Wie ich die Angst vor der Obrigkeit verlor
Von Jochem Spieker
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Im April 1966 begann meine Lehre bei den Farbwerken Hoechst AG. Da mein kleiner Heimatort zwischen Giessen und dem Vogelsberg lag, war an eine tägliche Fahrt nach Hoechst nicht zu denken. So landete ich in einem der Lehrlingsheime, in meinem Fall in Oberliederbach. Dort waren wir wenn ich mich recht erinnere so etwa 200 Lehrlinge.
Wir diskutierten viel, da gab es die Auschwitzprozesse, die NDP drohte in den Landtageinzuziehen (was sie denn ja auch schaffte) – in diesem Zusammenhang ging ich zum ersten Mal auf eine Demonstration. Die Studentenbewegung spielte eigentlich erst so richtig eine Rolle nach dem Tod von Benno Ohnesorg. Mit der Studentenbewegung begann zwar das Interesse an Politik, aber wichtiger für mich waren die Erfahrungen in Hoechst.
Was mich diese Jahre gelehrt haben war, die Angst vor der „Obrigkeit“ zu verlieren. Damals gegenüber der Ausbildungsleitung, deren „Führungskräfte“ ideologisch offensichtlich noch in der Vergangenheit hängengeblieben waren (übrigens im krassen Gegensatz zu der fachlich ausgezeichneten Berufsausbildung). Die Reaktion auf eine Teilnahme einer Demonstration gegen die Notstandsgesetzte war z.B. ein Anschreiben an die Eltern mit dem Tenor „wir sollten lieber lernen statt demonstrieren“, wie überhaupt öfters versucht wurde uns über die Eltern unter Druck zu setzen (damals war man ja erst mit 21 Jahren volljährig) Die Reaktion auf die Verteilung von Flugblätter vor dem Werkstor war der Einsatz des Werkschutzes. Das Alles eskalierte als ein Lehrling nach einer Übernachtung im „Mädchen-Lehrlingswohnheim“ aus Lehre und Wohnheim entlassen wurde. Dies fanden wir natürlich inakzeptabel und gingen dagegen an. Gemeinsam etwas erreichen zu können und das Gefühl was viele von uns damals hatten, wir können „die Welt verändern“ ließ uns z.B. eine Schülerzeitung (Berufsschule) gründen. Diese durften wir nach Arbeitsschluß in einer kleinen Druckerei in Kelkheim erstellen und drucken, so lernte ich nebenbei auch noch „offset-drucken“. Durch solidarisches Handeln verlor man auch die Angst vor Repressalien der Ausbildungsleitung. Etwas was sich in meinem späteren Berufsleben bei anderen Zusammenhängen noch oft auszahlen sollte.
Jochem Spieker, Pinneberg
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