auch widersprechen möchte.
„Wann gab es so viel Chancen“, „so viel Hoffnung“ – ja!
In der Tat: Ich wollte – aus der Rückschau gesprochen – in keiner anderen Zeit gelebt haben.
„Selbstverwirklichung“ – da werde ich schon kritischer.
Stand denn wirklich bei den „68ern“ im Vordergrund, „sich selbst“ zu verwirklichen? – Nein: Das prägte vielleicht esoterische Zirkel wie die „Kommune 1“, war aber keineswegs typisch.
Was uns – zumindest mich – antrieb, war ein kollektiv empfundenes Ethos, eine Verpflichtung, seinen Beitrag zu einer positiveren Entwicklung der Gesellschaft zu leisten als es von unseren Eltern vorgegeben worden war. Was auch „Selbstverwirklichung“ erforderte, die aber erst in vielen, oft harten Auseinandersetzungen errungen werden musste.
Dieser aktive Beitrag, dieses verinnerlichte, manchmal auch verbissene Kämpfertum soll hier nicht unter den Teppich gekehrt werden!
„… dass meine Generation die denkbar schönste Epoche erleben durfte“ – Warum „durfte“?
Hier klingt mir doch sehr viel nachträgliche Romantisierung durch.
Wenn „Selbstverwirklichung“ und „gesellschaftliche Veränderung“ (aus der Rückschau gesprochen) weitgehend zusammenfielen, dann war das auch ein Verdienst, hart erkämpft, kein bloßes Geschenk.
Vielleicht ist das auch der entscheidende Unterschied zu einer heute weitgehend zu beobachtenden Grundeinstellung: Das Bewusstsein (von klein auf verinnerlicht), dass man nichts geschenkt bekommt, sondern hart um jede kleine Veränderung ringen muss. Dass man das nicht alleine kann, sondern sich zu diesem Zweck zusammentun muss, Kontakte suchen muss, sich öffnen muss für Anderes und Fremdes. Und dass man dabei auch eigene Stärke erfährt, eigenes Selbstbewusstsein gewinnt.
Natürlich geht es hier nicht um Selbstbeweihräucherung.
Es geht darum zu ermitteln, was von diesem positiven Selbstbewusstsein weitergegeben werden kann und muss – in einer Zeit, die grundlegend von Negativität, ja fast von Lust an Selbstzerstörung geprägt zu sein scheint.
Wenn man sich in den Medien umschaut – insbesondere denen, die sich „soziale Medien“ nennen -, scheint alles, was uns antrieb und bewegte, verschüttet zu sein, wir selbst zu Narren, Relikten hinterwäldlerischen, realitätsfremden „Gutmenschentums“ degradiert.
Und doch: Wer richtig hinschaut, wer sich nicht von um sich greifender Hysterie leiten lässt, kann dieses Bedürfnis nach positivem Denken entdecken. Interessanter Weise vor allem in der Begegnung mit neuen Fremden.
Ich bin seit einiger Zeit in der Flüchtlingshilfe aktiv, baue – mit Menschen, meist wenig jünger als ich – unsere eigene Organisation mit auf. Und entdecke fast täglich Belege solidarischen Zusammenwachsens – von der Seite der Helfer wie der Flüchtlinge.
Hilfsbereitschaft, Solidarität, Hoffnung lassen sich nur in der konkreten gemeinsamen Aktion erleben.
„Selbstverwirklichung“, die sich nicht allein auf das eigene Ego richtet, sondern die Gemeinschaft im Auge hat, ist nicht überholt.
Und diese Erkenntnis weiter zu vermitteln, darauf kommt es an.
@Werner Engelmann
Beim Thema Selbstverwirklichung bin ich anderer Ansicht.
Meinem Gefühl nach war in dieser Zeit die Selbstverwirklichung im Sinne, nicht den gleichen vorgezeichneten Weg wie unsere Eltern zu gehen, mit ein tragendes Element. Vielleicht ist selbstbestimmt das bessere Wort und dies hat sich verbunden mit dem Bewusstsein auch die Gesellschaft zu verändern. Nicht mehr hinzunehmen, was nicht mehr aushaltbar war. Die Wurzel lag in jedem Einzelnen, in dem Bedürfnis, das Leben anders zu leben.
Mir jedenfalls gab es die Möglichkeit einen Weg zu gehen, an den meine Eltern noch nicht Mal gedacht hatten. Den Weg zu mir selbst. Dafür bin ich dankbar.
Mit „Selbstverwirklichung“ habe ich inzwischen meine erheblichen Probleme. Wie sich das als Wunschwelt in großen Teilen der Wohlsituierten in der Gesellschaft breit gemacht hat, das hat mit Befreiung und den Antriebskräften aus „unserer Epoche“ nichts zu tun.
Dankbar bin ich jedenfalls, die 68er-Epoche miterlebt zu haben. Ziehe ich mal das Emotionale ab, dann war es die Grundlage fürs Weiterdenken und die Auseinandersetzung mit dieser verrückten Welt. Möglicherweise zeitigt es wenig Erfolg, aber auch das gehört zu Leben.
Dem Satz von Frau Hartl kann ich zustimmen: „Vielleicht ist selbstbestimmt das bessere Wort und dies hat sich verbunden mit dem Bewusstsein auch die Gesellschaft zu verändern.“ Das verbindet sich ja auch mit Werner Engelmanns Aussagen.
Der harte Lern- und Arbeitsprozess, den man in der Selbstreflexion und im Austausch mit anderen geleistet hat, schließt die Dankbarkeit, die in dem „durfte“ von Frau Eisenberg steckt, ja nicht aus. Denn war es nicht auch ein Geschenk, dass wir in diese bestimmte Zeit der Veränderung hineingeboren wurden, in der wir auf andere Menschen trafen, mit denen wir gemeinsam uns selbst und unser politisches Bewusstsein weiterentwickeln konnten?
Und ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass in dieser Zeit Anstöße in die Gesellschaft getragen wurden, die heute bis in konservative Kreise hinein Konsens geworden sind.
„Selbstbestimmung“ ist in Ordnung.
@Brigitte Ernst
Vielleicht hat für „Frau“ diese Zeit noch eine andere Bedeutung!?
Ich kann für mich sagen, dass ich anderenfalls wesentlich mehr hätte kämpfen müssen um aus der althergebrachten Rolle der Frau auszusteigen, oder wäre eingegangen, wie eine Pflanze, der die lebenswichtigen Elemente zum Leben vorenthalten wurden.
@Brigitte Ernst, 23. August 2018 um 3:23
„Denn war es nicht auch ein Geschenk, dass wir in diese bestimmte Zeit der Veränderung hineingeboren wurden, in der wir auf andere Menschen trafen, mit denen wir gemeinsam uns selbst und unser politisches Bewusstsein weiterentwickeln konnten?“
Wenn ich an das Schicksal von Angehörigen bestimmter Jahrgänge denke, die im Krieg ohne eigenes Zutun fast völlig ausradiert wurden, kann ich Ihnen durchaus zustimmen. So etwa der Jahrgang 1920 (mein Schwiegervater gehörte dazu).