Die Journalistin und Autorin Bettina Röhl, Tochter der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof, hat der FR ein Interview gegeben über die 68er-Bewegung, die RAF, ihre Mutter – „und darüber, was das alles mit uns heute zu tun hat“, wie mein KollegInnen von FR.de formulierten. Überschrift des Interviews: „Mit diesem Personal war keine Revolution zu machen„. So nach und nach tröpfelten ein paar Leserbriefe herein, bis es mir so vorkam, als sei dieses Thema vielleicht doch eines, dass ich Ihnen vorlegen könnte – und das mache ich nun. Aber bitte zuerst das Interview lesen!
Leserbriefe
Hartwig Hohnsbein aus Göttingen:
„Nein, ich selbst habe an der 68er- (Studenten)bewegung aktiv nicht teilgenommen, dafür war ich um einige Jahre zu alt. Doch an etliche Vorgänge in der Gesellschaft damals erinnere ich mich noch recht gut. Wenn nun Bettina Röhl behauptet : „ Es gab keine faschistoide Gesellschaft, gegen die die 68er ankämpfen mussten. Die Gesellschaft war offen, und die 68er machten Karriere in ihr“- dann fällt mir ein, dass ab 1966 bis 1969 ein Kanzler an die Spitze der Bundesrepublik stand, der schon Ende Februar 1933, „begeistert“, in die NSDAP eingetreten war und später als stellvertretender Leiter der Rundfunkpolitischen Abteilung für die Verbindung zum Reichspropagandaministerium von Joseph Goebbels zuständig war (nach WIKIPEDIA „K.G. Kiesinger“). Ob diese Karriere auf eine „faschistoide“ Gesellschaft damals hinweist oder nicht, sei dahingestellt;- der schier unaufhaltsame Aufstieg der 1964 in Hannover gegründeten neofaschistischen Partei NPD hätte allerdings leicht dahinführen können. Diese Partei hatte in ihrem ersten Bundesvorstand von 18 Mitgiedern 12 aktive Nationalsozialisten. Sie war mit ihrem Programm, insbesondere mit ihrer Forderung, die „geraubten Ostgebiete“ müssten wieder „deutsch“ werden, bis 1968 in 7 von 10 Bundesländern in deren Landtagen vertreten, zuletzt in Baden-Württemberg mit 9,8% gewählt worden, und schickte sich 1969 an, nun auch in den Bundestag Einzug zu halten, den sie dann mit 4,3% nur knapp verpasste. Nur die starke Gegenbewegung gegen die NPD aus Studenten, Gewerkschaftern, Künstlern und auch Kirchenleuten konnte ihren Erfolgszug damals beenden. Ich erinnere mich, dass in Niedersachsen, wo der evangelische Pastor Werner Petersmann als Spitzenkandidat der NPD die „nötigen“ Stimmen von Vertriebenen und evangelischen Christen holen wollte, durch starke Gegenwehr nur auf 4,6% statt auf vorausgesagte 7% der Stimmen kam. Zu einer „neue Ostpolitik“ mit Entspannung in Europa wäre es bei einem Einzug der NPD in den Bundestag mit Sicherheit nicht gekommen. Zum Verständnis der Situation damals und für heute ebenfalls sei auf das nun wieder aktuelle Buch von Reinhard Kühnl u.a. „Die NPD. Struktur, Ideologie und Funktion einer neofaschistischen Partei“, 1969, edition suhrkamp, hingewiesen. Dass es dann 1972 unter der Brandt/Scheel-Regierung zu den berüchtigten „Berufsverboten“ kam, wodurch für nicht wenige die Tür in ihren angestrebten Beruf zugeschlagen wurde, die „Gesellschaft“, jedenfalls nicht für alle, gerade nicht „offen war“, wie Frau Röhl behauptet, bedeutete für viele demokratische gesinnten Menschen eine bittere Enttäuschung und müsste in den Erörterungen heute zu der sog. „68er-Bewegung“ und was daraus wurde unbedingt berücksichtigt werden.“
Susanne Bender aus Odernheim:
„‚Ich glaube, wenn Ulrike Meinhof nicht den Sprung in den bewaffneten Kampf getan hätte, würde sich kein Mensch mehr an sie erinnern. Ihre Kolumnen würden in den Archiven schlummern“, sagt Bettina Röhl. Davon hängt aber wohl nicht weniger ihre Bekanntheit ab.
Ihre „Analysen“ zur 68er Bewegung erscheinen in diesem Interview doch sehr holzschnittartig, inhaltlich undifferenziert und reduziert. Weder die Forderung nach Aufarbeitung der Verdrängung der NS Diktatur in den 50er und 60er Jahren, noch die Proteste gegen den Vietnam Krieg, gegen die Diktatur im Iran, gegen Rassentrennung in den USA, etc. hält sie hier für erwähnenswert. Statt dessen ist es eine „verwöhnte Luxusgeneration“, die wohl aus Langeweile gegen „das Gemeinwesen“ protestierte. Die Reduktion auf das Weltbild der Maoisten und K Gruppen reicht kaum, um das Phänomen 68 zu umfassen.“
Rainer Dittrich aus Bergisch Gladbach
„So billig also, Bettina Röhl macht’s möglich, ist „68“ inzwischen zu haben. Es lohnt die Mühe nicht, diesen Dilettantismus hier überhaupt zu kommentieren. Schon beim Umgang mit Herbert Marcuses Begriff der „Eindimensionalität“ scheitert Frau Röhl. Mit einer substanziellen Kritik an „68“ haben ihre Aussagen gar nichts zu tun. Als Fazit des Interviews bleibt festzuhalten: Zum allgemeinen Rollback findet sich allemal immer auch das passende geistige Pendant. Und Arno Widmann? Sah, dass es gut war.“
Dietmut Thilenius aus Bad Soden
„Die Autorin B. Röhl schreibt: „Es hat noch keine Revolution gegeben, bei der nicht Blut floss“. Die DDR-Bürger machten in der Revolution 1989/1990 eine rühmliche Ausnahme. Leipziger hielten die Mahnung „Keine Gewalt!“ durch mit bis 300 000 Demonstranten bei einer Kundgebung im Leipziger Ring. Gesamtdauer der Demos von Oktober 1989 bis 1. Mai 1990. Zur Überraschung von Bundeskanzler Kohl fiel die Mauer ohne Schuss.“
Klaus Philipp Mertens aus Frankfurt:
„Als die ersten Vorboten der später so genannten 68er Bewegung erkennbar wurden, also ab dem Herbst 1966 (damals wurden beispielsweise im SDS Herbert Marcuses „Der eindimensionale Mensch“ und Frantz Fanons „Die Verdammten dieser Erde“ heftig diskutiert; im November sprach Dutschke vor mehreren Tausend Zuhörern in der Berliner Hasenheide und kritisierte den US-Krieg in Vietnam), war Bettina Röhl vier Jahre alt.
Im April 1968 erreichten die Proteste gegen den „Muff aus 1000 Jahren“ mit dem Anschlag auf Rudi Dutschke in der Bundesrepublik ihren Höhepunkt. Bereits die Ermordung des US-Bürgerrechtlers Martin Luther King hatte der einsetzenden „großen Verweigerung“ (Marcuse) eine neue Dimension verschafft.
Am Rande des von der FDJ inszenierten „Kongress der Arbeiterjugend beider deutscher Staaten und Westberlins“ am 1. und 2. Juni 1968 in Halle-Neustadt, zu dem auch Jusos, SDS-Mitglieder und Ostermarschierer eingeladen worden waren, versicherte einer der verantwortlichen DDR-Funktionäre, der zum Stab Karl – Eduard von Schnitzlers (des Chefkommentators des DDR-Fernsehens) gehörte, westdeutschen Teilnehmern, dass es beste Kontakte zu Ulrike Meinhof gäbe. Sie würde in „Konkret“ ausführlich auf die Auseinandersetzung zwischen Prager Reformkommunisten und der Moskauer Partei- und Staatsführung eingehen und den Konflikt zu relativieren versuchen. Die sich neu sammelnde außerparlamentarische Linke in Westdeutschland müsse sich keine Sorgen machen.
Die Mai-Unruhen in Paris veranlassten Staatspräsident Charles de Gaulle dazu, sich am 28. Mai bei seinem Freund General Massu, Oberkommandierender der französischen Truppen in Deutschland, in Baden-Baden des Rückhalts der Armee zu versichern. Nach seinem Besuch setzte er Neuwahlen an, was einerseits zur Deeskalation der aufgeheizten Situation in Frankreich beitrug, andererseits aber zu einem verstärkten Export des revolutionären Bewusstseins nach Deutschland führte.
In diesem Frühjahr und Frühsommer 1968 befand sich Frau Röhl im noch nicht vollendeten achten Lebensjahr. Sie scheidet für den Zeitabschnitt zwischen 1966 und 1968 folglich als Zeitzeugin aus. Und auch die anschließende Phase, die bis zum Rücktritt Willy Brandts 1974 markiert werden kann, hat sie als zuletzt 12-jährige Schülerin erlebt.
Bettina Röhl lebt aus zweiter Hand. Sie interpretiert die politischen Strömungen der 50er, 60er und frühen 70er Jahre anhand von Wahrnehmungen anderer. Diese aber haben ihr ganz offensichtlich zu wenig erzählt oder selbst Entscheidendes nicht zur Kenntnis genommen.
Beispielsweise nicht die von Alt-Nazis durchsetzte Adenauer Regierung (Hans Globke, Theodor Oberländer) und die Wendehälse in der Justiz (Verfassungsrichter Theodor Maunz), nicht die Hetzjagd auf den FDJ-Funktionär Philipp Müller im Mai 1952 in Essen, bei der dieser getötet wurde, nichts vom KPD-Verbotsurteil des Bundesverfassungsgerichts, das auf Druck der Regierung Adenauer gefällt wurde, um den linken Widerstand gegen die Wiederbewaffnung zum Schweigen zu bringen, nichts von der SPIEGEL-Affäre 1962 oder von einem Bundeskanzler namens Kurt Georg Kiesinger, der seine NS-Vergangenheit nicht leugnen konnte. Ebenso hätte der 1964 vielbeachtete Artikel von Karl Jaspers („Werden wir richtig informiert?“) ihren Gewährsleuten eigentlich auffallen müssen; denn er stellte das demokratische Bewusstsein der Bundesrepublik infrage. Die Liste der unerwähnten und unbewerteten Vorgänge ließe sich noch seitenlang fortsetzen. Sie alle haben Anteil an der Entwicklung, die zu „68“ führte.“
„Es gab keine faschistoide Gesellschaft, gegen die die 68er ankämpfen mussten.“ –
In den angefügten Leserbriefen ist ja schon einiges über den „Wert“ der „Recherchen“ einer Bettina Röhl zu erfahren, die so souverän alles, was nicht in ihr forsch zusammengebasteltes Weltbild passt, zu ignorieren versteht: all die großen und kleinen Globkes, Kiesingers und Filbingers – wobei letzterer, der „furchtbare Jurist“, noch bis 1978 als Ministerpräsident sein Unwesen trieb und bis an sein Lebensende 1997 als verknöcherter, uneinsichtiger Alt-Nazi gelten kann. Wofür sein unsäglicher Spruch steht: „Was gestern Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.“
Nicht zu reden von den vielen Altnazis im Justizwesen, die dem wackeren Kämpfer für die Frankfurter Auschwitz-Prozesse 1963-68, Fritz Bauer, das Leben zur Hölle zu machen verstanden und zur Verzweiflung trieben.
Nicht anders der Unfug von der „offenen Gesellschaft“, in der 68er so munter „Karriere machen“ konnten. Wobei sie wohlweislich die Voraussetzungen „vergisst“, sich entweder schon im Vorfeld (wie etwa Götz Aly) als Renegat „rechten“ Bedürfnissen anzubiedern oder (wie ein Horst Mahler) gleich nach rechts außen zu wandern. Angesichts von 1,4 Millionen Überprüfungen, 11.000 Verfahren und mindestens 1.100 Berufsverboten (nicht eingerechnet die verschleierten Fälle wegen „fehlenden Bedarfs“) eine Verhöhnung der vielen Betroffenen. (Zahlen nach Wikipedia: „Radikalenerlass“)
Nun könnte ja eine Bettina Röhl durchaus brauchbare Beiträge liefern, würde sie sich ehrlich um subjektive Eindrücke (warum auch nicht?) bemühen, über die sie wirklich etwas zu sagen hätte: Etwa über psychologische Bedingungen und innere Kämpfe als Tochter einer intellektuell herausragenden, aber in den Terrorismus abgewanderten Mutter. Oder als Schülerin von 68er Lehrern, die durch Anbiederung an ihre Schüler/innen sich ihre „Jugendlichkeit“ meinten erhalten oder zurückholen zu können. Die so nicht selten „aus der Rolle fielen“ und das Gegenteil von dem bewirkten, was sie selbst zu bewirken glaubten.
(Ein Thema, über das ich selbst, anhand noch frischer Erinnerungen, eine, notwendiger Weise satirische, noch unveröffentlichte, Erzählung verfasst habe.)
Das aber hätte Bescheidung und ehrliche Auseinandersetzung mit sich selbst zur Voraussetzung gehabt – Tugenden, die erkennbar so gar nicht Ding einer Bettina Röhl sind.
So aber bleibt der Eindruck einer Person, die unbewältigte eigene Probleme auf andere projiziert, in selektiver Sicht hemmungslos und maßlos verallgemeinernde Urteile fällt, schwankend zwischen (vielleicht verständlichem) Hass und Bewunderung für eine ins Abseits geratene Mutter, der sie zumindest intellektuell bei weitem nicht das Wasser reichen kann.
Bleibt die Frage, was die FR zu einem so überflüssigen Interview bewegt hat, mit dem sie an mehr verschleiernden als erhellenden Mythen über die 68er mit strickt, an denen es wahrlich nicht fehlt.
Jetzt mache ich es mir mal leicht, denn es ist oben vieles Richtige zum Interview mit Bettina Röhl gesagt worden.
Als ich das Interview vom 7. April gelesen hatte, überkam mich eine große Unlust, die vielen Oberflächlichkeiten der Journalistin und ihre Überheblichkeit gegenüber den 68er-Protagonisten („In ihrer Kapitalismuskritik haben die 68er total versagt.“) zu kommentieren. So ist es geblieben und deshalb danke an diejenigen, die sich hier diese Mühe gemacht haben!
Es ist anzunehmen, dass Bettina Röhl die Traumata, die sie als Kind einer Mutter im Untergrund erleiden musste, nie verarbeitet hat. Dafür verspüre ich tiefes Mitgefühl.
Genau diese persönliche Belastung aber macht es ihr unmöglich, die gesellschaftliche Situation in den 60er und 70er Jahren wissenschaftlich bzw. journalistisch objektiv darzustellen und zu beurteilen.