Die einsamste Zeit meines Lebens,
die politischste Zeit meines Lebens
Von Henning Schramm
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Frankfurt wirkte wie ein Kulturschock auf mich, stellte fast eine Art Gegenwelt dar. Kein Vergleich zu Mainz, der zugänglichen und behäbigen Stadt. Ich empfand Frankfurt als hektisch, verwirrend, undurchsichtig, politisiert, unpersönlich, kalt. Auf einfühlende Hilfe, auf menschliche Wärme glaubte ich hier nicht bauen zu können. Ja, konnte ich hier überhaupt auf mitfühlende, anteilnehmende Menschen hoffen? Ich stellte mich darauf ein, alleine zurechtkommen zu müssen. Ich kannte ja niemanden in dieser Stadt. Aber als ich nach Mainz kam, befand ich mich in einer ähnlichen Situation und hatte trotzdem schnell Kontakte geknüpft. Ich war deswegen vorerst noch zuversichtlich.
Die vom Krieg arg zerzauste Bankenmetropole Frankfurt war damals beherrscht von einer ansteckenden wirtschaftlichen und politischen Dynamik. In der kapitalgerecht wieder aufgebauten Stadt rief die von Profitinteressen angetriebene galoppierende Wohnraumzerstörung, vor allem im Frankfurter Westend, den Widerstand der Studierenden, die die Wohnungsnot unmittelbar zu spüren bekamen, hervor. Das Kapital, verkörpert durch Spekulanten auf dem Immobilienmarkt, traf auf die sich herausbildende antiautoritäre Studentenbewegung, die sich diesen im Häuserkampf im Westend entgegenstellte. Hinzu kamen die Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg und die Ausbeutung der Dritten Welt, die seit dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April dieses Jahres flächenbrandartige Ausmaße angenommen hatten.
Die Stadt und noch mehr die Universität waren politisch aufgeladen. Eine »VauVau« (so das Kürzel für studentische Vollversammlung) in dem legendär gewordenen Hörsaal VI jagte die andere. Tagungen von Arbeits- und Diskussionsgruppen im Kolbheim am Beethovenplatz (so zum Beispiel die Sitzung des SDS kurz vor der nächtlichen Besetzung des Seminars in der Myliusstraße mit Habermas, Mitscherlich, von Friedeburg, Oevermann, den Gebrüdern Wolff, Krahl, Riechmann, Knapp u.a.). Sit-ins und Teach-ins wurden beschlossen und durchgeführt. Professoren wurden in nicht endende politische Diskussionen verwickelt oder durch extensiv gestreckte Diskussionsbeiträge daran gehindert, ihre Vorlesungen zu halten. Auch schreckten manche Aktivistinnen nicht vor sexuellen Provokationen zurück, wie zum Beispiel die berühmt-berüchtigte Aktion einiger Studentinnen (‚Das Busenattentat‘), die mit entblößten Brüsten die Vorlesung von Adorno störten und ihn, den Feingeist, brüskiert hatten. Seminare und Vorlesungen von missliebigen Professoren wurden boykottiert oder besetzt. Einzelne Seminarveranstaltungen wurden in Privaträume verlegt, um die universitäre strukturelle Herrschaft zu unterwandern, wie es damals hieß.
Privatheit wurde deprivatisiert, Öffentlichkeit privater Verfügungsgewalt unterworfen. Rückzug in Privatheit war verpönt, galt als spießig, kleinbürgerlich. Es herrschte ein anti-individualistischer Geist. Alles Private war politisch. Ein Punkt, den ich zwar theoretisch nachvollziehen konnte, aber in der Praxis ablehnte. Ich konnte ohne privaten Raum um mich herum nicht leben.
Henning Schramm 1968
Bild: privat
Es dauerte eine Weile, bis ich einigermaßen verstand, was um mich herum geschah.
Wie viele andere meiner Generation war ich durch den Vietnam-Krieg politisch bewusster geworden. Die täglichen Horrormeldungen, brennende Kinder, Massaker in My Lai, B-52-Bomber über dem geschundenen Land, tägliche Todesmeldungen von Amerikanern und Vietnamesen, vor allem Vietnamesen (über zwei Millionen Tote sollten es bis Ende des Krieges werden), störten empfindlich mein Gerechtigkeitsgefühl und Demokratieverständnis. Mein Mitgefühl für die Unterdrückten wurde geweckt und erstreckte sich nicht nur auf die gesamte Dritte Welt, sondern auch auf die sozial Benachteiligten in unserer eigenen Gesellschaft. Ich suchte nach Ursachen, Strukturen und nach Lösungswegen aus diesem Unrecht. Ich denke heute, dass der Entschluss mich ganz den Sozialwissenschaften zu widmen nicht zuletzt auch durch diese Suche beeinflusst worden ist.
In diesen Tagen, in denen ich dies aufschreibe, sagte Hans Schwert, ein Frankfurter Antifaschist und Widerstandskämpfer gegen Hitler, der gerade seinen hundertsten Geburtstag feierte:
»Ein gerechtes System kann nur entstehen, wenn die Menschen ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen.«
Diese Einstellung war für viele von uns die einzig mögliche Handlungsalternative geworden. Auch für mich. Wir mussten uns selbst aus dem Schlamassel ziehen. Der Staat konnte unsere Erwartungen nicht mehr erfüllen. Er war zum Handlanger des kapitalistischen Systems geworden, wie das die hoch im Kurs stehende Stamokap-Theorie formulierte. Diese Theorie hatte natürlich keinen Alleinvertretungsanspruch. Unter dem Kürzel APO (Außerparlamentarische Opposition) entwickelten sich eine Unmenge von linken Gruppen und Kleinorganisationen, die alle für sich in Anspruch nahmen, die Wahrheit zu kennen – oder zumindest auf dem richtigen Weg dorthin zu sein. Marxisten, Trotzkisten, Leninisten, Maoisten, Spartakisten, Stalinisten, DDR-gläubige DKPler, SDS, Anarchisten, Spontis …
Die elitär-dünkelhaften, manchmal auch zynischen Verhärtungen, die später die im Weiberrat organisierten Frauen erzürnten, galten damals für nahezu alle linken Gruppierungen. Auch für die Spontis, die ja eigentlich Spontaneität auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Alle hatten ihre Gurus, brillante Denker, wortgewaltige Redner und agile Anführer und Strippenzieher, die sich ihren Führungsanspruch nicht so leicht aus der Hand nehmen ließen. Seien es Rudi Dutschke, die Wolff-Brüder oder Hans-Jürgen Krahl vom SDS, der mir mit seiner rasierklingenscharfen Stimme heute noch im Ohr ist. Oder bei den Spontis Dany Cohn-Bendit, der Dauerredner mit seiner polternden Stimme. Oder Joschka Fischer, der Mann der Aktion damals. Und alle hatten ihr Fußvolk, das sich zu Füßen der strahlenden Führungsfiguren niederließ.
In dieser aufgewühlten, aber für mich auch ungemein spannenden Atmosphäre, irrte ich umher und versuchte irgendwo meinen Platz zu finden. Ich hatte keine Erfahrungen im Bau und Erhalt von Netzwerken.
Ich ging mit einem Leidensgenossen, der auch Soziologie studierte, und dem es ähnlich wie mir erging, abends in den Club Voltaire, trank ein, zwei, drei oder mehr Gläser Bier und diskutierte. Ich ging auf Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, ebenso wie gegen Wohnraumzerstörung. Ich nahm meine Füße in die Hand, wenn die Wasserwerfer in Aktion traten oder die Polizei die Gummiknüppel auspackte. Ich nahm an Sit-ins teil, boykottierte Lehrveranstaltungen, organisierte Veranstaltungsreihen in privaten Räumen, besuchte die VVs und Diskussionsrunden oder die Trinkgelage im Kolbheim und anderswo.
Aber ich fühlte mich einsam in dem ganzen Trubel, fand mich zwischen allen Stühlen sitzend wieder. Ich war solidarisch mit einem großen Ziel, der die unter sich zerstrittenen politischen Splittergruppen einte, nämlich, dass die Gesellschaft verändert werden müsse. Über den Weg dorthin, über welche konkreten Aktionen die Ziele erreicht werden könnten, wie die neue Welt aussehen sollte oder könnte, darüber fand ich bei keiner Gruppierung ausreichend große Schnittmengen mit meiner eigenen Gedankenwelt, die es mir ermöglicht hätten, mich in eine dieser Gruppen voll zu integrieren und mich ihr anzuschließen. Die Spontis waren mir zu spontan und aktionistisch, die K-Gruppen zu orthodox-dogmatisch und der SDS zu ideologisch aufgeheizt und bei allen hatte ich starke Vorbehalte wegen der von mir so empfundenen oftmals stark ausgeprägten hierarchischen Strukturen und wegen des erheblichen Drucks gegen abweichende Meinungen innerhalb der Gruppierungen, den auszuhalten ich mich noch nicht gewachsen fühlte.
Vielleicht war ich auch zu sehr auf Balance, auf Konsens, auf Kompromisse bedacht, richtete mich in einem Nietzschen Zwei-Kammer-System ein, das Rüdiger Safranski in einem Interview einmal so beschrieb:
In einer Kammer wird mit Verrücktheit eingeheizt, mit Phantasie, mit Kühnheit, mit Extremismus. In der anderen wird vernünftig herunter gekühlt.
Beide Kammern habe ich zu vereinen versucht und eine friedliche Koexistenz beider angestrebt. Ich war leidenschaftlicher, durchaus emotionalisierter Verfechter des politischen Umbruchs, mit viel Phantasie ausgestattet, und ich war zugleich abwägender, analytischer Vernunftmensch, der auf Ausgleich bedacht war. Ausgleichen, Einheizen, Ausgleichen, Einheizen … Ob das damals der richtige Weg war? Ist solch eine Koexistenz von überbordender Phantasie und Vernunft in einer Person schadlos möglich? Bringt der Mittelweg den Tod? Ich bin mir nicht sicher.
Wir, ich eingeschlossen, die Franz Josef Strauß einmal als »verdreckte Vietcong-Anhänger, die da öffentlichen Geschlechtsverkehr treiben« bezeichnet hatte, begannen die Bruchstücke der Vergangenheit zu identifizieren und versuchten sie neu zu ordnen. Freiheit, die wir meinten, zu leben.
Autoritäten, die für die unglückselige Vergangenheit standen, wurden in Frage und Autorität als solche wurde auf den Prüfstand gestellt, wieweit und in welcher Form sie mit unserer Republik verträglich war. Befreiung lag in der Luft, Befreiung von allen Fesseln. Man konnte sie förmlich riechen, spüren, mit den Händen fassen. Es war eine dramatische, sinnliche Zeit.
Nichts war mehr selbstverständlich, alles war fließend, wurde hinterfragt, in Frage gestellt, angeprangert: die verkrusteten staatlichen Strukturen, die Atomkraft, die Umweltzerstörung, die Aufrüstung und die Unterdrückung der Dritten Welt, der Militarismus. Es wurde gestritten für mehr Demokratie, für mehr Solidarität und Mitgefühl für die Unterdrückten und Diskriminierten dieser Welt, für mehr sexuelle Selbstbestimmung, für Gleichberechtigung, für das Recht der Frau, über den eigenen Körper selbst bestimmen zu können, für die Emanzipation der Frau und der Homosexuellen. Es wurden Konventionen durchbrochen, um Freiräume zu schaffen für neue Lebensformen und Verhaltensstile.
Ich will nicht richten, den Finger auf die Wunde legen aber schon. Im Nationalsozialismus überwog ein Klima der Angst, getragen von Menschen, die sich vor eigenen, individuellen Entscheidungen fürchteten und Verantwortung, vielleicht sogar ihr Gewissen, auf ein politisches System übertrugen und ihr menschliches Mitgefühl einbüßten. Die Sechzigerjahre wurden geprägt von der Furcht des persönlichen Scheiterns, vor sozialem Abstieg. Schwäche zu zeigen oder zuzugeben galt als Makel. Die Menschen der Republik schwammen in dieser Zeit in einem Meer Gleichgesinnter, die sich nur durch den Grad der Pflichterfüllung unterschieden – und auf einer Schaumkrone des wirtschaftlichen Erfolgs. Die Fußstapfen, die sie an ihren neuen Ufern hinterließen, versandeten, spurenlos und haltungslos. Sie wiesen denjenigen, die nicht einfach den Weg aus der gebrandmarkten Vergangenheit in die Zukunft extrapolieren wollten und konnten, keinen gangbaren Pfad in eine lebenswerte Zukunft.
Genau diese Haltung der Generation wollten wir, wollte auch ich, durchbrechen. Wir versuchten, persönliche Verantwortung zurückzugewinnen und in politische Macht umzumünzen, den Spielraum individueller Entscheidungsgewalt zu vergrößern, die Macht der Staatsautoritäten und des Staatsapparats einzudämmen. Wir versuchten, Furchtlosigkeit vorzuleben, keine Angst vor dem Scheitern zu zeigen, die Existenzgrundlagen der Schwachen zu stärken und ein Gewissen, das Nein sagen und Widerstand leisten kann, zu entwickeln.
Und so war es auch bei mir. Obwohl leidend unter den persönlichen situativen Bedingungen, die diese Zeitspanne zu meiner Einsamsten machte, war sie doch gleichzeitig auch meine politischste Zeit überhaupt. Sie hat mein soziales, politisches Gewissen geformt und die Besinnung darauf, selbst Verantwortung zu übernehmen, mich persönlich einzusetzen und meinem Gewissen zu folgen, wenn ich es für richtig hielt – zu sagen: nein, so geht das nicht!
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Dieser Text ist ein Auszug aus dem autobiografischen Buch „Innenansichten“ von Henning Schramm, epubli, 2. Auflage 2016, 256 Seiten, 14,95 €, ISBN 978-3-8658-2716-6.
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Der Autor
Henning Schramm, geb. 1944 in Tübingen.
Studium der Soziologie und Volkswirtschaft
in Mainz, Tübingen und Frankfurt.
War Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl
„Pädagogik: Dritte Welt“ in Frankfurt,
Redakteur von Fachzeitschriften.
Mitgründer des IKO-Verlags, Frankfurt,
mit Schwerpunkt Dritte Welt und Entwicklungspolitik, Marktforscher.
Lebt in Frankfurt und ist seit zehn Jahren
als Schriftsteller tätig (Webseite henningschramm.de).
Bild: privat