In einem Vierteljahr ist Bundestagswahl. Derzeit scheint alles auf weitere vier Jahre mit Angela Merkel (CDU) als Bundeskanzlerin zuzulaufen, vielleicht sogar in einer schwarz-gelben Zwei-Parteien-Koalition. Nichts bräuchte dieses Land weniger. Doch selbst wenn der SPD unter ihrem Spitzenkandidaten Martin Schulz eine Aufholjagd gelänge, wäre nicht gesagt, dass es auch zu einer SPD-geführten Bundesregierung reichen würde, denn dazu bräuchte die SPD nach allem, was derzeit denkbar erscheint, die Linke als Koalitionspartner in einem rot-rot-grünen Berliner Bündnis. Deren Spitzenkandidaten Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch personifizieren jedoch das gesamte Dilemma dieser Partei: Ich will mitregieren, ich will nicht mitregieren, ich will mitregieren, ich will nicht mitregieren, ich … Und so weiter.
Die Linke will die Partei der sozialen Gerechtigkeit sein, aber offenbar ist soziale Gerechtigkeit nicht das Thema, dass die Deutschen am meisten bewegt, so dass es wahlentscheidend sein könnte. Wäre es anders, müssten die Umfragewerte für die Linke durch die Decke gehen. Dass sie dies nicht tun, liegt aber sicher auch an dem zerrissenen Bild, das sie der Öffentlichkeit liefert. „Natürlich sind wir bereit, Regierungsverantwortung zu übernehmen“, sagt Dietmar Bartsch, der Spitzenkandidat. Die Spitzenkandidatin indes hält eine Rede, in der sie den Koalitionspartner in spe, die SPD, auf eine Weise angreift, die eine Zusammenarbeit unmöglich erscheinen lässt. Diesen alten Konflikt zwischen Realos und Fundis hat die Partei noch immer nicht überwunden. Geht es nach Wagenknecht, ist die rot-rot-grüne Koalition wohl bereits abgesagt. Die Konsequenz daraus ist klar: Dann wird es wohl keinen Regierungswechsel geben. Allerdings wäre die SPD wohl alles andere als gut beraten, wenn sie sich in koalitionäre Abhängigkeit zu einer Partei begäbe, in der solche tiefen Risse klaffen.
Die dominierende Tonlage in den Leserbriefen zu diesem Thema war bisher recht eindeutig: Eine rot-rot-grüne Koalition, wenn sie am Wahlabend überhaupt eine Mehrheit hätte, würde aus Lesersicht nicht an der Linken scheitern, sondern an der SPD. Doch Wagenknecht hat ein paar Pflöcke eingerammt, darunter diesen: „Wir werden die neoliberalen Koalitionsoptionen nicht um eine Option erweitern, die sich dann Rot-Rot-Grün nennt. Dann ist gute Opposition immer noch besser als schlechte Regierungspolitik.“ Von da aus gesehen, wo Wagenknecht steht, sind die potenziellen Koalitionspartner also allesamt Neoliberale. Mit diesem Kampfbegriff streichelte sie die Parteiseele. Mehr nicht. Das ist im Wahlkampf natürlich wichtig. Nach Koalitions-, also Kompromissbereitschaft klang das jedoch nicht. Wagenknecht scheint gewillt, weiterhin aus der Opposition heraus für ihre politischen Ziele zu streiten. Kaum vorstellbar, dass dieselbe Sahra Wagenknecht sich nach einer Wahl hinstellt und vor ihren Wählerinnen und Wählern einen Koalitionsvertrag mit den „Neoliberalen“ vertritt.
Nach der Wahl 2013 war Sigmar Gabriel derjenige, der kein rot-rot-grünes Bündnis einging, obwohl es eine Mehrheit im Bundestag gehabt hätte. Er wusste vermutlich, warum er das nicht gemacht hat. Die Wahl 2017 wird ein anderes Ergebnis erbringen, denn voraussichtlich werden nicht nur vier, sondern sechs Parteien in den Bundestag einziehen. Vielleicht bereut Gabriel es schon, sich damals nicht überwunden und die Verständigung mit der Linken gesucht zu haben. Er hätte Kanzler sein können. Allerdings hätte er einen Politikwechsel fahren müssen, um die Linke ins Boot zu holen. Dazu war er damals wohl nicht bereit. 2013 war Gabriel der Verhinderer einer rot-rot-grünen Koalition. Wird dieser Titel 2017 an Sahra Wagenknecht weitergereicht?
Walter Unger aus Maintal meint:
„Liest man die Leserbriefe und auch manchen Kommentar in der Frankfurter Rundschau, dann ist alles ganz einfach: Die SPD und ihr Kanzlerkandidat müssen endlich den Reformen aus Gerhard Schröders Zeiten abschwören, alle seinerzeit mit und für Schröder Tätigen aus ihren gegenwärtigen Funktionen entfernen und kalt stellen, auch Beamte in die Rentenversicherung und die gesetzlichen Krankenkassen aufnehmen, den Spitzensteuersatz anheben und die Vermögenssteuer wieder einführen, Flüchtlinge großzügiger aufnehmen, Waffenexporte beschränken, die Europäische Union vom Neoliberalismus abbringen und schließlich noch rechtzeitig vor der Wahl jegliche Koalition mit der CDU in der nächsten Wahlperiode ausschließen, dann haben die Wähler wieder eine echte Wahlalternative und werden Schulz ein Traumresultat verschaffen.
Als Mitglied der SPD seit 1968 (und zudem im linken Bezirk Hessen Süd sozialisiert) habe ich durchaus Sympathie für die meisten Forderungen. Ich frage mich allerdings, warum die Partei „Die Linke“ in den alten Bundesländern kaum ein Bein auf den Boden bekommt. Vertritt sie doch alle diese Positionen seit Jahren – und auch jetzt wieder in ihrem Wahlprogramm. Sie tut das auch glaubwürdig. Denn die meisten ihrer Repräsentanten im Westen sind enttäuschte SPD-Mitglieder, die wegen der Schröder’schen Reformen ihr Parteibuch zurückgegeben haben.
Offensichtlich brennen diese Probleme den Wählerinnen und Wählern aber nicht so auf den Nägeln. Sie fühlen sich wohl bei einer Kanzlerin, die keine klare Stellung bezieht, aber stets die Botschaft vermittelt: Alles wird gut. Eine Kanzlerin zum Wohlfühlen eben. Würde ein scharfer Oppositionskurs die Wähler aufwecken, sie elektrisieren und zur Wahl der SPD motivieren? Mit fliegenden Fahnen einem rot-rot-grünen Bündnis eine Mehrheit verschaffen? Oder würden sie sich dagegen wehren, in ihrem Wohlbehagen gestört zu werden?
Selbst wenn man glaubt, dass die Wahlen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein verloren gingen, weil die SPD von Rot-Rot-Grün abgerückt ist und die FDP als möglichen Bündnispartner ins Spiel gebracht hat: Die Wahl im Saarland spricht eher dagegen. Denn bei dieser Wahl wurde die rot-rot-grüne Option offen propagiert – allerdings mit mäßigem Erfolg, wie wir wissen. Natürlich kann man auch nach diesen Wahlen von der SPD den Schwenk verlangen, den ich oben vielleicht etwas überzeichnet dargestellt habe. Aber wenn es nach der Wahl wie vor vier Jahren keine Mehrheiten außer einer großen Koalition geben sollte, liegt es dann wirklich im Interesse der SPD-Wähler, eine solche Koalition zu verweigern? Wäre es vor vier Jahren besser gewesen, auf die Möglichkeit der Einführung eines Mindestlohns, auf die Möglichkeit der doppelten Staatsangehörigkeit für die hier Geborenen, auf die Rente nach 45 Arbeitsjahren und manches andere zu verzichten, was im
damaligen SPD-Wahlprogramm stand, in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen und damit auch durchgesetzt wurde?
Die Linke (bei Bundestagswahlen) wie auch die AfD können problemlos maximale Forderungen aufstellen. Sie wissen, dass sie nicht realisiert werden müssen. Die SPD und inzwischen auch die Grünen müssen da vorsichtiger sein. Denn sie wissen, dass sie bei einem entsprechenden Wahlergebnis auch in die Lage kommen können, mit einer anderen Partei zusammen zu regieren. Fundamentalopposition ist da zwar intellektuell wie gefühlsmäßig befriedigender. Den Bürgerinnen und Bürgern ist damit aber nicht gedient.“
Robert Maxeiner aus Frankfurt:
„Deutschland braucht einen Regierungswechsel, da stimme ich Gregor Gysi und auch Stephan Hebel zu, denn eine CDU-geführte Regierung wird weiterhin das Grundgesetz aushöhlen, den Sozialstaat zusammenstutzen, dass er als solcher nicht mehr zu erkennen ist, eine menschenverachtende Flüchtlingspolitik betreiben, die Schlupflöcher für Steuerhinterzieher nicht schließen und Wirtschaftspolitik für Großkonzerne machen. Aber mit einer Regierung unter Führung einer SPD, die bisher wenig Mut und Mumm erkennen lässt, wirklich etwas daran zu verändern, ist uns auch nicht gedient. Von daher kann ich Sahra Wagenknecht nur zustimmen, besser eine gute Oppositions- als eine schlechte Regierungspolitik zu machen. Was nutzt es, jetzt schon auf mögliche Koalitionen
zu schielen? Dies führt nur zu falschen Kompromissbildungen. Auch wir Wähler werden ständig damit traktiert, indem an allen möglichen Stellen behauptet wird, Rot-Rot-Grün sei unbeliebt, als müsste unser Kreuzchen auch Ergebnis einer taktischen Überlegung sein. Besser sollten sich Parteien jetzt klar positionieren und inhaltlich differenzieren. Mögliche Koalitionspartner können sich
nach der Wahl zusammenraufen, um tragfähige Kompromisse zu erzielen. Das Programm der Grünen halte ich zum Beispiel für sehr gut, aber es nützt nichts, wenn sie, wie bei der Hessen-Wahl geschehen, das Beste davon nach der Wahl über Bord werfen, um (zugegeben) eine bessere Wirtschaftspolitik als die FDP zu machen. Zur Zeit sehe ich die Verhinderer eher aufseiten der SPD, die zum Beispiel zu Recht eine bessere Rentenpolitik fordert und sich dafür vonseiten der CDU als Populisten beschimpfen lässt. Etwas mehr Mumm, bitte! (Herr Corbyn lässt grüßen.)“
„Die jetzt knapp hundert Jahre seit 1918 in der Geschichte der deutschen Linken stellen sich für mich dar als eine Mixtur aus überschätzen Chancen und verpassten Gelegenheiten. Beim Streit der Linkspartei über Rot-Rot-Grün fällt beides in eins.
Anstatt sich auf das zu fokusieren, was das Land in den nächsten vier Jahren wirklich braucht – eine starke linke Opposition –, räsonieren Teile der Partei über eine beim aktuellen Zustand der drei potenziellen Koalitionspartner vorhersehbar saft- und kraftlose rot-rot-grüne Bunderegierung
Die abgewetzte Rhetorik des „Nur wenn …, dann …“ kann kaum über die in der Linkspartei tief verankerte Sehnsucht nach bürgerlicher Reputation der „Regierungsfähigkeit“ hinwegtäuschen.“
„Inhaltlich liegt die Linke ja in vielen Punkten richtig. Doch bei der Rede Sahra Wagenknechts auf dem Hannoveraner Parteitag muss man den Eindruck gewinnen, dass die Sozialdemokraten der größere politische Gegner für die Linken sind als das bürgerliche Lager. Warum, so frage ich mich jetzt als Sympathisant der SPD-Linken, können sich die Delegierten dieses Parteitags nicht dazu durchringen, in ihrem Wahlprogramm das Bekenntnis zu einer Rot-Rot-Grünen Bundesregierung abzulegen? Es gehört schon ein Stück Vermessenheit dazu, wie Sahra Wagenknecht an dem SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz, dem von ihr als „Zottelbart“ bezeichneten, kein gutes Haar lässt. Sie mag mit derartigen Bemerkungen bestimmte Strömungen in der Linkspartei zufriedenstellen, den Linken in der SPD und bei den Grünen erschwert sie jedenfalls damit ihr politisches Leben.
Wer Veränderungen für die Menschen will, der muss im Sinne einer solidarischen Gesellschaft und auf die Bundesrepublik bezogen endlich in einen Lagerwahlkampf eintreten, der Umverteilung, Frieden und Gerechtigkeit zum Ausdruck bringt. Es ist ein Armutszeugnis für die Linke, dass sie es nicht geschafft hat, im Wahlprogramm neben der fehlenden Verurteilung der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und des Krieges in der Ostukraine noch eine ausdrückliche Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen in Russland und China anzuprangern. Genau das ist ein Punkt, an dem sich demokratische Linke von Dogmatikern unterscheiden.
Die Linkspartei, die ihre Identität zum großen Teil auch über enttäuschte linke Sozialdemokraten definiert, sollte sich jedenfalls auf einen reformsozialistischen undogmatischen Kurs besinnen, der ein Angebot gerade auch für die Schwächsten der Gesellschaft darstellen könnte. Der jüngste Parteitag war insofern eine Enttäuschung.“
Sigurd Schmidt aus Bad Homburg:
„Die Beiträge von Walter Unger, Maintal sowie von Robert Maxeiner, Frankfurt, sind ausgesprochen erhellend. Die deutschen Wahlbürger in ihrer Mehrheit sind insofern derzeit nicht unbedingt als „Souverän“ anzusehen, als sie zu einer gewissen Lethargie in Bezug auf Politik generell neigen. Wie Walter Unger plastisch schreibt, wollen die Bürger nicht in ihrem aktuellen Wohlbehagen durch scharfen politischen Streit gestört werden. Der Feststellung von Robert Maxeiner, Deutschland brauche einen Regierungswechsel und drei Legislaturperioden unter Kanzlerin Merkel seid wirklich genug, kann man nur zustimmen. Allerdings kann man sich angesichts des Parteiprogramms der Linkspartei ein Zusammengehen von SPD und der Linken beim besten Willen nicht vorstellen. Rot-Rot-Grün wird nicht einfach schlecht geredet, sondern würde überhaupt nicht funktionieren.
Belebend für die politische Szene Deutschlands wäre das Entstehen einer Bewegung wie der des neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron, also: „Deutschland auf dem Weg nach vorne“. Es stellt sich auch die Frage, ob es nicht sinnvoll wäre, die Hürde für die Hineinwahl von Parteien in den Bundestag und die Landtage von fünf auf drei Prozent zu senken. Dies würde den Parlamenten eine Frischluftzufuhr geben.“
„Wird dieser Titel 2017 an Sahra Wagenknecht weitergereicht?“ lautet der letzte Satz des Kommentars.
Ich habe mir die Rede von Sahra Wagenknecht genau angehört. Sie sperrt sich nicht grundsätzlich gegen eine Koalition, sondern gegen das Eingehen einer neoliberalen Politik, wie sie in der schwarz-roten Koalition betrieben wurde und inzwischen auch von Teilen der Grünen vertreten wird.
Viele Punkte des damaligen Wahlprogramms der SPD hätten mit rot-rot-grün mit einem anderen Inhalt durchgesetzt werden können als es in den vergangenen Jahren geschehen ist. In diesen Fällen wurde seitens der SPD stets der Hinweis erhoben, dass gewisse Vorstellungen in der Koalition (mit der Union) nicht durchsetzbar seien.
Wenn ich bedenke, dass Oppermann nun bereit ist, auch gegen die Union die Ehe für alle im Bundestag beschließen zu lassen, muss die Frage erlaubt sein, warum dies nicht in anderen Fällen, zumindest während der letzten Monate geschehen ist. Als Beispiele seien die Rückkehr in Vollzeit (sogar im Koalitionsverttrag enthalten, auf den man sich sonst so gerne beruft) oder die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung genannt, die zwar im 2013-er Wahlprogramm enthalten war und auch im neuen Programm am 25.06.2017 beschlossen wurde, nachdem man – ohne Not – einen entsprechenden Antrag der Linken drei Tage vorher abgelehnt hat. Selbst wenn es der SPD schwerfällt, Anträgen der Linken zuzustimmen, hätte ihre Fraktion diesen Antrag ja während dieser Wahlperiode, zumindest am Ende der Wahlperiode wie die Ehe für alle selbst einringen können und sicherlich eine Mehrheit hierfür erhalten.
Solche Spielereien nimmt ihr doch kein Wähler mehr ab, und wenn die SPD in der kommenden Wahlperiode – was wohl ziemlich wahrscheinlich sein wird – eine neue Koalition mit der Union eingeht, kann sie ihr Wahlprogramm sofort einstampfen lassen. Denn dann wird dessen Durchsetzbarkeit noch weniger realistisch sein als seither.
Und die Folgen: weiterer Wähler- und Mitgliederschwund wie in Frankreich und den Niederlanden. Als Corbyn zum Vorsitzenden der Labour-Partei gewählt wurde, wurde ihm Abkehr von der Realtität vorgeworfen – ich erinnere an meinen Leserbrief hierzu in der FR vom 21.09.2015 – nun heißt es nach den Unterhauswahlen, Schulz’ Themen würden denen von Corbyn ähneln. Hierzu bedarf es allerdings noch einiger Klimmzüge der SPD und vor allem der Courage, sich im Bundestag nicht weiter als Wurmfortsatz der Union zu verhalten und jedem Unsinn wie z.B. der Autobahnprivatisierung, der Vorratsdatenspeicherung oder PKW-Maut zuzustimmen. Dies ist nämlich Abkehr von der Realtität, die Corbyn vorgeworfen wurde, aber der damals geschmähte Corbyn hat 40 % eingefahren, während seine damaligen Verächter es gerade auf 12% geschafft haben.
Zum Schluss: Was ist an den außenpolitischen Vorstellungen von Sahra Wagenknecht so schlimm, dass deshalb eine Koalition mit der Linken abgelehnt wird. Denn die NATO war in der Tat als Verteidigungsbündnis gegen den Warschauer Pakt gegründet worden, aber der Warschauer Pakt wurde nach nicht eingehaltenen Versprechungen längst aufgelöst, während die NATO erweitert wurde und auf Weisung eines unberechenbaren Trump aufgerüstet wird.
Soziale Gerechtigkeit wäre in einer Additionsaufgabe die Summe, welche unter den zusammenzuzählenden Summanden steht. Einerseits wirkt sie wegen ihrer Größe kolossal, andererseits verdeckt sie die Bedeutung einzelner Größen, was ihr einen unverbindlichen Charakter verleiht. Sie erinnert mich an das christliche Gebet „Vater unser“. Das kann jeder Halunke ohne innere Beteiligung mitsprechen, es führt aber lediglich in Ausnahmefällen zu einer Umkehr vom bösen Tun.
Warum gerade linke Parteien stets zu dieser Worthülse greifen, könnte einerseits daran liegen, dass die Kernbestandteile der sozialen Gerechtigkeit nur ungern erwähnt werden, weil man keine Chancen dafür sieht, sie politisch durchzusetzen. Andererseits deutet der inflationäre Gebrauch dieses unausgefüllten Schlagworts aber auch darauf hin, dass seine Hauptbenutzer gar nicht wissen, was in der Gesellschaft dringend sozial gerecht zu verändern ist.
So beißt sich die LINKE an Hartz IV fest, ohne vorher geklärt zu haben, ob sie bei den Betroffenen als Interessenvertreterin tatsächlich willkommen ist. Denn Armut ist keine Tugend. Sie kann das Ergebnis einer unverschuldeten Benachteiligung sein, aber sie kann ebenfalls eine unterschiedlich verursachte Abkehr von der Gesellschaft dokumentieren. Trotz der großen Menge an Transferbeziehern handelt es sich um eine wetterwendische Klientel, auf die man sich nicht vorbehaltlos verlassen kann. Die Wahlergebnisse belegen das.
Der Parteiaustritt so vieler Sozialdemokraten nach Schröders Installation der Agenda war zum allergeringsten Teil von Sozialhilfeempfängern verursacht. Mehrheitlich waren es Menschen, die trotz guter Ausbildung und beruflicher Qualifikation auf der Abschussliste des Neoliberalismus standen. Weil sie gut bezahlt waren und deswegen von Unternehmen vielfach nur als Kostenfaktor bewertet wurden. Oder weil sie zu alt waren (um die 50) und man ihnen trotz vorzeigbarer Pluspunkte in der jeweiligen Erwerbsbiografie keine Flexibilität zutraute. Wer durch dieses Raster fallen würde, musste vom Schlimmsten ausgehen – also von Langzeitarbeitslosigkeit. Und das ist auch massenhaft eingetreten. Die Gesellschaft hat diesen, die über drei bis vier Jahrzehnte an ihrem Aufbau maßgeblich beteiligt waren, nicht unter die Arme gegriffen. Nicht wenige mussten das angesparte kleine Vermögen aufbrauchen. Oder vom Einkommen des Ehepartners leben. Würde die Linke sich einmal die Mühe machen, die Biografien ihrer Mitglieder, die sich aus der WASG rekrutieren, auszuwerten, müsste sie ihr Wahlprogramm in entscheidenden Punkten ändern.
Umgekehrt gilt das auch für die SPD. Denn sie hat eine wesentliche Gruppe ihrer einstigen Mitglieder und Wähler verloren. Nämlich jene, die einmal zum so genannten Urgestein bzw. zu den traditionellen Sympathisanten der Partei zählten. Falls Martin Schulz diese Leute nicht überzeugen kann, werden die mindestens notwendigen 35 Prozent der Wählerstimmen unerreichbar sein (besser wären 40 Prozent).
Zweifellos brennen den Menschen unterschiedliche Formen sozialer Ungerechtigkeit unter den Nägeln. Aber diese tragen sehr konkrete Namen: Mietwucher und Gentrifizierung in den Großstädten, Deklassierung der gesetzlich Krankenversicherten bei der Facharztsuche, Absenkung des Rentenniveaus, die Misere an den allgemeinbildenden Schulen oder fehlende Plätze für die Kinderbetreuung.
Bei den Wahlen in NRW zeigten sich Pendler im großen Ausmaß von den täglichen Staus auf den Autobahnen und großen Bundesstraßen so genervt, dass sie für die Autolobbyisten von CDU und FDP votierten. Hannelore Kraft, ihr Kabinett und die gesamte SPD-Spitze haben es nicht vermocht, in dieser Industrieregion, die ohnehin auf Strukturveränderungen angewiesen ist, den öffentlichen Personennahverkehr zu implementieren und attraktiv zu machen.
Die linken Parteien, welche objektiv die traditionellen Partner der Leidtragenden dieser und ähnlicher Entwicklungen sind, zeigen sich offensichtlich nicht dazu in der Lage, die Situation zu erkennen und daraus Konsequenzen zu ziehen.
Wenn beispielsweise dem Frankfurter Planungsdezernenten Mike Josef (SPD) angesichts des sozialen Sprengstoffs, den die hohen Mieten beinhalten, nichts anderes einfällt, als einen neuen Stadtteil auf landwirtschaftlich genutzten und ökologisch unverzichtbaren Flächen in Erwägung zu ziehen, verliert man endgültig das Vertrauen in die SPD. Zwar geht es auch um die Zahl der benötigten Wohnungen, aber auch um die Bezahlbarkeit jener, die eigentlich zur Verfügung stehen, jedoch als Spekulationsobjekte gehandelt werden.
Und ich frage mich angesichts der massiven Umweltprobleme, die durch den hohen Individualverkehr in Großstädten hervorgerufen werden, warum man zeitgleich wichtige Ein- und Ausfahrtschneisen wie die Offenbacher Landstraße, die Hanauer Landstraße und die Eschersheimer Landstraße in Frankfurt auf Monate wegen Umbaumaßnahmen sperrt. Ist Verkehrsdezernent Klaus Oesterling (SPD) denn unfähig, einen Stadtplan zu lesen? Er muss doch damit rechnen, dass sich Ausweichverkehre bilden, die Stickoxyde und Co² in die Seitenstraßen mit ihren Wohnvierteln blasen; vielfach direkt in Grünanlagen und Spielplätze hinein.
Auch an der Gretchenfrage der Frankfurter Verkehrspolitik, dem Flughafen, verschlucken sich Sozialdemokraten seit langem und bilden in Sachen Fluglärm und Kerosin-Regen eine unheilige Allianz mit CDU, Grünen und FDP. Anscheinend gehören Gesundheits- und Lebensschutz nicht zu den Säulen der proklamierten sozialen Gerechtigkeit. Einige der Politiker, auf deren Aufschrei man vergeblich hofft, beteiligen sich an den Montagsprozessen im Terminal 1 des Flughafens, blasen in Trillerpfeifen und halten Plakate hoch. Auf diese Weise kann man die Welt ganz bestimmt nicht verändern.
nach der vergangenen Bundestagswahl war die CSU/CDU knapp an der absoluten Mehrheit, es ist üblich das die stärkste Partei auch die Regierung stellt.Also ist doch eine rot rot grüne Mehrheit 2013 nur fiktiv gewesen für die SPD und ihren Vorsitzenden ? Wäre tatsächlich Sigmar Gabriel mit den Stimmen der Grünen und Linken zum Bundeskanzler gewählt worden – es wäre ein schweres Regieren gegen diesen starken Block aus CDU/CSU geworden. Es wäre ein unmögliches Regieren geworden und hätte wohl wieder mit einem konstruktiven Misstrauensvotum geendet.
Angela Merkel hat eine satte Mehrheit, damit lässt es sich leicht regieren. Aber Sigmar Gabriel hat später für die SPD alles richtig gemacht, mit einem unverbrauchten Kanzlerkandidaten, mit einem Amt des Bundespräsidenten das durch die SPD besetzt ist. Mit der Einführung des Mindestlohns, der Mietpreisbremse und anderen Forderungen aus dem Wahlprogramm.
Angela Merkel hat das Erbe Helmut Kohls angetreten, was das Dauerregieren betrifft. Aber die Merkel CDU ist mir bedeutend lieber als die Kohl CDU.
Für die Bundesrepublik wäre vielleicht ein Emanuel Macron das richtige, eine neue Partei wie En Marche
Was das Land wirklich brauche, sei eine „starke linke Opposition“ (H. Möller) und da liege inhaltlich „die Linke ja in vielen Punkten richtig“ (M.Kirsch), doch solle sie sich auf einen „reformsozialistischen, undogmatischen Kurs besinnen“ (derselbe). Diese Zitate aus zwei Leserbriefen geben exemplarisch die gebetsmühlenhafte Leier von Sympathisanten einer rot-rot-grünen Koalition wieder, die die Linke einbinden wollen in eine Politik der Agenda-Parteien, die wesentlich für die prekäre Lage von 40 Prozent der deutschen Bevölkerung mitverantwortlich ist, deren reales Einkommen gegenüber den 90er Jahren gesunken ist; während „die Wirtschaftskonzerne vor Kraft kaum gehen können“ (Sahra Wagenknecht).
Ich schlage vor, genau von einem entgegengesetzten Standpunkt aus zu denken: Wann sind die SPD und die Grünen endlich koalitionsfähig gegenüber den Linken? Sie sind es nur dann, wenn sie einige Grundsätze strikt verfolgen und glaubhaft in eine Programmatik umsetzen: antimilitaristische Strategien; eine Steuerpolitik, die eine Rückumverteilung von Oben nach Unten bewirkt; Abschaffung des Sanktionsregimes bei Hartz IV.
Was wäre denn von einer SPD-Grüne-Linke-Regierung zu erwarten, die keine systematischen Alternativen zur bisherigen neoliberalen Politik verfolgt? Eine starkes linkes Bündnis, das von diesen politischen Prinzipien her geleitet wird, böte auch die größte Chance, eine Bewegung hervorzubringen, wie sie in Frankreich, Großbritannien und den USA, durch Persönlichkeiten wie Mélenchon, Corbyn oder Sanders repräsentiert werden. Um „Deutschland auf den Weg nach vorn“ (S. Schmidt) zu bringen.
Nach dem Parteitag der Linken macht sich Ratlosigkeit unter Deutschlands Linken breit. „Sehnsucht der Linken nach bürgerlicher Reputation“ (Möller), „Sarah Wagenknechts Vermessenheit“ (Kirsch) oder schlicht die Einsicht „Rot-Rot-Grün würde nicht funktionieren“ (Schmidt) treiben auch die Vereinigung der enttäuschten linken Sozialdemokraten im FR-Leserforum in die Resignation. In seiner Verzweiflung geht Sigurd Schmidt sogar so weit, einen wie Macron auch in Deutschland herbeizuwünschen, nur um die Merkel loszuwerden.
Genau dadurch aber wird klar: das Maximum an funktionierender linker Politik ist in Deutschland auf absehbare Zeit nur erreichbar mit einer Beteiligung der SPD an einer großen Koalition unter Merkel! Nachdem der Schulz-Storm sich gelegt hat und die Genossen begonnen haben, darüber nachzudenken, wie ihr Wahlkampf aussehen soll, da zeigt sich, dass ihre Bilanz der großen Koalition gar nicht so schlecht ist. Sie ist sogar so gut, wie sie in einer rot-rot-grünen Koalition vermutlich nie sein könnte. Also Genosse Schulz, Mindestlohn, Betriebsrenten, Rentenangleichung Ost/West, Lohngleichheit Mann/Frau, Bürgerrechte trotz Terrorismus, Teilhabe von Behinderten, Reduzierung von Leiharbeit und Werkverträgen, Bildungsförderung, Energiewende, Integrationsgesetz, Infrastruktur, Altenpflege, Frauenquote, Elterngeld, Krankenhausreform, Mietpreisbremse – und seit heute: Ehe für alle – sind Themen, die man mit der Merkel weiter voranbringen kann. Sag den Leuten, dass Ihr das machen wollt und lass den Quatsch mit dem Kanzlerkandidaten!
Leider erst am Ende der laufenden Legislaturperiode nahm die SPD die Chance der rot-rot-grünen Mehrheit im Bundestag mit der Abstimmung über die Ehe für alle wahr. Sie hätte wesentlich mehr erreichen können, wenn sie Angela Merkel zur Minderheitskanzlerin gemacht und aus einer Oppositionsmehrheit heraus regiert hätte, nachdem sie ungeschickterweise eine rot-rot-grüne Koalition ausgeschlossen hatte. Bei einer Mehrheitsopposition werden die Gesetze eher von den Parlamentariern und weniger von den Lobbyisten geschrieben. Unsägliche Koalitionskompromisse wie die PKW-Maut sind unnötig, wenn immer wieder neu um Mehrheiten gerungen werden muss. Die rot-rot-grüne Mehrheit wird jetzt schwerer zu erreichen sein als 2103, aber sowohl für die SPD als auch die Grünen wird eine Koalition mit der Union eher einen Abstieg bringen. Um der Selbsterhaltung willen muss deshalb eine Zusammenarbeit mit der Linken eine Option bleiben.
Dass Sahra Wagenknecht stramm linken Wahlkampf betreibt, muss kein Hinderungsgrund sein. Wenig beachtet blieb, dass die Linke in NRW ihr Wahlergebnis verdoppeln konnte. Corbyns Erfolg sollte zudem zu denken geben. Wer der AfD nachhechelt, wird sie stärker machen, wer den von Abstiegsängsten Bedrohten eine echte Alternative zur AfD bietet, hat eine Zukunft, wenn er ihnen klarmacht, dass die AfD mit der Ablehnung der Erbschaftssteuer noch mehr sozialen Ausgleich verhindert als Union und FDP zusammen.
Martin Schulz ist mit seinen Angriffen auf die Kanzlerin auf dem richtigen Weg. Die Skandalisierung ihres neoliberalen Lieblingsprojekts Stuttgart 21, bei dem Milliarden für eine Verschlechterung des Bahnverkehrs veruntreut werden, könnte ihre mangelnde Wirtschaftskompetenz aufweisen. Natürlich muss sich Schulz dabei noch stärker von den Fehlern der Agendapolitik abgrenzen. Aber damit kann er sich den zur Linken abgewanderten Sozialdemokraten annähern. Dann kann er, was Steinbrück versäumte, die unchristliche Griechenlandpolitik der Kanzlerin skandalisieren, die Europa ruiniert und die der Verarmungspolitik im Inland entspricht, damit ihr der Slogan im Hals stecken bleiben muss: „Sie kennen mich, uns allen geht es gut“. Schulz wird nur Erfolg haben, wenn er mehr auf rot-rot-grüne Schnittmengen achtet.
In Anknüpfung an das Leserforum habe ich folgendes anzumerken: Ein linkes Projekt wäre als Korrektiv des Stillstandes und der unzähligen Verschleppungsprozesse von Missverhältnissen keinesfalls zu verschmähen. Doch ist dem entgegenzuhalten, dass es mit Unkalkulierbarkeit verbunden wäre, weil die Linke in ihren Positionen noch widersprüchlich und als Bewegung unerwachsen ist. Sie zeigt sich kulturell-politisch ungelenk, kleinbürgerlich verschroben, und bei geeigneter Gelegenheit spielen ihre lokalen Amtsträger das Soziale gegen Kunst und Kultur aus. Das hat im Land des spießbürgerlichen deutschen Sozialismus Tradition. Dabei kann die Gesellschaft mit Kunst und Kultur mehr und wirksamer verändert werden als mit Politik.
Die Parteilinke ist links-autoritär. Das könnte sie in absehbarer Zeit unangenehm machen. In Teilen ist sie xenophob und neigt zu linkspopulistischen Anwandlungen. Unter dem Deckmantel der Wiedererrichtung des von Schwarz, Rot und Grün geschändeten Sozialstaats verbirgt sie eine Schwäche für Despotien und Machtgebilde. Sie hat in ihren Reihen einen harten Kern von Despotienverstehern.
Außenpolitisch tendiert sie zum Traumtänzerischen und Wirklichkeitsfremden, denn sie glaubt, dass die bösen Buben, die sich weltweit unter diversen Vorzeichen zusammenrotten, wieder nett werden, wenn man es selbst nett mit ihnen meint und versucht, sie mit ein paar wohlschmeckenden Knollen in den Kreis der zivilisierten und kultivierten Welt zurückzuholen.
Warum nun schrieb ich das? In der FR vom 12. Juni las ich unter der Überschrift „Gegen „Zottelbart“ und die Nato“ den Satz: „Auch schaffte es eine Verurteilung ‚der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland‘ und des Krieges in der Ostukraine ebenso wenig ins Wahlprogramm wie eine ausdrückliche Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen in Russland und China“.
Ich hätte bislang nicht vermutet, dass ich einen Leserbrief wie diesen schreiben müsste, da die Partei Die Linke einen geteilten Menschenrechtsstandard hat.