Wir Mädchen waren gerade gut genug für niedere Arbeiten
Von Roswitha Schmidt
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1968 war ich 18 und auf dem Weg mein Abi zu machen. Meine Freundin Anke, die heute in Bolivien lebt und mit ihrem Mann ökologisch verträgliche Rinderzucht im Urwald betreibt, erinnert sich gerne: „Das ist meine Freundin Roswitha, vor 50 Jahren haben wir zusammen Revolution gemacht!“ So hat sie mich bei meinem letzten Besuch in Bolivien ihren FreundInnen vorgestellt und dabei ein bisschen übertrieben. „Die Roswitha hat sich auf den Schulhof auf einen LKW gestellt und zur Demo gegen die Notstandsgesetze aufgerufen.“ Das stimmt allerdings. An der Schule waren Umbauarbeiten im Gange, deshalb stand da ein LKW. Ich kletterte mit meiner Freundin Renate auf den LKW. Sie war Schulsprecherin und wir hatten ein Megaphon von der SV (Schülervertretung). So riefen wir die SchülerInnen auf, die Schule zu verlassen und gegen die Notstandsgesetze zu protestieren. Es wäre schließlich fünf Minuten vor zwölf und die Demokratie würde abgeschafft. Das war ganz schön mutig. Man muss dazu wissen, es war die Oberstufe einer reinen Mädchenschule, der Elisabethenschule in Frankfurt, besucht von braven Mädchen aus guten Familien.
Nach dem Abschluss der Realschule hatte ich es dank meiner guten Noten geschafft, die Oberstufe eines Gymnasiums besuchen zu dürfen. Dies verdanke ich auch meinem Klassenlehrer, denn dieser hat meine Eltern bearbeitet und überzeugt. Meine Eltern hatte für mich eine andere Zukunft vorgeschwebt: Ich sollte eine Banklehre absolvieren und dann heiraten. Einen festen Freund hatte ich schließlich schon seit einem Jahr – Erwin, ein Fliesenleger, der ein bisschen aussah wie Steve McQueen.
Ich selbst hatte wiederum andere Pläne. Dank meines Lehrers in Chemie und Physik, der mich für diese Fächer begeistert hatte, vor allem durch die vielen praktischen Experimente, die wir selbst durchführen durften, wollte ich unbedingt Chemielaborantin werden. Dieser Lehrer war übrigens aus der DDR geflohen, aber erzählt hat er nie etwas darüber. Eine Betriebsbesichtigung bei den Farbwerken Hoechst belehrte mich eines Besseren. Nach dem obligatorischen Rundgang durch das Werk und die Labore erklärte uns der Firmensprecher beim abschließenden Vortrag auf Fragen der anwesenden SchülerInnen hin: Für die Laborberufe, ob jetzt als Chemie-, Physik- oder Biologielaborantin, da würden immer auch gerne Mädchen genommen. Für eine Ausbildung zum Industriekaufmann würden aber nur Mädchen mit Abitur und ganz guten Noten genommen, die würden sowieso bald heiraten. Bei Jungen reiche schon ein guter Realschulabschluss.
Aha, also Laborarbeit = niedrige Arbeit und dafür sind Mädchen mal wieder gut genug! Ich war geschockt. Blauäugig, wie ich war, hätte ich eine solche Benachteiligung niemals für möglich gehalten. Heute würde so etwas wohl niemand mehr aussprechen, aber wird nicht trotzdem immer noch genauso gehandelt? Für mich waren damit jedenfalls die Farbwerke erledigt und mein Traum war zerplatzt. Von anderen Problemen der Chemie, Umweltbelastung, Tierversuche war damals keine Rede, daran dachte niemand.
So war ich also offen für den Vorschlag, die Oberstufe eines Gymnasiums zu besuchen. Danke, Herr Farbwerkssprecher! Sonst hätte ich wahrscheinlich einen Großteil meines Lebens im Labor gefristet und zu spät erkannt, dass diese Tätigkeit gar nicht so interessant ist, eher monoton.
Was das Heiraten angeht, so hatte ich damals noch keine Zweifel, das war einfach völlig selbstverständlich. Zweifel hatte ich allerdings schon, wenn es um die Jungfräulichkeit ging. Kein Sex vor der Ehe! Aber natürlich nur für die Frau. Warum? Ich fand Sexualität und das andere Geschlecht schließlich auch sehr aufregend.
Roswitha Schmidt
im Jahr 1968.
Bild: Privat.
Aber zunächst einmal stand nun die Wahl einer Schule an. Die benachbarte Schillerschule, ein Mädchengymnasium in Frankfurt Sachsenhausen, schien nicht sehr geeignet. Dort hätte ich Latein nachholen und ein Jahr zurück gehen müssen. Das fand ich etwas beängstigend, die beratenden Lehrer waren zudem recht abweisend und betonten die großen Schwierigkeiten. Außerdem hatten uns die besser gestellten Gymnasiastinnen schon immer arrogant bespöttelt, wenn wir RealschülerInnen dort gelegentlich Räume nutzten. Schließlich mischte sich mein Schulleiter persönlich ein und empfahl die Elisabethenschule. Dort konnte man den mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig besuchen und brauchte kein Latein. Überhaupt waren die klassischen GymnasiastInnen im Bereich Sprachen im Vorteil. Es gab ein Förderprogramm für die Aufsteiger mit Zusatzunterricht jede Woche im 11.Schuljahr. Der Schulleiter meiner Realschule freute sich über die ÜbergängerInnen, denn das war gut für den Ruf der Schule. Von der ganzen Schule waren wir nur zwei Mädchen, die es geschafft hatten, Hannelore und ich. Inzwischen haben tatsächlich wie beide promoviert.
Unsere Schule war übrigens eine „gemischte“, Mädchen und Jungen besuchten die gleiche Schule, gingen aber in getrennte Klassen. Nun kam ich also in eine „reine“ Mädchenschule. Das kam mir schon etwas verstaubt vor. Es fing auch gleich damit an, dass ich etwas verspätet in den Unterricht stolperte, denn der erste Schultag hatte mit einem gemeinsamen Gottesdienst begonnen, was mich sehr verwunderte, das war für mich völlig ungewohnt.
Die neue Schule erweckte in mir zwiespältige Gefühle. Einerseits kam ich mir vor, wie im Raritätenkabinett, einige Lehrpersonen schienen mir direkt aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett entsprungen. Unsere Englischlehrerin beispielsweise – ich starrte sie oft über lange Unterrichtszeiten hinweg ungläubig an – sie sah aus, wie man sich als Kind immer schon eine Hexe vorgestellt hatte: Lange Nase, spitzes Kinn, geschmückt mit einer Warze, dann noch fettige, graue, halblange Haare. Als wir Romeo und Julia von Shakespeare lasen, bekam sie glänzende Augen, was wir natürlich bemerkten und uns pubertär darüber amüsierten.
Der Lehrer für den Förderunterricht in Französisch schlief des öfteren mitten im Unterricht ein – okay, wir waren ja nur sechs Mädchen und es war Nachmittag. Auf den Fluren liefen immer noch Frauen mit streng nach hinten gekämmten Haaren und Knoten herum. Unser Physiklehrer schaffte es nie, pünktlich zu Unterrichtsbeginn einen Versuch aufgebaut zu haben. Stets mussten wir bis zu 20 Minuten warten, und stets musste die Tochter des Physiklehrers aus der Nachbarschule, die in unserer Klasse war, ihm helfen. Experimente, die wir SchülerInnen durchführen durften, gab es fast nie. Wenn wir logischerweise in der Wartezeit aus Langeweile unruhig wurden und schwätzten, kam er irgendwann aus dem Vorbereitungsraum hervorgestürzt und schimpfte: „Aber, meine Damen….“. Ja, wir wurden nun mit „Sie“ angeredet, als Zeichen, dass wir respektvoll als Erwachsene angesehen wurden.
Und damit kommen wir zur anderen Seite. Es gab Fächer, in denen wir zum Denken angeregt wurden. Gesellschaftslehre: Informationen gingen in die Tiefe und es durfte diskutiert werden. Deutsch: Interpretationen, bei denen man eigene Vermutungen anstellen konnte, faszinierten mich. Ich liebte Erörterungen, bei denen widersprüchliche Gedanken formuliert werden durften. Einmal wollte mich meine Deutsch- und Klassenlehrerin provozieren und bot als Aufsatzthema ein Mao-Zitat an: „Die Kunst gehört den Volksmassen.“ Da mir aber die sozialistische Gängelung der Kunst und der Sozialistische Realismus gar nicht gefielen, wählte ich lieber eine Gedichtinterpretation. Sogar in Mathematik war Denken erlaubt. Einmal hatte ich eine Aufgabe gelöst, indem ich einen völlig anderen als den durchgenommenen, viel umständlicheren Rechenweg wählte. Es wurde akzeptiert. Das war nicht selbstverständlich, denn der Rechenweg musste ja nachvollzogen werden. Noch heute findet man leider oft bei Mathematiklehrern die Vorstellung und damit auch Vorgabe, nur der eine durchgenommene Weg müsse nach Schema F angewendet werden, dabei wäre es gerade umgekehrt sinnvoll, verschiedene Möglichkeiten aufzuzeigen.
Ich denke, es waren diese Widersprüchlichkeiten, die meine Kritikfähigkeit anregten und mein Selbstbewusstsein stärkten. Ich besuchte die Philosophie-AG und damit im Zusammenhang eine AG über Karl Marx mit der Lektüre von „Lohnarbeit und Kapital“, übrigens geleitet vom späteren hessischen Kultusminister Holzapfel und einem seiner Mitarbeiter. Hier kam ich zum ersten Mal mit der theoretischen Kritik am Gesellschaftssystem in Berührung und war beeindruckt. Praktisch geriet alles immer mehr in Aufruhr. Einmal zur Kritik ermuntert, interessierte mich am meisten die Demokratisierung der Lebensverhältnisse. Im Mittelpunkt standen natürlich meine eigenen Lebensverhältnisse, also ging es um die Demokratisierung der Schule. Sehr schnell erwachte in mir auch der Protest gegen den autoritären Erziehungsstil der Eltern. Auch die nicht vorhandene Aufarbeitung der Vergangenheit des Nationalsozialismus, die Verdrängung und die Beteuerungen, man hätte ja nicht anders gekonnt, spielten eine Rolle. Die Auseinandersetzungen, die es gerade im Bezug auf diese beiden Punkte im Elternhaus gab, waren ungeheuerlich. Statt Harmonie waren ständige Streitigkeiten an der Tagesordnung. Wie ich es überhaupt als Mädchen wagen konnte, eine eigene Meinung lauthals zu vertreten, war für meine Eltern unvorstellbar. Hinzu kamen die Auseinandersetzungen über das Aussehen, die Kleidung und andere Grenzüberschreitungen z.B. bei den Zeiten für das nach Hause kommen. Mit 19 zog ich klammheimlich gegen den Willen meiner Eltern aus, nachdem ich illegal ein Zimmer in einem Studentenwohnheim ergattert hatte. Damals galt die Volljährigkeit nämlich erst ab 21 Jahren.
In dieser Zeit gab es durch ein Flugblatt o.ä. einen Aufruf zur Gründung eines Schülerbundes, in dem sich die protestierenden SchülerInnen zusammenschließen sollten. Das war der AUSS = Aktionsbündnis Unabhängiger und Sozialistischer Schüler ( „innen“ gab es damals noch nicht, allerdings verfassten wir unsere Texte „revolutionär“ in Kleinschreibung). Ich ging sofort hin und traf im Club Voltaire auf ca. 7 weitere zum Protest bereite SchülerInnen. Abgesehen vom AUSS gab es noch den USB = Unabhängiger Schülerrbund, der etwas gemäßigter war. Ihm gehörte die damals überregional bekannte Schülerin Christa Appel an. Sie war durch den mutigen Schritt bekannt geworden, bei den Schülerinnen ihrer Schule, der Bettinaschule in Frankfurt, über die Schülerzeitung eine Umfrage über ihr Sexualverhalten durchzuführen, bzw. eigentlich war es eher eine Umfrage zu ihren Vorstellungen und Wünschen, wenn es um Sexualität geht, d.h. die Sexualmoral.
Das rief einen Skandal hervor, auch wenn die Fragen sehr vorsichtig formuliert waren. Nun man muss sich dabei vor Augen führen, dass unsere Aufklärung in der Schule darin bestand, die Sexualorgane beim Hausschwein kennenzulernen und einen Film über eine Geburt bei Pferden zu sehen. Ach ja, vor Geschlechtskrankheiten wurden wir auch gewarnt! Nun, die „Sexuelle Revolution“ sollte erst noch folgen, sie ließ aber auch nicht lange auf sich warten.
Es gab auch Lehrer, die die Schule radikal verändern wollten, so wurde der SLB = Sozialistischer Lehrerbund, gegründet, Herbert Stubenrauch war einer der Hauptakteure. Unser Hauptaugenmerk galt zunächst einmal der Demokratisierung der Schule. Als gute Schülerin hatte ich persönlich nicht viel zu leiden, im Gegenteil hatte mir die Schule die Möglichkeit geboten, meine soziale und persönliche Lage entscheidend zu verbessern. Allerdings war mir schon immer die autoritäre, ja oft sadistische Art ein Dorn im Auge, mit der andere SchülerInnen gequält wurden, vor allem, wenn sie schwach in den Leistungen waren.
In der Grundschule waren wir Mädchen in drei nebeneinander angeordneten Sitzreihen platziert worden. Die Zuordnung zu einer Sitzreihe sollte nach Leistung erfolgen, wozu ein Vorlesetest gemacht wurde, jedes Mädchen musste vorne vor der Klasse vorlesen. Seltsamerweise stand diese Leistung in direkter Relation zu dem sozialen Status der Eltern. Das hatten selbst wir in unserem zarten Alter entdeckt. Einer „armen“ Schülerin hatte unsere Klassenlehrerin einmal ein Buch auf den Kopf gehauen, weil sie etwas falsch gemacht hatte. Nachdem die Schülerin daraufhin eine Gehirnerschütterung bekommen hatte und lange Zeit fehlte, bekamen wir zum Schuljahreswechsel einen neuen, netten, Klassenlehrer. Den Zusammenhang hat uns allerdings niemand erklärt. Später in der Realschule genoss es vor allem unser Mathematiklehrer, schwache Schülerinnen nach vorne an die Tafel zu holen. Mit breitem Grinsen und sadistischer Freude führte er vor, wie sie auf seine bohrenden Fragen immer weniger wussten. Einer seiner Lieblingssprüche war: „Herrlich kommt von Herr und dämlich kommt von Dame.“ Heute unvorstellbar. Doch es gab genauso die anderen, netten, menschlichen, die deshalb nicht weniger qualifiziert waren, im Gegenteil. Meinem Klassenlehrer in der Realschule hatte ich nicht nur meinen Übergang in die gymnasiale Oberstufe zu verdanken, bereits er säte in mir Keime zum selbständigen kritischen Denken. Wir lasen Schillers Wilhelm Tell und bekamen die Aufgabe, eine Erörterung zum Thema: „Ist Tyrannenmord erlaubt?“ zu schreiben. In der 10. Klasse lasen wir Mutter Courage von Bertolt Brecht.
Ich denke, dass dies für die damalige Zeit eher ungewöhnlich war. Unser Lehrer hatte zwar häufig, aber nur andeutungsweise, über seine Kriegserlebnisse in den kalten finnischen Wäldern erzählt, aber nie direkt den Krieg kritisiert. Vielleicht war das seine Art, Kritik zu äußern, jedenfalls für mich ein gelungener Versuch, uns zum Nachdenken zu bringen. Meiner Klassenlehrerin in der Oberstufe habe ich ebenfalls einiges zu verdanken. Auch, wenn sie in keiner Weise mit meinen radikalen Ansichten übereinstimmte, bekam ich niemals schlechte Noten für meine Meinung.
Der Gedanke ließ mir jedoch keine Ruhe, wie zufällig Erfolg und Misserfolg in der Schule waren, wie sehr eine positive Entwicklung davon abhing, auf entsprechende Lehrerpersönlichkeiten zu treffen. Abgesehen davon, dass dies natürlich besonders für aufsteigende Unterschichtkinder zutraf, während Mittel- und Oberschichtkinder bis heute in dieser Hinsicht wesentlich weniger Probleme haben. Mit den Gleichgesinnten in unseren revolutionären Schülerbund beschäftigten wir uns also mit dem Thema Schulreform. Wir stießen auf die Ideen zu einer integrierten Gesamtschule und fanden diese recht überzeugend. Natürlich wollten wir dabei eine umfangreiche Schülermitbestimmung. Und wir gingen noch einen Schritt weiter: Integrierte Gesamtschule ohne Noten! Abschaffung der Noten als zentrales Unterdrückungsinstrument der SchülerInnen, das schwebte uns vor. Jede/r sollte aus reinem Interesse lernen und die LehrerInnen sollten entsprechende Anregungen schaffen.
Schnell wurden wir von unseren erwachsenen DiskussionspartnerInnen darauf hingewiesen, dass so etwas – die Abschaffung der Noten – in unserer Gesellschaft nicht möglich wäre, ja, am Ende sogar der Natur des Menschen widerspräche. Das bremste unseren Eifer nicht. Die Gesellschaft verändern, ja genau, das war es, was wir wollten! An diese „Natur des Menschen“ dagegen wollten wir nicht mehr glauben, damit wurde fast alles begründet, was der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Strukturen diente.
Nun stand es also an, sich mit der Gesellschaft zu befassen. Nicht nur der Kontakt zu den Studenten des SDS verstärkte unsere radikal oppositionelle Haltung. Die Nachkriegsgesellschaft selbst zeigte ihr undemokratisches Gesicht. Das von der Polizei geduldete brutale Vorgehen der „Prügelperser“ gegen die friedlichen Demonstranten bei der Anti-Schah-Demonstration, der Tod von Benno Ohnesorg, vieles hatte ich zuerst nur über das Fernsehen mitbekommen. Die unerträgliche Hetze in den Medien, vor allem durch die Bildzeitung, blieb uns nicht verborgen. Oft genug wurde man im privaten Umfeld angegriffen und beschimpft. Das konnte in der Straßenbahn passieren, wenn wir „zu kurze“ Röcke trugen, das konnte bei Treffen im Kreis der Verwandtschaft passieren, wenn man es wagte, den Beschimpfungen gegen die „langhaarigen Studenten“ entgegenzutreten Ich ließ mich aber nicht beirren und trug einen riesigen „Enteignet Springer“-Aufkleber auf meiner Tasche.
Es kam schließlich soweit, dass sogar wir braven Mädchen zu Demonstrationen aufriefen. Eine erste von SchülerInnen organisierte Demonstration gab es zum Thema Schulreform und Mitbestimmung. Es kamen fast 200 SchülerInnen, nicht viel, immerhin. Bei weiteren Demonstrationen, eben auch zu den Notstandsgesetzen, wurden es mehr. An meiner Schule schlossen einmal LehrerInnen Klassenzimmertüren ab, um zu verhindern, dass die SchülerInnen während der Unterrichtszeit demonstrierten. Das machte viele der Mädchen erst recht wütend, unerwartet viele kletterten aus den Fenstern, jedenfalls im Erdgeschoss und schlossen sich der Demonstration an.
Ein anderes mal kündigten wir – das kleine radikale Häuflein vom AUSS – an, wir würden fünf Schulen bestreiken. Die genannten Schulen beendeten vor Schreck den Unterricht vorzeitig. Trotzdem kamen reichlich viele zu der Demonstration, es war eben nicht nur für alle ein Anlass, „blau“ zu machen.
Der Höhepunkt war die Besetzung der Bettinaschule, in der zumindest an einem Tag selbst organisierter Unterricht zu kritischen Themen stattfand. Ich leitete eine AG zum Thema „Bildungsökonomie“ , Bildungsökonomie zeigt auf, dass Bildung in modernen Gesellschaften ein Produktionsfaktor ist, daher eine Bildungsreform nötig ist, die breitere Gesellschaftsschichten ergreift, was unsere Forderungen unterstützte, aber andererseits auch total systemkonform war.
Bei dieser Besetzung zeigten sich leider schnell die Grenzen der Bewegung. Da grenzenlose Demokratie grenzenlose Redefreiheit bedeutete, redeten einige grenzenlos lang. Was vor allem sich in regelrechtes Grauen steigerte, wenn einige Personen zu völlig irren Themen stundenlang vor sich hin referierten und so mit viel Erfolg die meisten Interessierten vertrieben. Schließlich wurde die Besetzung beendet, soweit ich mich erinnere in der Nacht durch die Polizei, denn nur wenige hatten dort ausgeharrt. Ich z.B. wohnte noch bei meinen Eltern und war brav nach Hause gegangen.
Der Übergang von der Schüler- zur Studentenbewegung war fließend. Wir diskutierten und protestierten weiter in den Seminaren. Auch hier ging es um Reformen und Demokratisierung. Ein Erfolg war, dass wir als kleine Gruppe von 5 jungen Frauen ein kollektives Examen ablegen konnten, das Staatsexamen für das Lehramt. Wir schrieben eine kollektive Arbeit (jeder musste allerdings einen separaten Teil abliefern) und gingen zu zweit in jede mündliche Prüfung.
Da es um Demokratie ging, durfte der Blick auf die großen Zusammenhänge in der Welt nicht fehlen. Nach der Anti-Schah-Demonstration und den folgenden Ereignissen hatte ich begonnen zu lesen, was im Iran eigentlich vorging. Ich las vom Sturz des demokratisch gewählten Premierminister Mossadegh und den Unterdrückungsmethoden des Schahs ,, den ich bisher nur gemeinsam mit seiner Frau als strahlendes Märchenkaiserpaar aus der Regenbogenpresse kannte. Ich lief mit auf das Rollfeld des Frankfurter Flughafens, um die Abschiebung des iranischen Studenten Taheri zu verhindern.
Schließlich erregte uns alle der Vietnamkrieg. Hatten wir doch in unserer Jugend alle die USA bewundert und galt sie uns nicht als Hüterin der Demokratie! Die Enthüllungen zeigten, dass die bewunderten Werte mit Füßen getreten worden waren.
Was bleibt?
Durch die antiautoritäre Bewegung wurde viel verändert. Die autoritäre Erziehung, bis hin zu Prügelpädagogik, konnte eben nicht mehr ungefragt bestehen bleiben. Wer denkt, das wäre nicht so wichtig, soll sich noch einmal in aller Gemütsruhe den Film „Das weiße Band“ zu Gemüte führen.
Gleichzeitig mit der Erziehung der Kinder veränderte sich auch die Rolle der Frau radikal, wobei die Frage, was zuerst war, obsolet ist. Nachdem es die Pille gab, konnten auch die Frauen ihre Sexualität ausleben, ohne ständige Angst vor dem Kinderkriegen zu haben und ohne den Zwang zur Ehe. Kinderläden wurden gegründet, um die Frauen zu entlasten, aber auch eine andere Erziehung zu praktizieren und schließlich wurde auch auf die Schulen Einfluss genommen, womit sich der Kreis wieder schließt.
Ich tat beides. Ich lebte in Wohngemeinschaften, entschloss mich nicht zu heiraten und erzog meinen Sohn selbständig, mit seinem Vater teilte ich die Erziehung, aber mein Geld verdiente ich selbst. Mit einer Freundin zusammen gründete ich eine Krabbelstube, was damals in Frankfurt noch eine Seltenheit war. Ich arbeitete zunächst als Hauptschullehrerin an der Rebstöcker Schule im Gallusviertel in Frankfurt. Mit meinen Vorstellungen von Veränderung kam ich hier nicht weiter, denn ich stieß auf SchülerInnen, die schon von sich aus „antiautoritär“ waren, nämlich völlig disziplinlos. Also fing ich gemeinsam mit KollegInnen an, kleine Veränderungen einzuführen, z.T. im Bereich der Berufsvorbereitung oder bei der Unterstützung der ausländischen Schüler, die in dieser Zeit als Kinder der „Gastarbeiter“ verstärkt an die Schulen drängten.
Später arbeitet ich mit im Gründungsteam der IGS-Nordend, die als zweite integrierte Gesamtschule nach langen Kampf von Eltern- und Lehrerinitiativen gegründet wurde.
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Die Autorin
Ich wurde 1950 in Frankfurt am Main geboren und besuchte hier die Grundschule, anschließend die Holbein-Realschule, die ich 1966 abschloss. Von 1966 bis 1968 besuchte ich die Oberstufe der Elisabethenschule in Frankfurt am Main. !968 machte ich hier mein Abitur und studierte anschließend an der Johann Wolfgang-Goethe-Universität. Ich studierte Soziologie, Politik, Geschichte und Pädagogik, wechselte nach dem 3. Semester auf die Abteilung für Erziehungswissenschaft an derselben Universität und schloss 1971 mit dem ersten Staatsexamen für das Lehramt an Haupt- und Realschulen ab.1972 wurde ich als außerplanmäßige Lehrerin (damals gab es noch kein Referendariat, man wurde mit einer Stundenverpflichtung von 20 Stunden eingestellt, dienstags war Seminartag) an der Rebstöcker- Schule, einer Hauptschule im Gallusviertel in Frankfurt eingestellt. Von hier aus wollte ich wieder die Welt revolutionieren, was allerdings nicht gelang. Allerdings arbeitete ich unermüdlich in Projekten mit, die für die SchülerInnen Verbesserungen bringen sollten, vor allem im Bereich Berufsorientierung oder Einführung von Schulsozialarbeit. Da hier im Gallus nachdem die Eltern als „Gastarbeiter“ geholt worden waren, vermehrt ausländische Kinder auftauchten, die kein Wort Deutsch sprachen, mit 12% war das für das damalige Frankfurt eine Sensation, führten wir an der Schule das Fach „Deutsch für Ausländer ein“ Die SchülerInnenn blieben in den Regelklassen und bekamen diesen Unterricht anstatt Englisch. Ich gehörte mit zu den Pionierinnen in diesem neuen Fach. Ende 1974 bestand ich die 2. Staatsprüfung und arbeitete weiter an der Rebstöcker-Schule bis 1978. Ab 1978 wurde ich als Pädagogische Mitarbeiterin an die Goethe-Uni abgeordnet, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Abteilung Produktion. Lehrtätigkeit und Praktikumsbetreuung. Ab 1979 Nebentätigkeit an der Fachhochschule Frankfurt im Fachbereich Sozialpädagogik und Mitarbeit im Bezirksvorstand der GEW. 1983 Promotion, die Dissertation wurde unter dem Titel „Entsinnlichung und Erziehung“ veröffentlicht. 1984 Geburt meines Sohnes Sebastian, den ich bewusst als alleinerziehende Mutter erzog, weil ich nicht heiraten wollte. Mit meiner Freundin Jutta gründete ich gemeinsam mit weiteren Eltern eine Krabbelstube – nach dem Vorbild der Berliner Kinderläden. Später besuchten unsere Söhne gemeinsam eine Kinderladen in der Rotlintstraße und nach dem Besuch verschiedener Grundschulen trafen sie sich wieder als Schüler der IGS-Nordene. Da trennten sich zwar ihre Schulwege, aber befreundet sind sie heute noch, ebenso wie ihre Mütter. Ab 1.8.84 Lehrerin der der Brüder-Grimm-Schule, einer Realschule in Fankfurt. 1990 Pädagogische Leiterin der Förderstufe der Comeniusschule in Frankfurt. Während dieser Zeit Mitarbeit in einer Lehrergruppe, die sich für die Gründung einer zweiten IGS -Integrierten Gesamtschule – in Frankfurt einsetzte, es gab damals nur die Ernst – Reuter – Schule, gleichzeitig gab es auch eine Elterninitiative. Die IGS-Nordend wurde nach einem Wahlsieg der SPD schließlich gegründet und ab 1972 arbeitete ich dort als Lehrerin mit im Gründungsteam. 1994 wurde ich Stufenleiterin an der IGS für die Jahrgänge 5 und 6. 1998 wurde ich schwer krank und musste ein dreiviertel Jahr dem Unterricht fernbleiben. Das führte nach meiner stufenweisen Rückkehr leider zu zahlreichen Schwierigkeiten an der IGS-Nordend, sodass ich mich an eine andere Schule bewarb uns 2003 Konrektorin an der Konrad – Haenisch- Schule in Frankfurt Fechenheim wurde, einer verbundenen Grund-Haupt-und Realschule.Gemeinsam mit einigen KollegInnen initiierten wir zahlreiche Reformen, z.B. Einführung der Schulsozialarbeit, Praxistag, Mittagessen an der Schule, Nachmittagsangebot bis hin zum Aufbau gemeinsamer Klassen für Haupt- und RealschülerInnen von 5-7 mit entsprechenden Strukturveränderungen. Hier blieb ich bis zu meiner Pensionierung und arbeitete dann noch ehrenamtlich in der Jury beim Projekt „Starke Schulen“ der Hertie-Stiftung mit, die vor allem Schulen förderte, die zur Ausbildungsreife führten.
Bild: privat