Im Jahr 1968 wurde ich vier Jahre alt. Ich erinnere mich an Details wie Spaziergänge im Schlosspark von Eutin,  der damals noch Schloßpark hieß, den Kindergarten, wo ich im Krippenspiel den Josef geben sollte, die Gummibärchen bei der Kinderärztin, die Wurstscheiben beim Schlachter in der Lübecker Straße. Aber das ist auch schon alles. Relativ sicher kann ich ausschließen, dass ich an Orgien teilgenommen oder Marihuana geraucht habe. Immerhin weiß ich noch, dass an Silvester mächtig Feuerzangenbowle aufgefahren wurde, bis niemand unter den Erwachsenen sich mehr klar artikulieren konnte. Das war für mich damals sehr irritierend. Trotzdem, so fürchte ich, war mein 1968 wohl ziemlich langweilig. Oder pflege ich da ein Klischee, wenn ich unterstelle, dass andere Zeitgenossen 1968 ganz anders erlebt haben?

Und wie war Ihr 1968?

1968 ist nun bald fünfzig Jahre her. Das ist mir ein Anlass, Sie einzuladen, Ihr 1968 zu erzählen. 1968 hat die Welt verändert. Deutschland ist seitdem ein anderes Land. Verkrustungen wurden aufgebrochen, es wurde Ernst gemacht mit den Werten unseres Grundgesetzes. Frauen-, Friedens- und etliche Bürgerrechtsbewegungen nahmen ihren Ausgang von 1968. Auch der Christopher Street Day ist ohne 1968 nicht denkbar, obwohl er auf einen Tag im Juni 1969 fällt. Ein Jahr vor dem fünfzigsten Jubiläum von 1968 hat Deutschland die Ehe für alle eingeführt. Der zivilisatorische Fortschritt ist also in jeder Hinsicht gewaltig, auch wenn man einwenden könnte, dass fünfzig Jahre trotzdem eine lange Zeit sind. Aber es mussten wahrlich dicke Bretter gebohrt werden. Der Gedanke ist schwer auszuhalten, dass heute wieder politische Kräfte Gewicht erhalten, die 1968 entwerten wollen.

My LayVielleicht waren Sie in irgendeiner Weise an diesem historischen Umbruch beteiligt? Dann wäre es schön, wenn Sie die Leserinnen und Leser der FR daran teilhaben lassen würden. Lassen wir 1968 zusammen wieder erstehen! Erzählen Sie, was 1968 für Sie bedeutet, was Ihnen damals geschehen ist oder was auch immer Sie für berichtenswert halten. Vielleicht gibt es Schlüsselerlebnisse, die Ihr Leben so verändert haben, dass Sie sich heute nicht mehr vorstellen können, wie es ohne diese Erlebnisse verlaufen sein könnte?

Am 16.März 1968 verübten US-Truppen in Vietnam das Massaker von My Lai.
Es wurde erst ein Jahr später
bekannt. Der Vietnam-Krieg hat für 1968
und viele Emanzipationsbewegungen weltweit große Bedeutung.
(Bild: Ronald L. Haeberle, Wikicommons)

Normalerweise verbinden die Menschen mit 1968 Flower Power, Hippies und Marihuana, so wie ich oben in meiner zugegeben recht konventionellen Einleitung. Ich kontrastiere dies hier bewusst mit einem schockierenden Bild aus dem Vietnamkrieg, das klarstelllt, dasss der Aufbruch von 1968 noch ganz andere Wurzeln hat: 1968 erwachte ein weltweites politisches Bewusstsein. Vielleicht waren Sie bei Demonstrationen der beginnenden Friedensbewegung dabei? Dann erzählen Sie uns davon!

Warschau Protest 1968Das 1968 des Ostens ist der Prager Frühling, der von sowjetischen Panzern überrollt wurde und der in anderen osteuropäischen Metropolen wie hier rechts in Warschau mit Sitzblockaden beantwortet wurde.

Bild: Wikicommons

Globales Tauwetter? Nun ja, der Kalte Krieg war auf dem Höhepunkt, und Willy Brandts Kniefall in Warschau (1970) war noch weit weg, war aber ohne 1968 wohl kaum denkbar. 1968 hat wirklich eine Menge durcheinander gewirbelt.

Erzählen Sie uns, was Sie damals erlebt haben! Wir veröffentlichen Ihren Bericht nicht nur im Print, sondern fügen ihn auch einem Online-Archiv hinzu, das Bestand haben wird. So werden Sie zu einem Zeitzeugen. Im Print werden wir vielleicht ein wenig kürzen müssen, denn in der gedruckten Zeitung ist der Platz natürlich immer begrenzt, aber hier im FR-Blog gibt es unendlich viel Platz für Ihre Beiträge.

Wir orientieren uns dabei an den Erfahrungen mit dem Projekt „Ankunft nach Flucht“, zu dem fast fünfzig von Ihnen Beiträge geleistet und von ihren Erfahrungen und Erlebnissen als Flüchtlinge in Nachkriegsdeutschland berichtet haben. Diese Beiträge sind im FR-Blog weiterhin nachlesbar und wurden dort liebevoll aufbereitet.

So würde ich gern auch Ihre 1968er-Erinnerungen präsentieren.

Ihr Lutz „Bronski“ Büge

+++ Das Projekt „Mein 1968“ – Der Aufruf +++ Schreibtipps +++ Ein Beispiel +++ Kontakt +++

Dieser Artikel erschien am 29. September 2017.
Das Datum wurde am 10. Oktober, 6. November und erneut am 31. Dezember 2017 aktualisiert,
damit er oben stehen bleibt.

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33 Kommentare zu “Wie war Ihr 1968?

  1. Ach ja, 1968… im Januar dieses Jahres wurde ich 23 Jahre alt.

    Für mich persönlich:

    Januar 1968 – Umwandlung des „Club Elan“ (linkes Jugendmagazin) in die Kölner Gruppe der SDAJ (Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend), womit alle Abonnenten zu Gründungsmitgliedern wurden, darunter auch meine Verlobte und ich

    9. Februar 1968 – Heirat (ich 23, sie 19) – nur ein kleine Feier, aber immerhin brauchte der Vermieter den Kuppelei-Paragraphen nicht mehr zu fürchten

    April 1968 – Einstellung bei einer Krankenkasse. Da sich die Geschäftsstelle auf dem Hohenzollernring, Köln befand und damit nahe am wichtigen Verkehrsknotenpunkt Rudolfplatz, konnten wir vom Büro die sit-ins der linken Studenten stets gut beobachten.

    Mai 1968 – per Anhalter zum 150. Geburtstag von Karl Marx nach Trier. Mitten in der linken Veranstaltung kommt der sowjetische Botschafter Zarapkin herein, offensichtlich von der lokalen Polizei statt zur SPD zu den Kommunisten „fehl“-geleitet. Aber die „Internationale“ klingt auf Russisch sehr gut.

    11. Mai 1968 – Sternfahrt nach Bonn zur Demo gegen die Notstandsgesetze („Benda – wir kommen“).
    Bei der Rückfahrt nach Köln war der Zug mit roten Fahnen, die aus den Fenstern gehalten wurden, geschmückt. Leider hatten wir alle den Signalmast am Ende des Bahnsteigs übersehen und so wurden die meisten Fahnenstangen abgebrochen und die Fahnen blieben zurück.

    Juni 1968 – Beitritt zum SDS, Köln. Die lokale Gruppe wollte die Fiktion einer Studentengruppe aufrecht erhalten und so wurden alle, die in Arbeitsverhältnissen standen, lediglich als „fördernde“ Mitglieder geführt.

    August 1968 – Protest vor der sowjetischen Handelsmission auf der Aachener Straße, Köln gegen die Unterdrückung des Prager Frühlings, wobei auf Russisch mit kyrillischer Schrift „Lenin, wach auf, sie sind verrückt geworden“ auf die Fassade in rot gepinselt wurde.

    Herbst 1968 – Beginn der Mitarbeit in der Organisation „Kölner Notunterkünfte“ um die jugendlichen Mitläufer nach den Demos für die Nacht zu beherbergen. Hieraus entstand im Jahr darauf der Verein „Sozialpädagogische Sondermaßnahmen Köln“ (SSK – später „Sozialistische Selbsthilfe Köln“), dem ich dann als Vorstandsmitglied angehörte.

  2. Ich war zu dieser Zeit noch Schüler der 12./13. Klasse, damals hieß es noch Unter- bzw. Oberprima. Obwohl in der Provinz lebend, war ich politisch interessiert.

    In der Schule war ich Vorsitzender einer politischen Arbeitsgemeinschaft und organisierte Diskussionsveranstaltungen mit Politikern, Besichtigungsfahrten (z.B. zur benachbarten Bitburger Brauerei,aber auch zum Bundestag nach Bonn).

    Obwohl es im katholischen Internat nicht gerne gesehen wurde, las ich regelmäßig den Spiegel (den man damals noch lesen konnte)und informierte mich den Möglichkeiten entsprechend in den damals noch kritischen Magazinen wie Panorama, Report und Monitor, Löwenthals ZDF-Magazin war mir auch damals bereits suspekt.

    Natürlich berührte mich das Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968 sowie die darauf folgenden Aktionen gegenüber der Springer-presse und der Verhaftung von Peter Brandt. Ich hatte später das Glück, Rudi Dutschke im Frühjahr 1976 kennen zu lernen, als er durch Vermittlung von Ottmar Schriner zu einer Diskussion nach Saarbrücken an die Uni kam. Es war eine Bombenveranstaltung: ca. 5 Stunden im überfüllten Audimax zum Thema „Sozialismus in Osteuropa“. Ich holte Rudi am Flughafen ab, und er begrüßte mich, als ob wir schon Jahre befreundet wären. Sein Ausspruch „In der DDR ist alles real, nur nicht der Sozialismus“ blieb mir präsent.

    In der Nähe von Trier wohnend und dort geboren, war es natürlich ein Muss, zum Geburtstagsjubiläum von Karl Marx zu fahren. In späteren Jahren war ich natürlich noch mehrmals im Karl Marx-Haus, einmal während eines Besuchs von Brechnew in Bonn, als dieser einen seiner stv. Ministerpräsidenten mit einem Blumengebinde nach Trier schickte. Noch habe ich Fotos von diesem Besuch. Selbstverständlich steht ein Besuch zum 200. Geburtstag in Trier an; die Ausstellung endet zufällig an meinem siebziger Geburtstag. Die Sonderberichte in der FR zum Erscheinen des Kapital habe ich aufgehoben. Mit seinem Werk habe ich mich sodann in rechtsphilosophischen Seminaren beschäftigt. Ich sehe seine Analyse des kapitalistischen Systems mehr denn je bestätigt.

    Betroffen machte mich dann auch die Nachricht vom Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in Prag. Ich erinnere mich, dass meine Mutter und mein Bruder mich morgens im Schlafzimmer aufsuchten-es war ja in den Sommerferien-so konnte ich mich den ganzen Tag über die Geschehnisse informieren.

    Anlässlich eines Klassenausflugs nach Hamburg im Herbst 1968 gab es dann jede Menge Buhrufe, als wir am Springer-Haus vorbeifuhren.

    Im Juni dieses Jahres hatte ich die Gelegenheit, in Berlin an einer Podiumsdiskussion zum 50. Jahrestag des Todes von Benno Ohnesorg teilzunehmen, bei der einige Zeitzeugen, Journalisten sowie ein Polizist, zu Wort kamen. Bedeutsam waren dabei die Ausführungen des Polizisten, der sich für das damalige Verhalten seiner Kollegen schämte und darauf hinwies, dass die Ausbilder noch selbst während der Nazizeit ausgebildet wurden. An die Schilderungen der Ereignisse in Berlin musste ich häufig vor und während des G20-Gipfels in Hamburg denken. Die Demonstrationen beim Schahbesuch im Juni 1967 fanden zwar ein Jahr vorher statt, bildeten jedoch z.T. eine Grundlage für die 68er Revolte.

    Als ich 1969 selbst an die Uni kam, waren die Aktionen schon am Abflauen, zudem ging es in Saabrücken relativ gemächlich zu.

    Mir bleibt die 68er Zeit insofern für mich in positiver Erinnerung, weil es eine Zeit des Aufbruchs nach langen Jahren politischer Lähmung, Angepasstheit und dem Drang nach einem Wechsel der politischen Verhältnisse. Leider ist im Laufe der Folgejahre vieles zurückgeschraubt worden und derzeit wäre ein neues 1968 so nötig wie damals!

  3. 66, 67, 68 – Die Anfangsjahre der „großen Verweigerung“
    Mein persönlicher Blick zurück

    „Waren Sie auch ein 68er?“ wurde und werde ich häufig gefragt. „Eigentlich nicht“, antworte ich dann. „Denn ich beteiligte mich bereits ab dem Frühjahr 1966 an den politischen Protesten von Schülern, Studenten und Lehrlingen sowie an Demonstrationen in der Kulturszene.“ Und das entwickelte sich so:

    Im Januar 1966 hatte ich meinen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer eingereicht. Im April wurde ich Mitglied des „Verbands der Kriegsdienstverweigerer (VK)“ in meiner Heimatstadt Dortmund. Der Verein wurde für mich so etwas wie das Eintrittstor in eine Welt, zu der ich bislang keinen Zugang hatte, ja, von deren Existenz ich nichts wusste, noch nicht einmal etwas geahnt hatte.
    In Jugendhäusern, Kirchengemeinden oder öffentlichen Bibliotheken nahm ich an Diskussionen über die Bundeswehr, die NATO, den Warschauer Pakt sowie über die ethischen und politischen Aspekte militärischer Gewalt teil. Anfangs als Zuhörer, später saß ich mit auf den Podien. Und immer häufiger mischte ich mich ein in die Kontroversen über die gesellschaftliche Situation der Bundesrepublik.

    Dabei lernte ich Schriftsteller wie Max von der Grün, Bruno Gluchowski, Josef Reding und Wolfgang Körner kennen, die in der linken „Dortmunder Gruppe 61“ organisiert waren. Sie war fünf Jahre zuvor vom damaligen Leiter der Dortmunder Stadtbücherei, Fritz Hüser (1908 – 1979), gegründet worden und sie hat für mindestens ein Jahrzehnt die politische Kultur im Ruhrgebiet maßgeblich mit beeinflusst.

    In einem von linken Gewerkschaftern initiierten Arbeiterbildungsverein, dessen Domizil ein ausgebauter Keller nördlich des Dortmunder Hauptbahnhofs war (also in einem anrüchigen Viertel lag, unweit von Bordell, Striplokalen und Bars), stieß ich auf die Schriften von Karl Marx, Friedrich Engels und Lenin. Während mir das Gymnasium nie verheißungsvolle Zugänge zur deutschen Philosophie im 19. Jahrhundert verschaffen konnte und das mutmaßlich auch nicht wollte, sog ich die neu kennengelernten Ideen der frühen Sozialisten geradezu auf – wie einer, der 40 Tage in der Wüste dem Verdursten ausgeliefert war.

    Das hinderte mich jedoch nicht daran, meine persönliche Exegese der Bibel fortzusetzen. Da ich die alten Sprachen zumindest oberflächlich gelernt hatte, erschlossen sich mir allmählich die gesellschafts- und religionskritischen Schriften des Alten und Neuen Testaments – die orthodoxen religiösen Vorschriften hingegen ließ ich rechts liegen. Durch Zufall oder Notwendigkeit traf ich in der Kriegsdienstverweigerer-Organisation meinen Latein- und Religionslehrer aus der Unter- und Mittelstufe wieder. Der machte mich bekannt mit Heinz Kloppenburg (1903 – 1986), Oberkirchenrat und Pfarrer an der Dortmunder Marienkirche, der über enge Kontakte zum „Internationalen Versöhnungsbund“, zur „Aktion Sühnezeichen“ und zur „Christlichen Friedenskonferenz“ verfügte. Letztere galt als kommunistisch unterwandert, war aber bis zum Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei am 21. August 1968 eine der wenigen Möglichkeiten, mit Christen aus den sozialistischen Staaten in Verbindung treten zu können. In diesem Jahr 1966 bewegte ich mich ideologisch zwischen Bibel und Marx/Engels.

    Doch es deutete sich allmählich eine inhaltliche Wende an. Zu meinem 19. Geburtstag im Juli 1966 schenkte ich mir selbst Herbert Marcuses Schrift „Der eindimensionale Mensch“, die kurz zuvor in deutscher Übersetzung erschienen war. Marcuse thematisierte darin die Manipulation des Menschen in der Konsumgesellschaft und rief zur „Großen Verweigerung“ auf. Dies war ein Signal, das von der protestierenden jungen Generation gehört und angenommen wurde – und dazu gehörte ich. Ende November 1966 sprach Rudi Dutschke in der Berliner „Hasenheide“ vor einigen Tausend Menschen. Er wendete sich in seiner Rede gegen den US-Krieg in Vietnam und gegen die verkrusteten gesellschaftlichen Strukturen in der Bundesrepublik. Die Berichterstattung darüber in der Ruhrgebiets-Presse war eher dürftig. Lediglich „Die Welt“, „BILD“ und andere Zeitungen des Axel Springer Verlags wurden ausführlicher; es schien so, als hätten die Zentralorgane des Kapitalismus ihre ernst zu nehmenden Gegner und Überwinder ausgemacht und schossen sich bereits auf diese ein.

    Am 23. November 1966 fand die Verhandlung zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer vor dem Prüfungsausschuss in Dortmund statt. In meiner bereits mit dem Antrag eingereichten schriftlichen Begründung hatte ich mich u.a. bezogen auf ein schmales Buch, das der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Ulrich de Maizière (Vater des späteren Kanzleramts-, Verteidigungs- und Innenministers Lothar de Maizière), zwei Jahre zuvor (als Inspekteur des Heeres) verfasst hatte: „Die Landesverteidigung im Rahmen der Gesamtverteidigung“ (Verlag R. von Decker, Hamburg). Daraus hatte ich diesen Abschnitt zitiert: „Das Territorium der Bundesrepublik ist lang und schmal; ihm fehlt die für die Durchführung von Verteidigungsmaßnahmen notwendige Tiefe.“ Maizière begründete damit die Notwendigkeit der atomaren Abschreckung. Ich stritt mich 40 Minuten lang mit dem Ausschussvorsitzenden, einem Regierungsrat des Kreiswehrersatzamtes, über die ethischen und politischen Konsequenzen aus dieser „Alternative“ zwischen Tod und Tod. Zur Sprache kam auch mein Leserbrief zum Umgang mit Kriegsdienstverweigerern, den die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ am 14.09.1966 veröffentlicht hatte. Es war der erste Leserbrief, der von mir abgedruckt worden war. Nach diesem Verhör berieten sich die Ausschussmitglieder knappe zehn Minuten. Dann wurde ich wieder hereingebeten, um mir die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer mündlich auszusprechen; die schriftliche Bestätigung erreichte mich etwa zwei Wochen später.

    Am Anfang des neuen Jahres 1967 galt ich bereits als ein gut vernetzter Aktivist in Dortmunds unabhängiger linker Szene. Die „Kampagne für Demokratie und Abrüstung“, welche die alljährlichen Ostermärsche organisierte, delegierte auch mich für die Auftaktkundgebung Mitte Februar im Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen. Vor der eigentlichen Veranstaltung traf man sich in mehreren Arbeitsgruppen und diskutierte mit prominenten Vertretern des wissenschaftlichen Sozialismus über die Situation in der Bundesrepublik. Ich hatte mich zu der Runde gesellt, die mit Johannes Agnoli (1925 – 2003) über dessen Thesen zum bürgerlichen Staat diskutierte. Agnoli galt als marxistischer Anarchist. Das Buch „Die Transformation der Demokratie“, das er gemeinsam mit Peter Brückner verfasst hatte, stand kurz vor seinem Erscheinen und er zitierte Auszüge aus dem Manuskript. Später, von 1972 bis 1990, war er Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. In seiner Jugendzeit stand er dem italienischen Faschismus nahe, was er gegenüber Vertrauten immer einräumte und von dem er sich glaubhaft distanzierte. Der 68er-Bewegung galt er als einer ihrer Vordenker.

    Bei der anschließenden großen Kundgebung traten Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp, Hannes Stütz, Hanns Ernst Jäger, Hanns Dieter Hüsch und Perry Friedman auf. Als für den Abschlusschor noch einige unterstützende Männerstimmen benötigt wurden, meldete ich mich. Es wurde mein erster Bühnenauftritt und ich sang aus voller Kehle und Überzeugung mit bei „Unser Marsch ist eine gute Sache, weil er für eine gute Sache geht“ und „Ja, das ist Dreck und der muss weg, sowas wollen wir nicht haben. Leute denkt um, seid nicht so dumm, denn sonst fressen euch die Raben“. Zum Schluss sangen die ca. 800 Teilnehmer den amerikanischen Protestsong „We shall not be moved“. Anschließend gab es noch einen Fackel-Umzug durch die Gelsenkirchener Innenstadt. Für mich zählt dieser Tag zu jenen Passageriten, die ein Linker absolvieren sollte.

    Noch sehr gut erinnere ich mich an die Jahreshauptversammlung des „Verbands der Kriegsdienstverweigerer“ Ende April 1967 in Wuppertal. Konrad Adenauer war wenige Tage vorher gestorben und wir diskutierten über sein politisches Erbe. Trotz oder wegen der Großen Koalition sah aber niemand irgendwelche Anzeichen für eine Liberalisierung. Willy Brandt, Außenminister und Vizekanzler unter Kurt Georg Kiesinger, erschien uns lediglich als Alibi-Figur. Er sollte das Vertrauen der westlichen Bündnispartner in die Bundesrepublik stärken und den ideologischen Gegner im Osten beruhigen. Unterhalb der Oberfläche würde der klerikale CDU-Staat eine Umwertung der noch nicht einmal 20 Jahre alten Demokratie weiter betreiben. Die Verabschiedung der Notstandsgesetzte war spätestens für das Frühjahr 1968 vorgesehen.

    Der Bremer Rechtsanwalt Heinrich Hannover, der viele Kriegsdienstverweigerer vor Gericht vertreten und ihnen dort ihr Recht erstritten hatte, wies während der Tagung auf eine politische Justiz in der Bundesrepublik hin, die teilweise ähnliche Tendenzen aufwiese wie jene am Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre. Zusammen mit seiner Frau Elisabeth Hannover-Drück hatte er darüber ein Buch geschrieben: „Politische Justiz 1918 – 1933“, erschienen im S. Fischer Verlag (Fischer – Bücherei) 1966.

    Bei dieser Versammlung in Wuppertal lernte ich auch Hans A. Nikel kennen, Mitherausgeber der satirischen Zeitschrift „Pardon“. Ihm war es bereits Mitte der 50er Jahre gelungen, prominente Befürworter für die Sache der Kriegsdienstverweigerer zu gewinnen, beispielsweise Martin Niemöller, Johannes Rau (SPD, davor Gesamtdeutsche Volks-Partei), die Musiker Albert und Emil Mangelsdorff und den Musikmanager Fritz Rau. Die Verbandszeitschrift „Zivil“ wurde vom Verlag Bärmeier & Nikel in Frankfurt gedruckt.

    Die Tötung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni am Rande einer Demonstration gegen den Schah von Persien in West-Berlin offenbarte den Umfang der vor allem von der Springer-Presse gelenkten Aggression, die sich gegen protestierende Studenten entlud. Das unglückliche Taktieren des Regierenden Bürgermeisters Heinrich Albertz (1915 – 1993), der sich sowohl dem rechten Flügel seiner eigenen Partei, der SPD, als auch der ohnehin rechts verorteten CDU gegenübersah, heizte die Eskalation der unausgestandenen Konflikte noch an. Erst spät bekannte Albertz, am schwächsten gewesen zu sein, als er am härtesten war, nämlich in jener Nacht des 2. Juni 1967. Ende September trat er von seinem Amt zurück.
    Das Berliner Abgeordnetenhaus wählte daraufhin Klaus Schütz (1926 – 2012) zum Regierenden Bürgermeister. Während seiner Ära nahmen die gewaltsam ausgetragenen Konflikte noch zu. Auch im Ruhrgebiet fand man damals Plakate mit dem Slogan: „Brecht dem Schütz die Gräten – alle Macht den Räten“.

    Im Herbst 1967 wurde ich zum ehrenamtlichen Geschäftsführer der Dortmunder Gruppe des „Verbands der Kriegsdienstverweigerer VK“ gewählt. Das Amt erwies sich als Eintrittsbillett zu diversen Veranstaltungen der linken Szene. So war ich regelmäßiger Gast im neu gegründeten „Republikanischen Club“, was mich dazu inspirierte, innerhalb des VK einen „Club Civil“ als Träger der Jugendarbeit zu gründen, was auch rasch gelang. Als anerkannte Jugendorganisation erhielten wir eine bescheidene finanzielle Förderung durch die Stadt Dortmund (was für den Druck von Programmen und Plakaten reichte) und konnten unsere Veranstaltungen im relativ zentral gelegenen „Haus der Jugend“ durchführen.
    Der „Club Civil“ wurde bald schon zu einem gefragten Partner bei der politischen Bildung. Denn er hatte zwar eine Position (Beratung und Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern, Engagement in der Friedensarbeit), aber er war parteipolitisch neutral. Als problematisch erwies sich jedoch die relativ kleine Zahl der Mitglieder, die den inneren Zirkel bildeten. Zeitweilig waren fünf Aktive verantwortlich für Großveranstaltungen mit mehreren Hundert Teilnehmern. Ich denke beispielsweise an eine Podiumsdiskussion über Maos Kulturrevolution, ein Streitgespräch mit Kirchenvertretern, Politikern und Medizinern über Abtreibung, Liederabende mit dem ortsansässigen Schallplattenverlag „PLÄNE“, der bekannte Singer und Songwriter präsentierte und ab der Jahreswende 1967/68 mehrere Kundgebungen gegen die Notstandsgesetze in Zusammenarbeit mit der IG Metall und der ÖTV.

    Mit großer Zurückhaltung reagierten wir auf die Annäherungsversuche der dogmatischen Linken, die aus dem Umfeld der verbotenen KPD kamen. Prinzipiell hatten wir nichts gegen eine Wiederzulassung der Kommunistischen Partei einzuwenden, versprachen uns davon sogar eine erhebliche Belebung der politischen Diskussion. Aber uns störten Sprache und Symbole, die unkritisch aus der DDR importiert zu sein schienen und es vermutlich auch waren.
    Es gab zu dieser Zeit am nördlichen Stadtrand Dortmunds, an der Bornstraße, ein Schreibbüro mit angeschlossener Kleindruckerei, bei der auch der „Club Civil“ Kunde war. Im Büro der Firma fanden nach Geschäftsschluss häufiger Sitzungen statt, zu der die in Duisburg erschienene Wochenzeitung „Tatsachen“ einlud, die als Sprachrohr der illegalen KPD galt. Weder ich noch andere Mitglieder des Vereins sind hingegangen. Doch wenn ich abends mit der Straßenbahn-Linie 6 nach Hause und an der Lokalität vorbei fuhr, bemerkte ich immer wieder die dort geparkten Fahrzeuge der Marken „Wartburg“, „Skoda“, „Moskwitsch“ und „Wolga“. In dieser Massierung traf man sie selbst in der Großstadt Dortmund selten bis nie an. Wäre ich ein Kommunist sowjetischer Prägung gewesen, hätte ich mir zur Tarnung einen Chevrolet Impala oder einen Ford Thunderbird gekauft, aber doch keine Weltanschauung auf vier Rädern, die geradezu nach technischer Entwicklungshilfe schrie.

    Äußerlich weitaus weniger dogmatisch zeigte sich das Jugendmagazin „Elan“, das in Dortmund erschien. Es hing – wie wir alle vermuteten – am finanziellen Tropf der DDR (die SED unterhielt ein „Westbüro“ zur Unterstützung der Genossen in der BRD); nach der Wende musste die Zeitschrift eingestellt werden. Ähnliches galt auch für den profilierten Schallplattenverlag „PLÄNE“. Letzterer hätte vermutlich gute Chancen besessen, wirtschaftlich zu überleben. Hannes Wader, Franz Josef Degenhardt und Hanns Dieter Hüsch hatten auch 1990 noch nichts von ihrer Strahlkraft verloren und haben es bis heute nicht. Somit tippe ich eher auf Managementfehler. Doch damals, speziell während der Jahre von 1966 bis 1969, waren PLÄNE, ELAN, der Republikanische Club und nicht zuletzt der „Club Civil“ angesagte Adressen in Dortmunds linker und überwiegend links-unabhängiger Szene. Und ich, anfangs noch keine 20, war mitten drin. Nebenher machte ich noch eine Ausbildung zum Verlagsbuchhändler und besuchte ab dem Herbst- und Wintersemester 67/68 mit Sondergenehmigung berufsbegleitend die Universität Dortmund.

    Dabei kam auch das typische Vergnügen, das man spätestens seit Friedrich Engels den Linken nachsagt, nicht zu kurz. Nämlich Wein, Weib und Gesang. Na ja, in Dortmund war es statt des Weins üblicherweise das Bier (meine Lieblingsmarke war „Dortmunder Union Pils“, was viele meiner Freunde nicht verstehen konnten). Hingegen spielten Hasch und andere Drogen keine Rolle. Ich hatte keinen Bedarf und habe nichts vermisst. Und so wie mir ging es allen, die ich näher kannte.

    In der ersten Januar-Woche 1968 meldete sich Dagmar bei mir, ein mir bis dahin unbekanntes junges Mädchen von schätzungsweise 16 Jahren, und lud mich zu einer Diskussionsgruppe ein. Es ginge um neue Formen der Jugendarbeit und meine Erfahrungen aus dem „Club Civil“ seien sehr gefragt. Es war ein kalter und grauer Sonntagvormittag, an dem ich diese Wohnzimmerversammlung im Stadtteil Dortmund-Derne aufsuchte. Dagmar war auch anwesend und ich hatte den Verdacht, dass sie entweder als Lockvogel oder als Vertreterin der Jugend ausgewählt worden war. Denn die anderen Teilnehmer, ausschließlich Männer, bewegten sich in der Altersklasse von ca. 25 bis 40. Zwei waren mir von ELAN bekannt, einen ordnete ich wegen seiner stereotypen Ausdrücke der KPD zu. Ich machte gute Miene zum zunächst rätselhaften Spiel und hörte mir alles an.

    Reiner, den ich flüchtig vom Sehen kannte und der bei IG Metall-Jugend ein Ehrenamt innehatte, übernahm die Versammlungsleitung und kündigte für März die Gründung der „Sozialistischen Deutschen Arbeiter-Jugend“ an. Einer der Söhne Willy Brandts, Peter (der spätere Historiker), würde auch mitmachen. Als Erster Vorsitzender würde Rolf Priemer (1940 – 2017), der Chefredakteur von ELAN, zur Verfügung stehen. Auch ein anderer aus der ELAN-Redaktion, nämlich Reinhard Junge, wäre dazu bereit, sich für ein Vorstandsamt nominieren zu lassen. Etwa 17 Jahre später, 1985, erschien Junges erster Kriminalroman mit Ruhrgebietsmotiven. Danach hat er zusammen mit Jürgen Pomorin (Leo P. Ard) ganze Serien geschrieben.

    Gründungsdatum sollte der 5. Mai 1968 sein, der 150. Geburtstag von Karl Marx. Mit der Verwaltung der GRUGA-Halle in Essen sei bereits ein Vorvertrag abgeschlossen worden. Es war offensichtlich, dass sich die im Untergrund arbeitende KPD an die Jugend- und Studentenproteste anhängen wollte und dazu ihre einstige (und seit 1956 ebenfalls verbotene) Jugendorganisation, die „Freie Deutsche Jugend“, reaktivieren wollte. Und möglicherweise war noch mehr geplant. Ich tippte auf eine Neugründung der KPD.

    Doch die undogmatische Linke in Dortmund diskutierte mehrheitlich ganz andere Themen. Rudi Dutschkes Rede auf dem Vietnam-Kongress in West-Berlin (17. und 18. Februar 1968) löste auch bei uns ein großes Echo aus. Allerdings hielten wir seine Interpretation dieses Kriegs für fragwürdig. Sicherlich handelte es sich um den Versuch, die Hegemonie der USA in der westlichen Welt skrupellos durchzusetzen. Doch die Viet-Minh und ihr Führer Ho Tschi-Minh waren nicht nur die einstigen Befreier von japanischer und französischer Kolonialherrschaft. Sie waren zu einem wesentlichen Teil auch fremdbestimmt: durch die Volksrepublik China und durch die Sowjet Union. Auch die Thesen des mit Dutschke befreundeten deutsch-chilenischen Schriftstellers Gaston Salvatore („Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam“) überzeugte uns nicht. Den revolutionären Ideen fehlte das, was sie ständig behaupteten, nämlich eine Basis in den Massen. Diese Verkennung der Realitäten führte nach meiner Überzeugung zur „Bewegung 2. Juni“ und schließlich zur „Roten Armee Fraktion“.

    Allerdings: Wenn ich mich in Frankfurt am Main mit Mitgliedern des Bundesausschusses des „Verbands der Kriegsdienstverweigerer VK“ traf, hörte ich auch ganz andere Einschätzungen, begegnete gar einer enthusiastischen Zustimmung. Im Stadtteil Sachsenhausen, wo ich heute lebe, gab es sogar eine „Rote Garde Sachsenhausen“ – und die war kein Karnevalsverein.
    Doch im Ruhrgebiet nahmen wir die Hessen nicht ganz ernst, schließlich hatten sie sich 1949 Frankfurt als neue Bundeshauptstadt (das Parlamentsgebäude war bereits fertiggestellt) durch Adenauers rheinisch-katholische Intrige wegnehmen lassen. Das Beste an und aus Frankfurt war die „Frankfurter Schlagerbörse“ von Hanns Verres (1928 – 2003), die vom Hessischen Rundfunk wöchentlich ausgestrahlt wurde.

    Wir, die auf dem Boden der Tatsachen verbliebenen undogmatischen Linken in Dortmund, Bochum oder Gelsenkirchen, blickten am Anfang des Jahres 1968 vor allem nach Prag. Dort hatte am 4. Januar das Zentralkomitees der KPČ Alexander Dubček zum 1. Sekretär der Kommunistischen Partei gewählt. Das war der Beginn des kurzen Prager Frühlings, der bis in den Sommer dieses Jahres anhielt. Das Schlagwort vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ begeisterte uns; aber auch Rudi Dutschke fuhr im März nach Prag. Es schien so, als hätte er dort den ersehnten Ruf nach Freiheit in Verbindung mit dem revolutionären Elan der Massen wahrgenommen.

    Als uns die Nachricht von der Ermordung Martin Luther Kings am 4. April erreichte, versammelten wir uns spontan auf dem Alten Markt in der Dortmunder Innenstadt zu einer friedlichen Demonstration. Ein Anruf bei Polizeipräsident Fritz Riwotzki (1910 – 1978), einem ehemaligen Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, hatte zur Anmeldung genügt.

    Mit dem 11. April 1968, einem Gründonnerstag, änderte sich am vergleichsweise bislang beschaulichen Jahresverlauf alles. An diesem Tag wurde Rudi Dutschke in West-Berlin von einem Attentäter niedergeschossen und lebensgefährlich verletzt. In der Nachbarstadt Essen wurde die Druckerei des Springer Verlags blockiert, Auslieferfahrzeuge wurden mit Molotow-Cocktails teilweise in Brand gesetzt. Die Ostermärsche wurden zu einer Protest- und Gedenkveranstaltung für Martin Luther King und Rudi Dutschke. Ich hatte wie bereits in den beiden Vorjahren am Marsch von Bochum nach Dortmund teilgenommen, der am Ostermontag stattfand. Er gehörte zu den machtvollsten Demonstrationen, an denen ich je teilgenommen habe. Nach der Abschlusskundgebung auf dem Neuen Markt trafen sich Mitglieder von „VK“, „Club Civil“ und der „Kampagne für Demokratie und Abrüstung“ in der Gaststätte im Dortmunder Hauptbahnhof. Der Meinungsaustausch wurde beherrscht von der Frage nach alten und neuen Nazis. Schließlich hatte Josef Bachmann, der Dutschke-Attentäter, sein politisches Weltbild aus der „Deutschen National- und Soldatenzeitung“ gewonnen. Der Handlanger Bachmann fügte sich in ein Bild, das bislang geprägt war von Kurt Georg Kiesinger, dem ehemaligen NSDAP-Mitglied und Bundeskanzler, oder von Hans Globke (1898 – 1973), dem ehemaligen Kommentator der „Nürnberger Gesetze“ und Staatssekretär Konrad Adenauers.
    Nikolaus Koch, Professor an der Pädagogischen Hochschule in Dortmund und gut bekannt mit dem katholischen Ruhrbischof Franz Hengsbach, erinnerte daran, dass die restaurative Politik Adenauers durch die Große Koalition fortgesetzt und keinesfalls beendet worden wäre. Er lud die Runde ein, sich künftig in engen Abständen in seinem Haus in Witten-Bommern, über dem Ruhrtal gelegen, zu politischen Gesprächen zu treffen. Ich beteiligte mich daran bis April 1969; denn dann wurde ich zum zivilen Ersatzdienst eingezogen.

    Auch in Frankreich protestierte die akademische Jugend. Am 3. und 6. Mai wurde die Sorbonne in Paris besetzt. In der Nacht vom 10. auf den 11. Mai kam es in Paris zu Straßenkämpfen, es wurde die „Nacht der Barrikaden“.
    Die Situation dort eskalierte bereits, als ich am Morgen des 4. Mai nach Bremen fuhr, um an der Jahreshauptversammlung des „Verbands der Kriegsdienstverweigerer VK“ im „Haus der Kirche“ teilzunehmen. Die Tagung wurde beherrscht von der Frage, inwieweit man sich mit einer Delegation der Viet Minh (zunehmend auch als Viet Cong bezeichnet), die als Gast eingeladen worden war, solidarisieren sollte. Bis Mitternacht wurde darüber heftig diskutiert. Dann erinnerte der Versammlungsleiter, dass der 150. Geburtstag von Karl Marx angebrochen und es an der Zeit sei, diesen Tag ausklingen zu lassen. Wir verabredeten uns, vor der Wiederaufnahme der Tagung vormittags an einer Demonstration gegen den Besuch des US-amerikanischen Botschafters George McGhee teilzunehmen. „Hey, George McGhee, we don’t like a friend like thee” skandierten wir. Danach arbeiteten wir im Schnellverfahren sämtliche offenen Tagungspunkte ab, ohne dass es noch zu einer Pro-Viet Cong-Deklaration gekommen war.

    Die bisherigen Ereignisse bestärkten uns Dortmunder in der Überzeugung, einen Gesprächskreis zu initiieren, der über die bestehenden Vereine und Gruppen hinausreichen sollte. So kam es am 10.5.68 im Hinterzimmer der Gaststätte „Wicküler Eck“ in der Nähe des Dortmunder Westentors zur Gründung des „Jakobiner-Clubs“. Von der parallel verlaufenen „Nacht der Barrikaden“ hörten wir erst am nächsten Tag. Bis zum Frühjahr 1976 trafen wir uns regelmäßig, mal in Dortmund, mal in Bremen, mal in Hannover, mal in Heidelberg. Noch heute stehen etwa 20 von ursprünglich über 80 Teilnehmern in regelmäßigem Briefkontakt. Und nach wie vor geht es um die Anfangsjahre der „großen Verweigerung“.

    Die Verabschiedung der Notstandsgesetze am 30. Mai 1968 hatten wir kommen sehen; vor allem, nachdem IG Metall und ÖTV unter dem Druck der SPD eingeknickt waren.

    Durch Vermittlung des PLÄNE-Schallplattenverlags wurde ich zum „9. Kongress der Arbeiterjugend beider deutscher Staaten und Westberlins“ am 1. und 1. Juni 1968 (Pfingsten) nach Halle-Neustadt eingeladen. In der gerade fertiggestellten Trabantenstadt Halles trafen sich Vertreter von SED, FDJ, SDAJ, SDS sowie der Jungsozialisten in der SPD zum Meinungsaustausch. Während die offiziellen Vorträge der Prominenz so langweilig waren wie übliche Ost-Parteitage, ging es in den Zirkel-Gesprächen zum Teil sehr kontrovers zu. Vielfach wurden die DDR-Organisationen zur Solidarität mit der unabhängigen Linken in Westdeutschland aufgefordert. Sie sollten sich ein Beispiel nehmen am „Prager Frühling“. Auch die Berliner Mauer und der „Eiserne Vorhang“ zwischen DDR und BRD wurden heftig kritisiert. Erstaunlicherweise äußerten auch einige FDJ-Vertreter Verständnis für die Sicht der Westdeutschen. Es gäbe internen Diskussionsbedarf und dieser würde keinesfalls die Infragestellung der Errungenschaften in der DDR bedeuten.

    Am Pfingstmontag fand das Treffen nach einer Bootsfahrt auf der Saale einen denkwürdigen Ausklang in den Saale-Auen, wo eine Art Jahrmarkt aufgebaut war. Nach dem eindrucksvollen Feuerwerk verschafften sich SDS-Mitglieder Zugang zur Rednertribüne und forderten ein „antikapitalistisches Bündnis“ von FDJ, SED und BRD-Linken sowie „Waffen für den SDS“. Doch dieses ungeplante Intermezzo dauerte nicht lange. Plötzlich schwiegen nicht nur die Mikrofone, auch die Beleuchtung auf dem gesamten Terrain ging aus. Die Jugendlichen aus Ostdeutschland zeigten sich erschüttert über den Dilettantismus ihrer Staatsorgane, die jungen Westdeutschen wurden in ihren Einschätzungen zu DDR und SED eher bestätigt. Als wir Dortmunder am nächsten Tag zurückfuhren, wuchs bei der Nachbesprechung im Zug die Erkenntnis, dass mit dieser DDR keine soziale Revolution in Deutschland zu machen sein würde.

    Die Hoffnungen auf eine Wende zerstoben endgültig am 21.August, als die Truppen des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei einmarschierten und den Prager Frühling beendeten. Auch an diesem Tag gab es eine spontane Demonstration in der Dortmunder Innenstadt, an der ich teilnahm. Ich sah enttäuschte Linke und empörte Sozialdemokraten, aber auch viele Konservative, die einen sehr zufriedenen Eindruck vermittelten.

    Wenig später, im September, fand der Gründungskongress der „Deutschen Kommunistischen Partei DKP“ statt. Mit ihm wurde die verbotene KPD neu konstituiert, also weder aus den Trümmern der alten KPD heraus neu belebt noch neu gegründet. Mit der Rechtfertigung des Einmarschs in Prag vergab sich die Partei alle Chancen, am längst vorhandenen linken Bewusstseinsprozess entscheidend teilzunehmen. Zwar sollte sie bald schon über eine breit aufgestellte Publizistik verfügen, aber diese erreichte fast ausschließlich die bereits hinlänglich Überzeugten.
    Die von ihr im Bundestagswahljahr 1969 mit initiierte „ADF – Aktion demokratischer Fortschritt“ kam auf weniger als ein halbes Prozent der Stimmen. Nach der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler setzten auch viele der unabhängigen Linken auf die SPD und speziell auf die aufsässigen Jungsozialisten.

  4. Ergänzung:

    Aufgrund des Beitrags von Klaus Philipp Mertens fällt mir auf, dass ich den Mai 68 in Frankreich zu erwähnen vergessen hatte. Dies war natürlich ein bewegendes Ereignis, wobei für mich beeindruckend war, dass in Frankreich die Arbeiter und Gewerkschaften im Gegensatz zu Deutschland – hier wurde fast ausschließlich über die Studenten als Langhaarige und Faulenzer geschimpft – sich mit den Studenten solidarisierten.

    In Erinnerung bleibt, dass auch der damalige Präsident Charles de Gaulle während dieser Zeit einige Tage verschwunden war – er war in Baden-Baden – und man vermutet hatte, er habe sich mit General Massu getroffen und würde Militär eingreifen lassen. Ein Jahr später trat er zurück, und Pompidou wurde sein Nachfolger.

    Und medial von besonderem Interesse war die Kommune 1 in Berlin mit Fritz Teufel, Rainer Langhans, Uschi Obermaier u.a., wo das Stichwort der „freien Liebe“ galt. Ein besonderer Spruch war: „Wer zweimal mit der selben pennt, gehört schon zum Establishment.“
    Fritz Teufel musste sich vor Gericht verantworten; als er beim Eintreten der Richter zum Aufstehen aufgefordert wurde, kommentierte er: „Wenn es der Wahrheitsfindung dient.“ Als er aus der Haft entlassen wurde, trug er einen Adventskranz auf dem Kopf.

  5. Das Jahr 1968 in meinem Erleben – von Werner Engelmann, 4.10.2017

    Sommersemester 1966.
    Der Student der Mathematik und Physik in Tübingen hält nichts von „Fachidiotentum“, von Trennung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Globale Sicht ist angesagt, nach frustierenden Bundeswehrerfahrungen, die den Geist einschränkten. Studium generale.
    Er interessiert sich auch für Psychologie. Für deutsche Literatur sowieso, wenn Walter Jens sie präsentiert. Oder Theodor Eschenburg, Hans Küng, Ernst Bloch. Tübingen bietet breites Wissen und tiefe Einsichten.
    Sondergenehmigung des Kultusministeriums Stuttgart für die Kombination Deutsch und Physik als Lehrfach. Seine Argumentation hat überzeugt.

    Es sollte dennoch anders kommen.
    Auslöser: Die Teilnahme an einem Studentenaustausch nach dem eben erst verabschiedeten deutsch-französischen Jugendvertrag.
    „Es war eine tolle Erfahrung, die fortgesetzt werden sollte“, so die Tutorin des Studentenwohnheim. „Ich kann es leider nicht. Wäre jemand von euch interessiert?“ – Ohne Überlegung platzt es aus mir heraus: „Ich mache es!“. Mich muss der Teufel geritten haben. Doch versprochen ist versprochen.
    Ostern Auffrischung der Französich-Kenntnisse in Clermont-Ferrand, dann ein Semester Organisationsarbeit. Der Austausch wird ein voller Erfolg.
    Warum nicht doch auch Romanistik? Übersetzungskurse: Balzac – eine einzige Katastrophe. – „So wird es nichts! Ich gehe nach Paris.“
    Dann der 2. Juni 67. Schah-Besuch in Berlin, prügelnde „Jubelperser“, Benno Ohnesorgs Tod. Erste Demonstrationserfahrung. Neben mir in der Reihe Walter Jens. „Der auch! Respekt!“

    Winter-Semester 67/68 an der Sorbonne.
    Phonetik- und Sprachkurse für Ausländer, „Civilisation française“, französische Literatur in der großen Aula. Geschliffenes Französisch, doch am Ende frage ich mich: „Was hat er eigentlich gesagt?“ – Den ganzen Tag Französisch. Das ist ermüdend.
    Zum Glück gibt es die Germanisten im Grand Palais. Die Berichte des deutschen Studenten über die Ereignisse in Berlin werden aufmerksam verfolgt, vor allem wegen des guten Deutsch. Und in Nanterre, bei den Philosophen und Politologen, ist ja auch was los, wenn auch nicht in der Sorbonne.
    Besuch in Nanterre. Ich bin einigermaßen entsetzt. Die Uni im „bidonville“ kaum auffindbar, alles mit Parolen und Demonstrationsaufrufen verklebt, der Boden mit „tracts“ übersät.
    Februar 68:
    Man lädt mich zu einem Kafka-Seminar in Dourdan südlich von Paris ein. Ich bin völlig erkältet, stimme dann doch zu. Nach Abschluss biete ich 3 Mädchen an, sie in meiner Ente nach Paris zurückzubringen. Die als letzte übrig blieb, sollte meine Frau werden.
    April 68:
    Ernst Bloch kommt nach Paris, Vortrag mit Diskussion im Grand Palais. Natürlich muss ich da hin. Ein Rotschopf mit Sommersprossen fällt mir auf, der Paroli bietet und Dauerreden hält. Er soll Cohn-Bendit heißen und in Nanterre studieren. „Dani le rouge“ nennt man ihn. Manchmal mit Zusatz „le juif allemand“. Schlimmer geht’s nicht. Ich lerne ihn bald näher kennen.
    Doch zuerst einmal Wallfahrt nach Chartres. Zwei Tage Fußmarsch, die Nacht wie Ameisen in einer Scheune zusammengepresst. Selbstfindungsprozesse: „Ich bin eigentlich Atheist, doch zunächst schaue ich mir den Laden hier an“, so ein Kommilitone unterwegs.

    Mai 68:
    Kaum zurück, schlägt die Stunde des berüchtigten 10. Mai, in der Rue Gay Lussac, nahe des „Quartier Latin“. Streikaufruf der Studenten, veranlasst durch die Schließung der Sorbonne. Beginn dessen, was man später mystifizierend „les évènements du mois de mai“, „die Maiereignisse“ nennt.
    Skandierende Sprechgesänge, von denen ich kaum einen verstehe. Der Zugang zum Quartier Latin abgesperrt, Polizisten auf beiden Seiten der Straße. „CRS-SS“, schallt es ihnen entgegen. Ich erblicke „Dani, le rouge“. Dann Tränengaseinsatz. Junge Menschen, Damenbinden um Nase und Augen, laufen kreuz und quer. Von den oberen Stockwerken der anstehenden Häuser wird Wasser geschüttet, damit das Tränengas sich legt.
    Ich staune. Seitens der Bevölkerung keine aggressive Stimmung, vielleicht sogar Sympathie. Von Berlin habe ich da ganz andere Bilder im Kopf.
    Viele halten ein Transistorradio ans Ohr. Auf France Inter wird im Minutentakt über die sich änderende Lage berichtet. Studentenführer profitieren davon, um ihre Order zu verbreiten.
    Gegen 2 Uhr morgens wird Bewegung im Polizeikordon erkennbar. Vorrücken, erste Schlagstockeinsätze.
    Es wird erkennbar, dass wir jetzt völlig eingekesselt sind. Die Aggressivität steigt, Autos gehen in Flammen auf, Barrikaden werden errichtet. Straßenpflaster wird aufgerissen, aufgehäuft. „Le Pavé“ heißt später eine revolutionäre Zeitung. Später wird berichtet, dass Ausländer, die man mit schmutzigen Händen ertappt hat, ausgewiesen wurden. Mich hat es nicht erwischt.
    Gegen drei Uhr morgens der Aufruf von Journalisten an die Polizei, den Kessel zu öffnen, um wenigstens die Möglichkeit zu geben, sich zu entfernen.
    Immer mehr Autos brennen. Bis dahin war ich mehr staunender Beobachter. Nun bekomme ich es doch mit der Angst zu tun. Nicht um mich, sondern um meine Ente. Sie ist gleich hinter dem Polizeikordon abgestellt. Wie aber dahin gelangen?
    Ich versuche, durch einen großen Umweg über die „Porte d’Italie“ herauszukommen. Es gelingt. Voller Angst die letzten Schritte. Mein Auto steht wenige Meter hinter den Polizisten. Ein paar Schritte weiter tobt der Aufstand, doch hier gähnende Leere und Stille. Ein Polizist bemerkt mich, wirft eine Tränengasbombe auf mich. Sie trifft mich am Fuß. In Panik schaffe ich es zum Auto. Nichts wie weg damit! Humpelnd komme ich in meinem „Chambre de bonne“ in der 6. Etage an. Alle meine studentischen Bekannten wohnen so. Meine Freundin erwartet mich. Sie war wirklich besorgt.

    In den nächsten Tagen habe ich Gelegenheit, mich bei meiner Nachbarin, einer alten Dame zu revanchieren. Sie bedient regelmäßig mein Tonbandgerät, mit dem ich Kurse von „Radio Sorbonne“ aufnehme. Auch Reden von de Gaulle. Material für den Französisch-Selbstunterricht. Der vollständige Wortlaut wird in „Le Monde“ abgedruckt.
    Für meine Nachbarin besorge ich regelmäßig Mineralwasser und Zucker zum Horten, „für alle Fälle“.
    Ich bin nun viel zu Fuß unterwegs von meinem eher proletarischen 11e Arrondissement zum gut bürgerlichen 16e, wo meine Freundin wohnt. Benzin gibt es nicht mehr, auch keine Post, über die ich mein Stipendium bezog. Das Auto bleibt ausschließlich dem Weg nach Villeneuve-le-Roi vorbehalten, wo ich privaten Deutschunterricht gebe, einzige verbliebene Einnahmequelle.
    Die Wirtin meiner Freundin, eine Nichte von Paul Claudel, hasst die Deuschen, „les boches“. Die kämen ihr nie ins Haus. Zum Glück ist sie schwerhörig. „Ils sont deja là, les bolcheviques?“ fragt sie, während ich den Fernseher repariere. Sie findet mich sympathisch, und in Sachen Herrenbesuch gibt es sogar eine Ausnahme.

    Interessantes Erlebnis: der Besuch im besetzten Odéon, zuvor Theater unter der Leitung des Pantomimen Jean-Louis Barrault und seiner Lebensgefährtin Madeleine Renauld. Die werden von Kulturminister André Malraux entlassen, weil sie die Besetzung nicht mit Polizeigewalt verhinderten. Später gründen sie in einem ehemaligen Bahnhof das „Théâtre Quai d’Orsay“.
    Das „Odeon“ ist jetzt Tag und Nacht geöffnet. „L’Odéon est ouvert“, prangt eine Banderole am Eingang. Auf dem Dach das „drapeau noir“, Symbol der Anarchie.
    Vor dem Eingang kontrollieren Studenten. Nur mit Waffen oder Fotoapparat wird keiner reingelassen. Drinnen Diskussionen Tag und Nacht. Ich bin erstaunt und durchaus angetan über die Toleranz trotz heftiger Dispute.

    Ende Mai der Höhepunkt. Man redet von Generalstreik, Studenten pilgern zu den Werkstoren der Fabriken in der Banlieue, um zu agitieren. Sie haben tatsächlich Erfolg. Der Generalstreik findet statt. – Auch das war in Deutschland anders.
    Man rätselt über den Verbleib General de Gaulles. Er soll auf Truppenbesuch in Deutschland sein, heißt es. Den Einsatz des Militärs vorzubereiten.
    Alle Seine-Brücken sind abgesperrt. Die Atmosphäre merklich aggressiver. Auf den „Champs Elysées“ und am „Rive droite“ Tausende hupender Autos, Gegendemonstranten zu den aufmüpfigen Studenten. Die toben sich am „Rive gauche“ aus.
    Das gesamte „Quartier Latin“ um die Sorbonne herum ist weiträumig abgesperrt, Polizisten mit Schild Schulter an Schulter, mindestens über drei Kilometer. Die Studenten, „Dani, le rouge“ an der Spitze, kreisen um sie herum. „CRS-SS“ und „Fouchet enragé – libérez la Sorbonne!“ tönt es, hektisch skandiert. Fouchet ist der Innenminister, wird kurz darauf ersetzt.

    Und dann der Pfingstsamstag. Seit Wochen gab es kein Benzin, der Straßenverkehr kam fast zum Erliegen. Und nun das „Wunder“: An allen Tankstellen sprudelt es wieder. – Was für ein Schelm, dieser General de Gaulle!
    An allen Tankstellen lange Schlangen, und dann ab ins Grüne! – Man wird sich doch nicht den Pfingstausflug durch eine „Revolution“ vermiesen lassen!
    Später wird viel darüber gerätselt, was diese „Maiereignisse“ mit erwachenden Frühlingsgefühlen zu tun haben. – Wie es scheint, eine Menge.

    Auch das „Quartier Latin“ ist jetzt wieder zugänglich, sogar die Sorbonne.
    Erst jetzt fällt mir auf, dass ich in all den aufregenden Wochen nie einen Fotoapparat dabei hatte. Einfach nicht daran gedacht. Ich hole dies nun nach.
    Nur noch ein paar traurige Transparente zieren den Hof der Sorbonne, noch ein paar herumfliegende „tracts“. Die Verlierer der Rückkehr der Ordnung sind die Clochards. Die hatten sich in den letzten Wochen hier wohnlich eingerichtet.
    Auch ausgefallene Kurse werden nachgeholt, sogar Prüfungen finden, wenn auch verspätet, statt. Alles geht seinen gewohnten Gang.
    Freilich unter veränderten Bedingungen: Die Gewerkschaften werden im „Abkommen von Grenelle“ durch Zugeständnisse, wie Tariferhöhungen und Verkürzung der Arbeitszeit, „befriedet“. Doch in den darauffolgenden Neuwahlen erreichen die Gaullisten mit 358 von 487 Sitzen zunächst ihre stärkste Macht. Bis de Gaulle im Jahr darauf aufgrund eines gescheiterten Referendums zurücktritt.

    Was bleibt, sind auch fantasievolle Sprüche, die sich von den Leninschen Vorbildern deutlich unterscheiden:
    „Die Fantasie an die Macht“, „Traum ist Wirklichkeit“, „Unter dem Pflaster liegt der Strand“, „Es ist verboten zu verbieten“, „Seid Realisten verlangt das Unmögliche“, „NEIN sagen ist denken“
    (Vgl. „Das Jahr, das Frankreich veränderte: Der französische Mai ’68“, http://www.bpb.de/internationales/europa/frankreich/152656/der-franzoesische-mai-68)

    Und was bedeutete 1968 für mich?
    Auf jeden Fall war es das Jahr des intensivsten Erlebens. Woran man sich nicht nur erinnert, was auch formt und prägt. Und es stellte Weichen, nicht nur politisch, sondern auch für mich privat.

  6. Als gebürtiger Sudetendeutscher blieb bei mir 1968 mehr der Prager Frühling in Erinnerung. Wie gebannt verfolgte ich das Scheitern Dubčeks Sozialismus mit menschlichem Antlitz durch die sowjetischen Panzer. Erst als zweites kam die 68er Revolte direkt vor unserer Haustür hinzu. Ich arbeitete damals bei der VDO an der Bockenheimer Warte. Hautnah erlebte ich daher die Demos an der Uni und die Häuserräumungen. Permanent wurde in der Frankfurter Innenstadt demonstriert mit anschließenden Randalen und Zerstörungen öffentlicher Einrichtungen. Ziel war in erster Linie die SPD, da sie im Magistrat, im Land und Bund an den Schalthebeln saß, im Römer mit absoluter Mehrheit. Frankfurts Oberbürgermeister war Rudi Arndt, als Dynamit-Rudi unvergessen. Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten zogen sie skandierend durch die Straßen, allen voran der Kommunistische Bund Westdeutschland KBW. Das weckte in mir offene Ablehnung und Hass gegenüber diesen vermeintlich linken Gruppen. Regelrechte Straßenschlachten wegen geringfügiger Fahrpreiserhöhungen der Frankfurter Verkehrsbetriebe fanden auf der Zeil statt. Wasserwerfer- und Schlagstockeinsätze waren die Antwort der Polizei. Für die Mehrheit der Bürger waren das Chaoten oder übermütige junge Leute, die einfach Spaß am Krach machen hatten. Einen Sinn erkannte ich auch nicht in ihren Aktionen und dachte wie die Mehrheit. Ich gehörte ja auch nicht mehr zu dieser Generation. Für meinen tschechischen Arbeitskollegen war es eine verkehrte Welt als er die Demonstranten mit roten Fahnen mit Hammer und Sichel sah, denn er war 1968 gerade erst in den Westen gekommen. Mit Megafon forderten sie die Belegschaft auf, sich mit ihnen zu solidarisieren, was vollkommen illusorisch war.

  7. @ Peter Boettel:
    Ich hatte zu Charles de Gaulle Folgendes in Erfahrung bringen können: Der Staatspräsident flog am 29. Mai mit einem Helikopter nach Baden-Baden zum Oberkommandierenden der Französischen Streitkräfte in Deutschland, General Jacques Massu. Da diese Reise geheim gehalten worden war, gab es nach dem Bekanntwerden Irritationen. Zunächst hieß es, er sei geflohen. Nachdem er sich in Deutschland der Unterstützung des Militärs versichert hatte, hielt er am nächsten Tag, dem 30. Mai, eine Radio-Ansprache, in der er Neuwahlen für den 23. Juni ankündigte. De Gaulle betonte, dass er der legitime Inhaber der Staatsmacht sei. Er warnte vor „Subversion“ und einer Weiterführung der Streiks, die zwangsläufig der Kommunistischen Partei Frankreichs zugutekommen würden.
    Über die Zusammenkunft zwischen Präsident de Gaulle und General Massu berichtete mir der ehemalige persönliche Kellner Massus im Offizierskasino in Baden-Baden. Er heißt Jean Faure und betrieb bis vor wenigen Jahren in einer Kleinstadt in Südwestfrankreich, in Mansle, Departement Charente, ein Restaurant und Hotel. Zu vorgerückter Stunde und im Kreis von Gästen, die er mochte, holte Jean Faure ein Schwarz-weiß-Foto mit dem Porträt Massus hervor, das dieser ihm persönlich gewidmet hatte. Faure spricht perfekt Deutsch und zeigte sich bei allen Begegnungen, die ich mit ihm hatte, politisch bestens informiert.

  8. Mein 1968:

    1968 war ich noch kein Student. Erst paar Jahre später. Ich arbeitete noch in einer Zeitschriften-Druckerei in Wiesbaden als Schriftsetzer (im Bleisatz). Auch im Betrieb war eine Stimmungsänderung zu spüren (zwischen alt und jung). Die gesellschaftlichen Unruhen gingen nicht spurlos an den Belegschaften vorbei. Auch die Gewerkschaft Druck + Papier machte mächtig Dampf.

    Es war Aufbruch angesagt.

    Ich lebte mit meiner damaligen Freundin in „Wilder Ehe“ in einem ganz normalen Häuserblock in einem Arbeiter-Stadtteil. Einerseits heikel, andererseits dem aufkommenden Zeitgeist geschuldet.
    Meine weiteren Lebensfelder waren der Fußball und die Kneipen. Die Szenenkneipe „Bumerang“ war der entscheidende Ausgangspunkt konspirativer Treffen der politisch angefixten Szene und damit der Reisen nach Paris (meist per Trampen), um an der Veränderung der Welt mitzumachen.
    Paris war ganz klar das geistige, kulturelle und politische Zentrum, von dem aus wir uns neue Anregungen für eine neue Lebensgestaltung versprachen Paris ist ein Fest (Hemingway).

    Im musikalischen Mittelpunkt standen unter anderem: Jimi Hendrix, The Byrds, The Who (My Generation), Frank Zappa & Mothers of Invention, The Kinks, The Doors und selbstverständlich The Beatles. Auf deutscher Seite: Franz-Josef Degenhardt.
    Unsere Gedanken schwirrten aber auch in das ferne Haight Ashbury, dem damaligen Viertel der Hippies in San Francisco (Kalifornien), dem Mekka der Flower-Power-Bewegung. Damit war auch meine musikalische Berührung mit der amerikanischen Rockband Grateful Dead entstanden, einer Band, die auch für die kommende Gegenkultur stand.

    Zurück zu Paris: Die Mai-Revolte (Peter Boettel, Werner Engelmann, Klaus Philipp Mertens berichteten oben schon davon) war für uns damals das Ereignis, das uns beginnende Aufmüpfige besonders anzog. Die Studentenunruhen in Berlin (u.a.das Attentat auf Rudi Dutschke) oder Frankfurt selbstverständlich auch. Aber Paris besaß diese besondere Attraktion, symbolisierte den Puls der Zeit, die Rebellion und hier hauchte ich auch den Geist des Existenzialismus (Camus, Sartre, Beauvoir usw.)ein.
    Und was Paris betrifft, möchte ich nur auf ein bsonderes Ereignis eingehen, das mir 1968 bis heute als Zeitzeuge am stärksten in Erinnerung geblieben ist.
    Ich war wieder mal (mit Freundin) nach Paris getrampt. Ankunft am 19. August, Gare de l’Est. Wir steuerten sofort auf das Zentrum um Notre Dame zu und empfanden alles, was wir an internationalem Flair wahrnehmen konnten wahnsinnig aufregend, freizügig, ja tolerant.
    Bis hin, dass wir uns auch zutrauten, uns auf das Abenteuer einzulassen, eine Nacht unter einer Brücke der Seine zu übernachten. Wie die Clochards. Bestimmt etwas naiv, aber es funktionierte.

    Zwei Tage später, am 21. August wurden wir dann Zeugen eines Ereignisses, das zwar in Prag passierte, aber hier in Paris heftige Straßenkämpfe verursachte.
    Es war der Tag des Einmarschs der sowjetischen Armee mit Panzern in Prag. Wir hielten uns gerade um den Platz St. Michel auf, als wir von einer Protestmasse, einem Riesenauflauf Menschen überrascht wurden und wir zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung hatten, um was es überhaupt ging. Es wurden Feuermelder eingeschlagen, Szenen von Massenschlägereien und wir plötzlich mitten drin und versuchten uns aus den Gefahrenzonen zu bringen.
    Die Tumulte und Proteste dauerten stundenlang bis in den Abend hinein, bis sich die Lage langsam etwas beruhigte. Die französische Öffentlichkeit reagierte spontan auf dieses politische Ereignis. Die französische Polizei („flics“), wenig beliebt, räumte an diesem Tag ziemlich radikal in der Protestmasse auf und scheute keine drastischen körperlichen Maßnahmen. Ich hörte Stimmen und Flüche über den ‚Polizeistaat Frankreich‘ und – irritierender weise – Komplimente an die Demokratie in Deutschland. Mir sind jedenfalls die gewaltigen und gewaltsamen Szenen des Protestes, der polizeilischen Angriffe bis heute stark in Erinnerung geblieben.

    Historisch war der 21. August, wie allen bekannt, die blutige Niederschlagung der Reformbewegung in der Tschechoslowakei unter Alexander Dubcek. Das Ende des „Prager Frühlings“.

    Die Erlebnisse in Paris, die Studentenunruhen in Deutschland, die gesellschaftliche Aufbruchstimmung, haben für mich prägenden Einfluss genommen, sowohl auf die persönliche als auch auf die weitere berufliche und politische Orientierung.

    Freiheitliche Rechte, Widerstand, Mitbestimmung, Solidarität sind zu Säulen meiner politischen Einstellung geworden. Aus der betrieblichen Ausbildung kommend, 2. Bildungsweg usw., führte mich in eine lange Phase des Ausprobierens unterschiedlicher Lebensentwürfe, der Suche nach Alternativen und der kritischen Begegnung jedweder freiheitsrechtlichen Einschränkungen von politischer Herrschaft. Im Geiste bin ich ein Alt-68er geblieben. In der sozialen Randgruppenarbeit und der Wohnungslosenhilfe habe ich schließlich meine berufliche Heimat gefunden. Auch wenn das unvermeidbare zunehmende Alter und die Erfahrungen einige Wogen geglättet haben und Abnutzungsspuren zurückgelassen haben.

    Was ist heute geblieben?

    Vom Geist der 68er ist in der deutschen Gesellschaft(-spolitik) nicht mehr viel übrig geblieben. Heute dominieren die Anpassung an die ökonomischen Verhältnisse und das Leistungsdenken in Reinform.
    Die immer wieder aufkommenden Diffamierungen und Schuldzuschreibungen gegenüber den 68ern (sogar von den Protagonisten jener Zeit), sind ein ganz merkwürdige Form des Waschzwangs dieser alten Akteure. Diese Selbstbezichtigung, Selbstverleugnung und Abrechung mit der eigenen Generation hat teilweise alberne Dimensionen (etwas Götz Aly’s „Unser Kampf“ oder Peter Schneider’s „Rebellion und Wahn“). Daniel Cohn-Bendit ist sich wenigstens bis heute treu geblieben. Man kann und darf sicher kritisch und selbstkritisch auf ‚Irrwege‘ der 68er blicken. Das ist nicht der Punkt. Es reicht aber schon, was aus den reaktionären Lagern an Angriffen kommt.
    Ein vorläufiger Höhepunkt des sozialpolitischen Roll-backs in Deutschland – weit hinter der Zeit von Willy Brandt und seiner noch erkennbaren Sozialdemokratie -, war die Geburt der Hartz-Gesetze. Diese wurden von einer Generation ins Leben gerufen, die eigentlich hätte wissen müssen, was Zwang zur Arbeit, Sanktionierung, Verfolgung und Diffamierung von Arbeitslosen u.v.a.m. für Folgen für das weitere politische Klima in Deutschland haben würden. 1968 bedarf einer Neuauflage!

    „Wenn wir uns nicht selbst befreien, bleibt es für uns ohne Folgen.“ (Peter Weiss, Schriftsteller, gest. 1982)

  9. @ Jürgen Malyssek

    Ich stimme Ihnen zu, dass die Auseinandersetzung mit Wirkungen und Fehlern, eine Untersuchung heute herrschender Bilder von „den 68ern“ auch zu einer solchen Dokumentation gehört.
    Bevor ich das für mich selbst versuche, hier zunächst eine Dokumentation zum Stand meiner Auseinandersetzungen mit dem, was Sie „Selbstbezichtigung, Selbstverleugnung“ nennen, am Beispiel von Götz Aly.

    (1) Zu: Götz Aly, „Unser Kampf 1968 – Ein irritierter Blick zurück“, erschienen 2008:

    Ich habe diese Auseinandersetzung zunächst gleich nach Erscheinen des Buchs versucht. Doch lange habe ich die Süffisanz nicht ausgehalten. Insofern möchte ich Ihre Einschätzung, die ich teile, etwas modifiziert ausdrücken: Zumindest in dieser Hinsicht ist sich auch ein Götz Aly „bis heute treu geblieben“.
    Ich halte diesen „Blick zurück“ für ausgesprochen unehrlich. Indiz dazu schon im Vorwort: „Es ist schwer, den eigenen Töchtern und Söhnen zu erklären, was einen damals trieb.“ Die Verschleierungsform „einen“ spricht Bände. Das Wort „ich“ kommt hier nicht vor, obwohl es dazu einige Veranlassung gäbe (siehe Teil 2 und 3).
    Zu methodischen Bedenken ein Zitat aus Wikipedia:
    „Als Gemeinsamkeit zwischen Alys „33er-Generation“ und den 68ern sieht der Autor bereits die an sich politisch unabhängige Selbstbezeichnung als „Bewegung“ und führt an, dass sich sowohl die nationalsozialistische „Studentenrebellion“ als auch die 68er so genannt hätten. Der Begriff sei 1967 von den Studierenden „wieder aufgenommen“ worden.“
    Ich teile die Auffassung des Historikers Norbert Frei: „Der 68er-Generation eine 33er an die Seite zu stellen, dient nach Freis Auffassung ‚allein der Provokation, nicht der historischen Erkenntnis'“.
    Und bezüglich der Rezeptionen die Einschätzung von Elmar Altvater (nach Wikipedia):
    Er „bezeichnete die größtenteils positive Rezeption von Alys Thesen durch die Machteliten als Zeichen für den ‚Verfall der politischen Kultur‘.“
    Eine der begeisterten Aufnahmen in der „Welt“: https://www.welt.de/kultur/article1678847/Unser-Kampf-Goetz-Aly-und-die-68er.html
    Andere Rezensionen zu diesem Buch in: https://www.perlentaucher.de/buch/goetz-aly/unser-kampf.html

    (2) Zur Biografie von Götz Aly:

    – „Er beteiligte sich am 24. Juni 1971 an einer Aktion, bei der Aktivisten der Roten Zellen in ein Seminar des Professors Alexander Schwan eindrangen und gewalttätig gegen diesen vorgingen. Von Anfang 1972 bis Mitte 1973 engagierte er sich in der Roten Hilfe Westberlin. (…)
    Zu den Schwerpunkten der Rote-Hilfe-Aktivitäten gehörten seit 1970 sowohl die Vorbereitung der Prozesse, als auch das Engagement für verbesserte Haftbedingungen der inhaftierten Mitglieder von Terrorgruppen, wie der RAF oder der Bewegung 2. Juni. Mitglieder u.a.: Horst Mahler, Monika Berberich.“
    – „1994 habilitierte sich Aly am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin in Politikwissenschaft. Nach Gastprofessuren in Wien und Salzburg hatte er von 2004 bis 2006 die auf vier Semester angelegte Gastprofessur für interdisziplinäre Holocaustforschung am Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main inne. 2006 wurde er von Bundespräsident Köhler in den Stiftungsrat des Berliner Jüdischen Museums berufen, dessen Mitglied er bis heute ist.“
    – „2007 Bundesverdienstkreuz am Bande“.
    (Wikipedia)
    – Man sieht: geradezu eine Bilderbuchkarriere.

    (3) Zu persönlichen Erfahrungen und möglichen Hintergründen:

    Ich habe zeitgleich mit Götz Aly an der FU studiert, wenige hundert Meter entfernt von dessen „Wirkungs- und Aktionsstätte“, dem Otto-Suhr-Institut (OSI).
    Wie jedem politisch aufmerksamen Studenten zu dieser Zeit bewusst war, begann mit dem „Hamburger Erlass“ von 1971 und der flächendeckenden Umsetzung des „Radikalenerlasses“ von Januar 1972 an die Revanche der „Staatsmacht“ an den revoltierenden Studenten.
    Am OSI wurde zu deren Unterstützung eine Dozentenorganisation gegründet, genannt „Notgemeinschaft für eine freie Universität“ (Nofu), Motto: „Freie Universität unter Hammer und Sichel“, Mitbegründer: Prof. Alexander Schwan (gegen den u.a. Götz Aly „gewalttätig“ vorgegangen war, s.o.).
    Die Nofu leistete zum Zweck der Entfernung der Verdächtigten aus dem Staatsdienst „wertvolle“ und umfassende Spitzel- und Denunziationsdienste. So 1973 mit einer 50seitigen Broschüre zu einer einzigen Hochschulorganisation, der „Aktionsgemeinschaft von Demokraten und Sozialisten“ (ADS), die u.a. handschriftliche Aufzeichnungen von Treffen einzelner Gruppen und einer – nahezu vollständigen – namentlichen Liste (z.T. mit Adresse und Telefon), fast 700 Namen mit Geburtsdatum und Studienfächern.
    Der Verteiler dieser Denunziationsbroschüre: „Mitglieder des Bundestags, des Abgeordnetenhauses von Berlin, Mitglieder der übrigen Landtage, die Bundesregierung, der Senat von Berlin, die übrigen Länderregierungen, die Berliner Bezirksbürgermeister und Stadträte, die Rektoren und Präsidenten der westdeutschen Universitäten, wissenschaftliche, kirchliche, politische Institutionen, Stipendienträger, die Gewerkschaften und Beamtenorganisationen, die Arbeitgeberverbände, die Industrie- und Handelskammern und andere Wirtschaftsorganisationen, Berufsorganisationen, die Presse sowie zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens.“
    Zusammengefasst: Flächendeckend alle, die in irgendeiner Weise Einfluss auf Einstellung der nachfolgend benannten „Verfassungsfeinde“ in der 50seitigen „Dokumentation“ haben könnten.
    Ich besitze eine Kopie dieser „Dokumentation“, aus der vorstehendes Zitat stammt.
    Mir selbst sind z.B. bei einem über 3 Stunden dauernden mündlichen Verhör („Gespräch“ genannt) handschriftliche Aufzeichnungen von Treffen eines „Studienausschusses“ (zur Beratung bei Studienfragen) vorgelegt worden, bei dem nur wenige Personen anwesend waren.
    Ich hatte mich an keiner solchen „Aktion“ wie Herr Aly beteiligt. Ich kenne aber einige der Menschen (die in die Tausende gehen), die nach solchen „Gesprächen“ oder „Regelanfragen“ Berufsverbot erhalten haben.
    Bleibt die Frage, ob und warum gerade ein Götz Aly einer so umfassenden Spitzelaktion entkommen konnte.
    Mir ist es nicht gelungen, herauszufinden, ob Herr Aly irgendwelche Konsequenzen zu gewärtigen hatte oder ob bzw. warum sich ein Prof. Schwan ausgerechnet an ihn nicht mehr erinnern konnte.
    In der Tat: „Ein irritierter Blick zurück“.

    (4) Zwei interessante Hinweise gibt es doch:

    Einer betrifft die Kernthese Götz Alys vom „Antisemitismus“ der Studentenbewegung:
    Es war Götz Aly, der 2017 zuerst die Vorwürfe angeblicher „Zensur“ gegen ARTE und WDR erhob und die BILD-Kampagne gegen diese ins Rollen brachte, weil sie die unkommentierte Ausstrahlung der „Dokumentation“ „Auserwählt und ausgegrenzt – Antisemitismus in Europa“ wegen massiver Einseitigkeit und 28 dokumentierten, schweren journalistischen Fehlern abgelehnt hatten:
    http://www.berliner-zeitung.de/politik/meinung/goetz-aly-arte-verhindert-doku-zu-antisemitismus-26824492
    https://de.wikipedia.org/wiki/Auserw%C3%A4hlt_und_ausgegrenzt_%E2%80%93_Der_Hass_auf_Juden_in_Europa
    http://www1.wdr.de/unternehmen/der-wdr/unternehmen/doku-faktencheck/doku-faktencheck-gesamt-100.html

    Der zweite betrifft Götz Aly selbst, genauer: seinen Umgang mit Fakten und Belegen:
    Der „Cicero“ warf öffentlich den Verdacht des Plagiats betr. Götz Alys Promotion auf und versuchte dem nachzugehen. Eine Antwort auf eine Anfrage bei Götz Aly erhielt er nie:
    „Als Hochschullehrer tritt Götz Aly als akademischer Tugendwächter auf. (…) Politikprofessor Wolf-Dieter Narr war Zweitgutachter der Arbeit. Besucht man ihn in seinem Büro und spricht ihn auf die Dissertation an, sagt er schmunzelnd: ‚Wenn ich meine wissenschaftlichen Standards richtig angelegt hätte, hätte ich die Arbeit nicht annehmen dürfen.‘ (…) Der Erstgutachter war Reinhart Wolff. Er sagt, die Arbeit sei ‚kein Ruhmesblatt‘ gewesen.“
    (http://cicero.de/innenpolitik/die-fragwuerdige-promotion-des-goetz-aly/52271)

  10. @ Gabriele Schreib M.A.

    Der Artikel ist mir bekannt.
    Nun ja, von der Springerpresse hofiert zu werden empfinde ich nicht gerade als Bestrafung für „Jugendsünden“. Umgekehrt sich ihr anzudienen auch nicht als Ausweis für besondere wissenschaftliche Redlichkeit und Qualifikation anzusehen.

    Danke dennoch für den Link. Mir fiel dabei manch Neues ein.
    Z.B. die Frage nach wechselseitigen Motivlagen.
    Wer den Spruch „BILD hat mitgeschossen“ nach dem Attentat auf Rudi Dutschke kennt, braucht betr. die Springerpresse da nicht lange nachzudenken. Was liegt da näher als sich einen – möglichst prominenten – Renegaten der Studentenbewegung zu suchen und ihn hochzupäppeln?
    (Pinkant in diesem Zusammenhang, dass die Rudi-Dutschke-Straße in Berlin heute unmittelbar am Springer-Hochhaus liegt.)
    Die Motivlage eines Götz Aly liegt auf der Hand. Der Gedanke an die zahllosen Gesinnungsgenossen, welche die „Rache der Staatsmacht“ schon zu spüren bekamen, ist da immer präsent.
    Übrigens spreche ich dabei keine moralische Verurteilung aus. Ich kenne manche, die in der von mir geschilderten Situation „umgefallen“ sind. Der Gedanke, dass das berufliche „Aus“ an einem falschen Wort liegen kann, ist kein Zuckerschlecken – zumal, wenn man bereits Familie hat.

    Es geht lediglich darum, sich klar zu machen, mit welchen Karten da gespielt wird, aber auch, die Konsequenzen für sich selbst zu begreifen.
    (Übrigens habe ich Veranlassung für die Vermutung, dass auch ich bei dem angesprochenen Verhör als Informationslieferant – „Erkenntnisse“ nannte man das – missbraucht werden sollte. Eine mündliche „Anhörung“ war zu diesem Zeitpunkt die absolute Ausnahme. Ich habe unmittelbar danach ein sehr ausführliches Gedächtnisprotokoll angefertigt, sodass mir alles noch sehr präsent ist.)
    Die persönlichen Konsequenzen habe ich z.B. an einem Kollegen beobachten können, den ich seit langem kannte und der – worüber ich mich zunächst sehr freute – an meine Schule kam. Er war „umgefallen“, bat mich telefonisch regelmäßig um Rat, mied in der Schule aber jeden Kontakt zu mir. Ich hatte aus meiner Einstellung kein Geheimnis gemacht.

    Persönliche Konsequenzen, die sich aus einem „Bündnis“ mit der Springerpresse ergeben, lassen sich auch an einem Spruch eines BILD-Chefredakteurs erkennen (geäußert im Zusammenhang der Affäre um Christian Wulff als Bundespräsident): „Wer mit BILD den Aufzug hoch fährt, muss auch damit rechnen, mit ihr herunterzufahren.“
    Plastisch erkennbar auch an Götz Aly:
    Dass BILD sich bei der Aktion gegen ARTE und WDR mt der – rechtswidrigen – Veröffentlichung der „Dokumentation“ „Auserwählt und Ausgegrenzt“ sich seiner propagandistisch bediente, dürfte kein Zufall sein.

    Eine weitere Beobachtung an dem „Welt“-Artikel:
    „Deutsche Hochschulen mögen Außenseiter nicht. Sie stören sich am fehlenden Zunftgeruch und verwerfen den Quereinstieg.“ – Die Frage, ob bzw. inwiefern dieser „Außenseiter“ die Wissenschaft tatsächlich bereichert, wird nicht gestellt, noch weniger der Nachweis erbracht.
    Das ähnelt doch sehr der gebetsmühlenartig wiederholten Behauptung von der „Ausgrenzung“ der „armen“ AfD. Womit sich prächtig über die von ihr verbreiteten Inhalte hinwegtäuschen lässt.

  11. @ Werner Engelmann

    Ich danke Ihnen für die Detailinformationen zum Renegaten Götz Aly. Sie waren ihm demnach ‚dicht auf den Fersen‘. Melde mich zurück, wenn ich die Quellen genauer gelesen habe.

    Die Dokumentation „Antisemitismus in Europa“ im Ersten habe ich seinerzeit übrigens gesehen. In der anschließenden Maischberger-Talkrunde spielte der jüd. Historiker Michael Wolffsohn eine äußerst fragwürdige Rolle.

  12. @Jürgen Malyssek

    Betr. „Dokumentation“ „Antisemitismus in Europa“ (setze ich beides lieber in Anführungszeichen):

    Wichtig ist ja nicht, ob Herr Wolfssohn jüdischer Herkunft ist (was heißt das?), sondern wie das Dreigespann Springerpresse – Ali – Wolfssohn funktionniert.
    In der genannten Maischberger-Sendung war es Wolfssohn, der die Rolle des Holzhammerschwingenden übernommen hatte (auf ziemlich üble Art, vor allem gegenüber Herrn Schönenborn). Nachdem die anderen zunächst die Vorgaben geliefert hatten.
    Und noch wichtiger ist zu erfassen, warum, wie und mit welcher Absicht das alte Springer-Glaubensbekenntnis „Freundschaft mit Israel“ (Hauptkriterium für jede Absolution und jede Einstellung) in der Form von „bedingungsloser Unterstützung für Netanjahu“ wiederbelebt wird: ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu dem ein Netanjahu die Konfrontations- und Siedlungspolitik eskalieren lässt und von einem Trump volle Unterstützung erhält.
    Die Funktion der Neuauflage der „Antisemitismus“-Kampagne (war bereits bei der „Beschneidungsdebatte“ erfolgreich), nun auch gegen öffentlich-rechtliche Sender gerichtet, gekoppelt an die „Zensur“-„Lügenpresse“-Kampagne – unter fleißiger Vorarbeit von AfD und „Pegida“ – dürfte ziemlich klar sein.
    Die der Herren Aly und Wolfssohn auch.

  13. @ Werner Engelmann

    Es ist sicherlich nicht notwendig, die jüdische Herkunft des Historiker Michael Wolffsohn herauszuheben.
    Tatsache ist aber, dass er an dem Talkshow-Abend mit seinem Auftritt (zynisch, selbstgefällig) mit dazu beitrug, dass Israel-kritische Äußerungen weiterhin als Antisemitismus interpretiert werden.
    Ich bin übrigens bei einer Frankfurter Veranstaltung jüngst auch als Antisemit tituliert worden.
    Ich teile das von Ihnen oben Gesagte, auch das Funktionieren des Dreiergespanns Springer – Aly – Wolffsohn.
    Die „Dokumentation“ war durch und durch tendenziös. Sie hat mich an diesem Abend etwas ratlos zurückgelassen. Was haben sich die verantwortlichen Journalisten eigentlich mit ihrer Arbeit da gedacht?

    Zu Götz Aly:
    Mit der Rezension von Jacques Schuster (Die Welt) ist mir die ganze Leier von Götz Alis Kreuzgängen und Selbstbezichtungen, aber auch auch Realitätsverdrehungen („Die Nazizeit interessierte die Studenten nicht“ – „Nicht die Studentenbewegung leitete die Wende zur Reformpolitik ein …“ usw.) wie bittere Magensäure aufgestoßen.
    Dann auch die Aussage von Jacques Schuster: „Aly schmort nicht im fauligen Saft der Erinnerungen …“.
    Aufhören, aufhören!!! würde Kabarettist Schmickler rufen.
    Die fragwürdige Doktorarbeit interessiert mich da nur am Rande. Ich habe mich schon viel zu oft über Aly geärgert, so dass ich für eine Weile hier den ‚geordneten Rückzug‘ antrete. Ali hätte genug damit zu tun, sich seine eigenen Traumata anzuschauen: „Wer bin ich bloß?“

  14. Zu Götz Aly und Jacques Schuster:

    „Die Turbulenzen von 1968 müssten als Flucht vor der (eigentlich müsste es heißen „den“) zunehmend thematisierten, in immer deutlicheren Konturen sichtbaren deutschen Verbrechen gedeutet werden“, so gibt Schuster Aly wieder. Beiden muss entgangen sein, dass die Studentenbewegung der 1960er Jahre nicht nur Deutschland betraf, sondern die gesamte westliche Welt. Was sollten die Studenten in Berkeley, was sollte ein Herbert Marcuse, Ideengeber der linken Intellektuellen und selbst aus Nazideutschland geflohen, was sollte ein Daniel Cohn-Bendit, selbst jüdischer Herkunft, als Anführer der französischen Protestbewegung für ein Interesse daran gehabt haben, die Aufklärung der Naziverbrechen zu behindern? Absurder geht’s wohl nicht.

    „Nicht die Studentenbewegung leitete die Wende zur Reformpolitik ein, sondern die 1969 gebildete sozial-liberale Regierung unter Brandt/Scheel.“
    Umgekehrt wird ein Schuh draus: Erst die von der Studentenbewegung ausgelöste breite gesellschaftliche Diskussion und die damit eingeleitete Abkehr von der Bonner CDU-Republik und ihren bis dahin unhinterfragten „Wahrheiten“ machten bei den Wahlen 1969 eine Mehrheit der SPD gemeinsam mit der damals linksliberal ausgerichteten FDP möglich.

  15. Rechnerisch war sie möglich, aber offenbar mit Mende nicht durchsetzbar. Erst eine Trendwende auch innerhalb der drei damals im Bundestag vertretenen Parteien, meiner Ansicht nach beinflusst durch die Studentenrevolte, führte zur sozialliberalen Koalition.

  16. @Brigitte Ernst
    Ein Wechsel zur SPD war mit Erich Mende schon zu machen. Er hatte 1956 mit u. a. Willy Weyer und Walter Scheel (die «Jungtürken» genannt) den Koalitionswechsel von der CDU zur SPD in NRW durchgesetzt. Hintergrund war, die Bundesratsmehrheit der CDU zu brechen und ein Mehrheitswahlrecht zu verhindern. Während der grossen Koalition drohte die CDU weiterhin mit einem Mehrheitswahlrecht. Bei der Bundestagswahl 1969 bekam die FDP nur noch 5.8% der Stimmen.
    Manche hörten schon die Totenglocke. Die SPD wollte unbedingt an die Regierung und bot Ministerposten an, die die FDP bei der CDU wohl nie bekommen hätte.
    Das hört sich für mich überzeugender an, als dass die FDP wegen der Studentenbewegung bereit war, mit der SPD zu koalieren.

  17. Wichtig für das Zustandekommen der sozialliberalen Koalition war meiner Erinnerung nach, dass innerhalb der FDP, in der sich nach dem Krieg eine erkleckliche Anzahl ehemaliger Nazis bzw. Militaristen zusammengefunden hatte, ein Linksruck erfolgte und eher linksliberale Kräfte wie Hildegard Hamm-Brücher, Gerhart Baum und Burkhard Hirsch tonangebend wurden. Außerdem hatte sich während der großen Koaltion die Außerparlamentarische Opposition (APO) gebildet, und den fortschrittlichen Anhängern des parlamentarischen Systems wurde klar, dass man diesen Kräften besser mit einer Koalition aus SPD und FDP Paroli bieten konnte.

  18. Im Jahr 1968 ging ich zwar noch in den Kindergarten. Dadurch aber, dass ich als Mensch erwiesenermaßen von Geburt an bis weit über den eigenen Tod hinaus ein soziales Wesen bin, war ich schon damals im Besitz aller Soziologie und werde es als Einzelner unveräußerlich auch künftig bleiben. Die unzähligen Versuche Dritter, mir den Besitz daran zu entziehen, sind demnach von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es könnte somit notwendiger nicht sein, sich nicht allein mir den besagten Unfug zu ersparen und auf diese Weise die zu allen Zeiten weltweit immer nur sehr eng begrenzt verfügbaren Ressourcen nachhaltig zu schonen. Nicht bloß private, sondern vielmehr auch horrende Summen öffentlicher Gelder würden infolge dessen für Investitionen frei, die ausnahmslos jedem Bürger zugute kämen. Ob allerdings noch zu meinen Lebzeiten unter der hiesigen Bevölkerung die ohnehin vom Souverän längst unabweisbar gebotene Vernunft einkehrt, wage ich zu bezweifeln. Letztlich steht mir lediglich ein vorzeitiges Ende meines irdischen Daseins in Aussicht, welches die „unnennbare ewige Qual“ (Horkheimer/Adorno, 2016: 87, 22. Aufl.) unumkehrbar zum Innehalten zwingt.

  19. Ergänzung zu meinem Beitrag vom 02.10.2017

    An der erwähnten Podiumsdiskussion vom 13.06.2017 in Berlin nahmen teil: Uwe Soukop (Verf. des Buches „Der 2. Juni 1967, Ein Schuss, der die Republik veränderte“), Martin Textor (Ltd. Polizeidirektor i.R.), Heinrich Burger (Damals Journalist bei der Morgenpost), Leitung: Alexander Kulpok (damals Journalist beim SFB)
    In einer gesonderten Mail (ging nicht anders) sende ich Ihnen zwei markante Pressefotos vom Mai 68 in Frankreich.

  20. @ all

    Zunächst einmal möchte ich mich ganz herzlich für Ihre Beiträge zum Projekt „Mein 1968“ bedanken. Das war ein sehr erfreulicher Start! Zugleich möchte ich Sie einladen, in Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis dafür zu werben, dass man hier als Zeitzeuge über 1968 berichten kann.

    Zu Ihrer aller Info: Ich bin auf der Suche nach einer Form, in die Ihre Beiträge hier im FR-Blog gepackt werden, und habe mal einen Versuch mit dem Beitrag von Paul R. Woods gemacht, welcher der erste war, der hier gepostet wurde. Der Beitrag ist bereits veröffentlicht, aber ins Jahr 2016 zurückdatiert, damit er hier in seiner vorläufigen Form noch nicht auf der Startseite des FR-Blogs erscheint. Das wird später in der endgültigen Fassung nachgeholt. Hier ist der Link. Sagen Sie mir dort doch bitte Ihre Meinung.

    Es geht nun nicht zuletzt um Fragen der Gestaltung. Abgesehen davon, dass dem FR-Blog insgesamt eine optische Revision bevorsteht. Ich möchte ein paar grundlegende Dinge ändern, angefangen bei der Zeilenbreite der Beiträge und Kommentare. Aber das wird getrennt von der 68er-Serie verhandelt.

    Gefragt ist an dieser Stelle natürlich auch Paul R. Woods: Herr Woods, gibt es eventuell persönliches Bildmaterial als Dokument jener Zeit? Das muss nicht unbedingt ein Foto sein, an dem Sie die Rechte haben. Es kann sich zum Beispiel auch um Scans von Flugblättern von damals handeln. Vor dieselbe Aufgabe bin ich auch bei den anderen Beiträgen gestellt, die ich nun nach und nach in diese Form bringen möchte. Kurz gesagt: Bilder wären toll! Auch wenn es dafür kein Honorar gibt.

    Zur Frage der Rechte: Wenn Sie der FR Bilder zur Verfügung stellen, räumen Sie der FR (und niemandem sonst) das Recht ein, dieses Bild zu benutzen. In Höchstfall wird ein solches Bild zweimal benutzt, nämlich hier im FR-Blog und bei der Veröffentlichung im Print-Leserforum. Darüber hinaus bleibt das Bild Ihr geistiges Eigentum, das Urheberrecht ist ganz das Ihre. Dass die Bilder, die Sie hoffentlich zur Verfügung stellen werden, Ihr Eigentum sind, wird durch eine entsprechende Quellenangabe (Foto: privat) neben dem Bild angezeigt.

    Es sollte sich um eigene Bilder (oder Scans usw.) handeln, denn es geht ja um Ihr 1968. Sollten keine solchen Bilder vorliegen, können wir natürlich versuchen, Ihre Beiträge mit Bildern zu illustrieren, die z.B. bei Wikicommons zur Verfügung stehen.

    Aber nun schauen wir erst mal!

  21. @ Bronski

    Für mich hat sich im Moment nur die Frage gestellt, ob bei der jetzt vorgestellten Form mit dem Beitrag von Paul R. Woods, sich denn zum Beispiel am Inhalt und Aufbau meines Beitrages was ändern muss, weil er nicht den chronologischen Aufbau von Woods hat?

    Nach Bildmaterial und anderen Dokumenten aus 1968 werde ich mal schauen.

    Das mit den Bildrechten ist in Ordnung.

    Wegen Werbung für Beiträge im Freundes- und Bekanntenkreis sehe ich die eine oder andere Möglichkeit zu landen.

  22. @ Jürgen Malyssek

    Bei der Wahl der Form, in der Sie Ihren Bericht schreiben wollen, sind Sie selbstverständlich völlig frei. Herr Woods hat hier einen Pflock eingerammt, einfach weil er der erste war. Die Kürze seiner Chronologie hat etwas Lakonisches an sich, das die persönliche Position und überhaupt das Persönliche an diesen 68er-Erlebnissen ein wenig durchschimmern lässt, so dass dies durchaus eine Form ist, in der man diese Erinnerungen bringen kann, wenn ich das mal so flapsig vom rein publizistischen Standpunkt her formulieren darf. Ich persönlich würde mir von eben diesem Standpunkt aus den klar erkennbaren Ich-Erzähler wünschen – wie auch immer das dann auszufüllen wäre -, aber das habe ich nicht zu entscheiden oder auch nur nahezulegen.

  23. @ Bronski

    Dann – um ‚alle Klarheiten zu beseitigen‘ – ist mein Bericht oben vom 6. Oktober als Ich-Erzähler mit der persönlichen Note wohl gut erkennbar und ich sollte ihn so lassen, wie er da steht. Oder stehe ich da gerade auf der eigenen Leitung, wenn ich so nachfrage?

  24. @ Jürgen Malyssek

    Nein, natürlich nicht. Wir reden vielleicht noch mal über Details, wenn es an die Übernahme ins Projekt geht, aber zunächst sieht das doch alles sehr gut aus.

  25. Meine Erinnerungen an 1968 sind Erinnerungen an die Bundeswehr und eine Beinahe Katastrophe für die Welt.
    Mein damaliges Zuhause war das Gebirgsfernmelde-Bataillon in Murnau am schönen Staffelsee mit Blick auf die Voralpen.
    Mitten in der Nacht gab es Alarm. Die Einheit machte sich auf den Weg in den Bayrischen Wald, eine Kaserne in Weiden war unser Ziel. Die dort stationierten Soldaten wurden an die tschechische Grenze verlegt und wir durften wohl ihre Betten benutzen. Jeder von uns erhielt, 10 Schuss scharfe Munition und es wurde uns mitgeteilt dass wir als Einsatzreserve zur Verfügung stehen.
    Der Grund: Ein sowjetischer Panzer hatte die deutsch-tschechische Grenz ein paar Meter Überfahren.
    Leider musste ich auch in den folgenden Jahren feststellen dass die Menschheit, Weltweit, lieber den starken Mann als einen Friedensengel in seine Volksvertretung wählt.

  26. Im September 1968 wurde ich vierzehn Jahre alt. 1968 war das Jahr, in dem in dem ich anfing, mich für Politik zu interessieren. Schon morgens, beim Frühstück, stritt ich mich deshalb mit meinem Bruder um die Zeitung. Ich wuchs in einem schwäbischen, linksliberalen, evangelischen Bildungsbürgerhaushalt auf, in dem es keinen Fernseher und nur ein lausiges Radio gab. Dafür gab es Zeitungen. Morgens den Böblinger Boten. Meine Eltern, beide im Schuldienst, diskutierten viel über Politik. Sie mochten den „Kiesinger“, der zu der Zeit Bundeskanzler war, überhaupt nicht. Wieso, weiß ich nicht mehr. Ich vermute, er war ihnen sprachlich zu barock und er war katholisch. Mein Vater äffte ihn gelegentlich nach.

    Ein einschneidendes Erlebnis war der Einmarsch des Warschauer Paktes in der Tschechslowakei. Der Vorgang schockierte mich. „Die Russen“ oder
    „der Russ“ wie man im Schwäbischen damals sagte, waren für mich immer bedrohlich und gefährlich. Seit der Kubakrise war das in meinem
    Bewußtsein. Und diese empfundene Bedrohung wurde jetzt bestätigt. Ich war empört darüber, wie man mit Alexander Dubcek umging. Ich wollte
    damals ganz genau wissen, wie man ihn entmachtete und las dazu alles, was ich in die Finger bekommen konnte. Verstanden habe ich es zu der
    Zeit nicht.

    Und dann waren da noch die Studenten in Berlin. Das Gefühl, das ich damals hatte würde man heute so beschreiben: „Das waren mega-coole Typen“. Wie die reden und diskutieren konnten beeindruckte mich enorm. Und Weiber hatten die (so sagte man das damals). Dabei hatte ich immer nur Uschi Obermeier im Blick. So sollte mal meine Freundin aussehen. Das nahm ich mir damals fest vor. Ich und einige meiner Klassenkameraden wollten damals in der Schule mit den Lehrern auch so diskutieren; was uns nicht gelang. Unser Geschichtslehrer brüllte uns damals mit den Worten nieder: „Dann geht doch rüber“ (gemeint war die DDR – Ostzone oder Zone genannt). Lediglich der Religionslehrer, ein evangelischer Pfarrer, ließ sich auf uns ein. Mit ihm diskutierten wir. Leider ging die Diskussion damals aber in eine andere Richtung. Er wollte uns davon überzeugen, dass eine freie und voreheliche Sexualität nicht gut für uns wäre. Deshalb kann ich mich wahrscheinlich daran erinnern.

    Jedenfalls wollte ich so werden, wie die Studenten. Das prägte meine weitere Entwicklung: Ich kaufte mir später von meinem knappen Geld regelmäßig den „Der Spiegel“ oder die „Konkret“ oder die „Pardon“. Links sein war gut, der Sozialismus eine erstrebenswerte Wirtschafts- und Gesellschaftsform. Ich legte mir eine Pfeife zu, Ernst Bloch hatte ja auch eine, und trug Rollkragenpullover. Selbstverständlich verweigerte ich den Wehrdienst und war sehr stolz, bereits im ersten Verfahren anerkannt zu werden.

    Als ich dann endlich 1976 in Tübingen anfing, zu studieren, musste ich feststellen, dass zwar die Tische in der Mensa mit politischen Traktaten zugedeckt waren, die Party und die großen Demonstrationen waren aber vorbei. Ich war zu spät.

  27. Ergänzung:

    Zu Rudi Dutschke fällt mir noch folgendes ein:
    In einer späteren Fernsehsendung ungefähr Mitte der siebziger Jahre, in der sich ehemalige Kontrahenten begegnet sind, waren Rudi Dutschke und der frühere Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz eingeladen.

    Rudi Dutschke kommentierte das Zusammentreffen mit Heinrich Albertz folgendermaßen:
    „Damals war er für mich ein Politikaster, heute ist er ein christlicher Sozialist.“
    Hierzu ist anzumerken, dass Heinrich Albertz nach seinem Rücktritt als Reg. Bürgermeister wieder als Pastor tätig wurde, sich wie viele ehemalige Politiker, besonders der SPD (außer Schröder, Müntefering oder Dohnany), nach ihrem Ausscheiden mehr nach links orientierte, z.B. gegen den NATO-Doppelbeschluss, und sich als Geisel für einen Gefangenenaustausch der RAF zur Verfügung stellte.

  28. @ Peter Boettel

    Ihre Anmerkung zu Heinrich Albertz (nach seinem Rücktritt)kann ich nur bestätigen. Als SPDler geistig und moralisch nichts, aber auch nichts gemein mit Schröder, Müntefering, Dohnany.
    Man lese sein Tagebuch: Blumen für Stukenbrock (1983).

  29. Lieber Bronski,

    ich platziere es mal hier. Die Chronik 1968 FR heute, S. 3, hat einen Fehler:
    Der Einmarsch der Sowjets (Warschauer Pakts) in Prag war nicht der 10. August, sondern der 21. August (genau genommen in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968)

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