Gescheitert, aber trotzdem nicht ohne Wirkung
Von Udo Kipper
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Mein 1968 mit den vorherigen und späteren Jahren war eine aufregende Zeit. Die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg 1967 bei einer Demonstration gegen die Ehrung des Schahs von Persien in Berlin steigerte die bisherige Kritik am autoritären Staat. Der gemeinsame Protest gegen Missstände erzeugte ein starkes Gemeinschaftsgefühl, das durch das nun selbstverständliche Duzen und durch Modisches wie Bärte und lange Haare für Männer verstärkt wurde. Im Rückblick meine ich, dass das eine gute Zeit für mich und nützlich für die Gesellschaft von heute war.
Die Gründe für den Protest sind natürlich komplex und individuell unterschiedlich. Für mich sind es vor allem diese:
Zunächst gab es die Kritik an der „Ordinarienuniversität“ und ihrem Festhalten an traditionellen Lehrinhalten. In der Germanistik etwa mussten Gotisch, Alt- und Mittelhochdeutsch erlernt werden, die Sprache der Gegenwart blieb außen vor. Das änderte sich mit 68 allmählich.
Zudem war die Ehrwürdigkeit der Uni fragwürdig geworden, als Studierende Zitate aus „wissenschaftlichen“ Werken der NS – Zeit von Professoren veröffentlichten und deswegen disziplinarisch vom Rektorat belangt wurden, z. B. 1964 in Marburg. Zum Glück oft ohne Erfolg, denn die Öffentlichkeit wurde aufmerksam. Durch Berichte über den Auschwitzprozess dann wuchs die Bereitschaft, sich mit dem Nationalsozialismus kritisch zu beschäftigen. Prägnant hieß es auf einem Transparent während einer akademischen Feier in Hamburg: „Unter den Talaren / Muff von 1000 Jahren.“
Ein weiterer Faktor der Politisierung war die Empörung über den Krieg der USA in Vietnam. 1965 in Heidelberg habe ich noch eher zufällig von einer kleinen Gegendemonstration gehört. Später erreichten Berichte etwa über das Massaker von My Lai und Fotos von napalmverbrannten Kindern einen größeren Teil der Öffentlichkeit. Das Schweigen unserer Regierung bzw. ihre logistische Unterstützung des mächtigen Bündnispartners USA sahen zunehmend mehr Menschen kritisch.
Auch die Debatte um die Einführung der Notstandsgesetze aktivierte den politischen Protest. Beim Verteilen von Flugblättern fand ich oft offene Ohren bei Bochumer BürgerInnen. Als dann doch die Notstandsgesetze im Bundestag beschlossen wurden, folgte die große Enttäuschung. Die anti – autoritäre Phase wurde für gescheitert erklärt. Es mag sein, dass die rasche Bildung unterschiedlicher K – Gruppen ihre Wurzeln in der Suche nach einem anderen Weg zur Veränderung der Gesellschaft hatte. Die Orientierung an autoritären marxistisch – leninistischen Kaderstrukturen lehnte ich aber ab. Die Flugblätter der rivalisierenden Gruppen mit ihrem Politjargon habe ich nicht mehr zur Kenntnis genommen, nur ihre Selbstauflösung aus der Erkenntnis, dass die Arbeiter nicht zur Revolution unter K – Führung bereit waren. Ich hatte schon früh den Eindruck, dass viele „Revolutionäre“ mehr Textseiten von Karl Marx als real existierende Arbeiter kannten.
Erfreulich ist, dass z. B. auch Winfried Kretschmann, heutiger Ministerpräsident von Baden – Württemberg und in den Jahren 1973 – 1975 Mitglied in der Hochschulgruppe des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands, versichert, dass er seinen „fundamentalen politischen Irrtum“ (s. Wikipedia) erkannt habe. Das war offensichtlich für viele BürgerInnen glaubwürdig. Wenn er seinen „Irrtum“ aber mit der „68er Sozialisation“ erklärt, beachtet er nicht, dass die frühen Jahre antiautoritär waren und nicht parteidoktrinär.
Gelegentlich findet man die Bemerkung, dass die späteren RAF – TerroristInnen sich an frühen Demonstrationen beteiligt haben. Das wird wohl so sein, aber es gibt keine Logik, dass sie sich von DemonstrantInnen zu Mitgliedern einer elitären Terrorgruppe entwickeln mussten.
Die revolutionären Ideen in prominenten Köpfen der Studenten-bewegung haben die politische Debatte belebt, sie sind gescheitert. Jedoch hat die Erfahrung von sehr vielen Aktiven, dass man gemeinsam mit Anderen die Angst vor Autoritäten mindern und Veränderungen durch Reformen erreichen kann, nachhaltig gewirkt. Natürlich gab es dabei auch Misslingen und Irrtum.
Am deutlichsten wird die Wirkung von 68 im veränderten Verhältnis von Männern und Frauen auf dem Weg zur Gleichberechtigung, was Christina v. Hodenberg in ihrem Buch „Das andere Achtundsechzig“ (2018) deutlich macht. Ich wurde durch sie daran erinnert, dass vor 1968 das uneheliche gemeinsame Übernachten von Frau und Mann gesellschaftlich tabu war. Als ich zum Beispiel 1966 zum ersten Mal meine heutige Ehefrau in ihrem Elternhaus besuchte, haben wir selbstverständlich – obwohl beide volljährig – getrennte Schlafzimmer akzeptiert. Im Hinterkopf hatten viele Menschen wohl noch den Kuppeleiparagraphen.
Bei einer Schwangerschaft war damals das „Heiratenmüssen“ so selbstverständlich wie die überlegene Rolle des Mannes als Ernährer. Die allmähliche Akzeptanz der „Pille“ ab Mitte der 60er Jahre erleichterte dann sexuelle Erfahrungen.
Die Jahre um 68 waren auch wirksam, weil Frauen/-gruppen zunehmend an die Öffentlichkeit gingen, z. B. 1971 mit der Erklärung „Ich habe abgetrieben“ – initiiert von A. Schwarzer. Der Sponti – Charme von 68 kehrte in dem Spruch wieder: „Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad.“
Allmählich outeten sich auch Homosexuelle. Der § 175 StGB in der verschärften Form der Nazizeit galt in der BRD bis zur ersten Reform in 1969. Erst die zweite in 1973 hob das entsprechende Verbot für Erwachsene auf. Außerdem gab es auf einmal auch Lesben. Die spätere Aussage des Berliner Bürgermeisters Wowereit: „Ich bin schwul, und das ist gut so!“ (2001) war wohl nur möglich, weil die öffentlichen Aktivitäten inzwischen eine zunehmende Akzeptanz unterschiedlicher Lebens-gestaltungen bewirkt hatten.
Dass eine neue Bewertung aber Zeit braucht, merkte ich noch Mitte der 80er Jahre bei einer Klassenfahrt an die Ostsee: Nur mit Mühe konnte ich eine kampfgerüstete Gruppe von Jungen aus meiner Klasse (10. Schuljahr) davon abhalten, mit zwei jungen Männern zu „reden“, die sie „händchenhaltend“ !!! am Strand gesehen hatten. Diese Mühe könnte ich mir heute wohl sparen.
Die schrittweise erkämpfte Liberalität und viele Reformen sehe ich als Erfolg von „1968“.
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Der Autor
Udo Kipper, geb. 1944.
Studium der Germanistik und ev. Theologie 1963 – 69 in Marburg, Heidelberg und Bochum.
Von 1971 – 2007 Lehrer an der Erich-Kästner Gesamtschule in Bochum.
Tätigkeit in der Lehrerfortbildung Deutsch.
Mitarbeit an dem Sprachbuch „Punktum“
Bild: privat