Antje Vollmer hat einen großen Gastbeitrag in der FR veröffentlicht, in dem sie die deutsche Linke zur Zusammenarbeit aufruft. Vollmer war von 1983 bis 2005 Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen und von 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Bundestages. Die promovierte Theologin hat bereits mehrfach Dialoge zwischen verfeindeten Gruppen initiiert. Der zwischen den linken deutschen Parteien dürfte zu den schwierigeren Projekten gehören, denn SPD und Linke sind sich – teilweise auch auf der persönlichen Ebene – spinnefeind, und noch schlimmer geht es mitunter innerhalb der Linksfraktion im Deutschen Bundestag zu, in deren interner Kommunikation mitunter blanker Hass aufscheint (siehe „Der Sturm im Potsdamer Wasserglas „, FR.de vom 17.10.). Die Flügel  – Realos versus Fundis, Ostlinke gegen Westlinke – sind zutiefst zerstritten.

VollmerIch verlinke Vollmers langen Text „Eine linke Alternative“ und lege ihn zugleich allen ans Herz, die sich daran gewöhnt haben, die Unterschiede im linken Spektrum – ja, dazu gehört auch die SPD! – zu betonen statt die Gemeinsamkeiten. Und nun bilde ich die Debatte ab, die sich unter FR-Leserinnen und -Lesern auf Vollmers Aufruf hin entwickelt hat. Da gibt es selbstredend viel Kritik, aber Vollmer bekommt auch Zustimmung. Denn wie man es auch dreht und wendet: Eine sozialreformerisch-progressive Mehrheit im Bundestag bekommt man bisher nur mit der SPD als Kanzler*inpartei hin, auch wenn diese Partei derzeit auf einem historisch niedrigen Zustimmungsniveau dümpelt. Ein anderes Modell ist nicht in Sicht.

Bei der SPD sind derzeit vorsichtige kapitalismuskritische Tendenzen zu erkennen. Davon brauchen wir zweifellos mehr, denn der ungezügelte Kapitalismus ist in wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht eine Gefahr für den ganzen Planeten Erde. Er muss reguliert werden. Von wirtschaftsliberalen Parteien wie CDU/CSU und der FDP sind auf diese existenziellen offenen Fragen keine sinnvollen Antworten zu erwarten. Nur eine progressive linke Strömung aus SPD, Grünen und Linkspartei kann das leisten.

Ich wünsche mir hier eine konstruktive, zukunftsorientierte Debatte.

fr-debatteWirkliche und vermeintliche Tatsachen

Antje Vollmer glaubt zu wissen, was heute die europäische Linke daran hindert, zu einer gemeinsamen Politik zu kommen. Sie sucht die Ursachen dafür in der Geschichte der Sozialdemokratie. Das Entstehen von Konflikten innerhalb der Linken historisch darzustellen, ist berechtigt, aber mir fehlt die sorgfältige Analyse, die dem vorausgehen müsste. Ich hebe hier nur wenige Formulierungen heraus, an denen ich mich besonders heftig gestoßen habe.
Antje Vollmer findet die Ursachen für die Uneinigkeit der Linken in den unterschiedlichen Haltungen innerhalb der deutschen SPD zum Ersten Weltkrieg. Sie entdeckt Eduard Bernstein als Mitglied der USPD und 1917 als Kriegsgegner. Dass Rosa Luxemburg schon lange vor 1914 vor diesem Krieg gewarnt hatte, kommt im Text nicht vor. Sie wird nur ein einziges Mal zusammen mit Karl Liebknecht erwähnt als Vertreter der radikaleren der beiden Fronten, zwischen die nach der Novemberrevolution von 1918 die USPD geriet. Zwar wird die rigorose Ausgrenzungspolitik der Mehrheitssozialdemokraten benannt. Aber das Etikett „radikal“ haben Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht weg.
Die Autorin behauptet, die deutsche Sozialdemokratie habe Marx und Engels als die anerkannten Theoretiker hervorgebracht. Sie erlaubt sich einen fast komischen Ausrutscher in der Geschichte: Als ein Entstehungsdatum für die spätere SPD kann die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 1863 durch Ferdinand Lassalle gelten, aber auch die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1869 durch Wilhelm Liebknecht und August Bebel. Marx und Engels haben das Kommunistische Manifest 1848 veröffentlicht. Marx hat seit 1850 in London intensive Studien zum Entstehung und Funktionieren des Kapitalismus getrieben und als Ergebnis 1867 „Das Kapital“ veröffentlicht. Was ist Ursache, was Wirkung?
Sie lässt die Sowjetunion durch zwei Weltkriege geschunden sein. Im Ersten Weltkrieg war der Kriegsgegner das russische Zarenreich, unter dem die russische Bevölkerung schwer gelitten hat. Die Sowjetunion wurde erst einige Jahre nach der Oktoberrevolution von 1917 gegründet. Lenin als eine Art Osama bin Laden hinstellen? Das klingt mir nicht anders als die antikommunistischen Parolen der frühen Bundesrepublik.
Antje Vollmer flickt wirkliche und vermeintliche Tatsachen zusammen und nimmt es dabei nicht gar zu genau. Sie lässt ziemlich deutlich eine ideologische Antipathie gegen bestimmte historische Personen durchblicken. Sie predigt der Linken: „Ihr müsst, ihr müsst, und ich bin es, die weiß, was ihr müsst.“
Indem sie den Krieg als Ursache der politischen Probleme in den Vordergrund stellt, verschwindet der heutige Zustand des Kapitalismus aus der notwendigen gedanklichen Auseinandersetzung. Vernünftige alternative Antworten entwickelt sie nicht.
Gut gemeint ist nicht gut.

Anna Masuch, Lübeck

fr-debatteIm Fahrwasser einer einseitigen Politik

Den Artikel von Antje Vollmer finde ich sehr gut recherchiert und ihre Schlussfolgerungen einleuchtend. Dass es darum geht, dass die SPD, linke Parteien überhaupt, „ihre Angst vor den permanenten medialen Folterwerkzeugen ihrer politischen Gegner besiegen“ müssen, möchte ich noch mit dem Argument ergänzen, dass CDU/CSU und FDP es auch deshalb nicht für nötig erachten, über Inhalte zu diskutieren, weil sie im Fahrwasser einer einseitig auf Wachstum und damit auf Ausbeutung orientierten Wirtschafts- und Finanzpolitik mitschwimmen, die ihnen die Konzerne diktiert haben, denn der Gewinn der einen ist der Verlust Anderer. Daran wird auch Jamaika nichts grundsätzlich ändern wollen, wie Stefan Sauer im Kommentar auf S.11 derselben Ausgabe ausführt.
Die Formulierung „kleine Leute“, für die hauptsächlich die CSU angeblich etwas tun will, halte ich für eine Diffamierung. Auch handelt es sich nicht um „sozial Schwache“. Diese Bezeichnung gebührt eher der CSU, deren Schwächen bezüglich ihrer Haltung zum Sozialstaat offensichtlich ist. Nur eine vereinigte Linke kann wirkliche Alternativen zum Status quo dieser Politik erarbeiten. Ich kann mir jetzt schon die Beiträge der Lobbyisten allüberall in den Medien vorstellen: „Das ist doch nicht finanzierbar“ wird noch ein harmloses Argument sein. Aber sie werden mit Sicherheit von Fakten sprechen, die natürlich immer hart sein müssen, von sogenannten wissenschaftlichen Erkenntnissen, werden drohen mit der Globalisierung, der Vernichtung von Arbeitsplätzen und der Abwanderung der Konzerne ins Ausland.
Nichtsdestotrotz sollten wir zumindest einmal beginnen, über ein „Trotz alledem“ statt über ein „Weiter so“ nachzudenken.

Robert Maxeiner, Frankfurt

fr-debatteMüt gründlicher Bildung und Weisheit

Vielen Dank für diesen wirklich guten Artikel von Antje Vollmer. Sie ruft zur Überwindung der politisch schädlichen, historischen Spaltung der linken Gruppierungen auf. Sie ist eine Politikerin von echtem Format mit gründlicher Bildung und Weisheit. Ich hätte sie gerne bei der letzten Bundestagswahl als Alternative zur Weiter-so-Kanzlerin gewählt. Waren ihre Begabungen von den linken Parteien nicht erkannt worden? Leider ist die Wahl einer Persönlichkeit wie Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz eine Ausnahme.

Dietmut Thilenius, Bad Soden

fr-debatteDie Linke und ihr Zickenkrieg

Sehr geehrte Frau Vollmer, Ihr Artikel heißt zwar „Wann, wenn nicht jetzt“, aber er kommt zu spät. Sie haben ja recht damit, dass die Streitigkeiten der Linken nerven im eigentlich privaten Zickenkrieg, unter welche ich auch deren Partner rechne. Ich hab ja nichts dagegen, aber warum machen sie mit ihren Aversionen Politik? Ich hätte die Linken gewählt, wenn z.B. auch eine Katja Kipping, endlich mal mehr im Focus gestanden hätte, nicht immer nur die grundsätzliche und andere ausschließende Frau Wagenknecht.
Warum kam Ihr Artikel nicht vor der Wahl, und zwar zu einer Zeit, da Stephan Hebel in einem Leitartikel eine deutliche Adresse an die SPD schickte, mit Linken und Grünen zusammenzugehen in der kommenden Bundestagswahl? Da war noch Zeit für eine bundesweite Kampagne. Sogar die Forderung der AfD „Merkel muss weg“ wäre erfüllt gewesen. Auf eine solche Bewegung hat unsereins gewartet. Ich hätte mitgemacht, wenn ein Appell daraus entstanden wäre. So aber tröpfeln die goldenen Worte je nach Laune oder Freizeit der Schreiber in den Ordner.

Frederike Frei, Berlin

fr-debatteWichtige Grundsatzfragen

Die Forderung nach der Überwindung der historischen Spaltung der Linken mag auf den ersten Blick ehrwürdig klingen. Der Artikel bleibt allerdings Illusion, wenn er der Ursache der Spaltung nicht richtig auf den Grund geht bzw. selbst spalterische Positionen bezieht. Antje Vollmer spricht von der „Diktatur der Proletariats“ als einer „diktatorischen Entgleisung“ der Bolschewiki. Sie bringt damit diesen Begriff von vorneherein in ein negatives Licht, wie es typisch ist für die Geschichte des Antikommunismus.
Der wissenschaftliche Begriff der Diktatur des Proletariats ist von Karl Marx und Friedrich Engels geschaffen worden. Er ging von der Analyse aus, dass sich hinter den bürgerlichen Parlamenten, Regierungen und Institutionen letztlich die Alleinherrschaft der kapitalistischen Klasse verbirgt, die Ausbeutung und Unterdrückung betreibt. Deshalb kamen Marx und Engels zu dem Schluss, dass dieser Alleinherrschaft (Diktatur der Kapitalistenklasse) die Alleinherrschaft jener Klasse entgegen gesetzt werden muss, die keinerlei Interesse an Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen hat: die besitzlose Arbeiterklasse, das Proletariat.
Nun weiß jeder, dass die deutsche Sprache sehr dialektisch und beweglich ist und die Begriffe in der jeweiligen Assoziation auch ihren Inhalt ändern. Niemand würde etwas gegen die wissenschaftliche Begrifflichkeit von Marx und Engels als Alleinherrschaft des besitzlosen Proletariats haben können, außer den Kapitalisten und der bürgerlichen Gesellschaft. Indem man diesen Begriff allerdings willkürlich assoziiert mit „brutaler Diktatur“ und „stalinistischen Säuberungen“, wird er mit starken Ängsten belegt. In Wirklichkeit geht es in der Auseinandersetzung in der Linken darum, ob man den Kapitalismus abschaffen oder beibehalten will. Deshalb hat auch Lenin später die Stellung zum wissenschaftlichen Begriff der Diktatur des Proletariats zu einer Scheidelinie zwischen dem revolutionären und reformistischen Flügel der Linken gemacht.
Was soll also die Überwindung der Spaltung der Linken bewirken? Soll sie eine Linke sein, die sich im Rahmen des Kapitalismus, also im Rahmen des heute allein herrschenden internationalen Finanzkapitals bewegt, oder soll es eine Linke sein, die sich für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung, also der Alleinherrschaft der Ausgebeuteten und Unterdrückten einsetzt?
Bevor man diese Grundsatzfrage nicht geklärt hat, wird die historische Überwindung der Spaltung eine Illusion bleiben.

Stefan Engel, Gelsenkirchen

fr-debatteDie Debatte ist tot, bevor sie begonnen hat

Liebe Anna Masuch, Du magst Recht haben mit Deinen Ausführungen (in dem Leserinbrief vom 25.10., siehe oben, Anmerkung Bronski). Mit Sicherheit kann man ganz unterschiedliche Sichtweisen und Wertungen haben was die Historie angeht. Aber was bedeutet das in Hinblick auf die Debatte? Diese K-Gruppen-Mentalität ist es doch gerade, die jede Auseinandersetzung im Keim erstickt.
Auch persönliche Befindlichkeiten –  „Ich mag Antje Vollmer nicht, weil….“ (andere Namen sind einsetzbar) – spielen keine Rolle. Deswegen ist auch eine Bemerkung wie: „Gut gemeint ist nicht gut“ absolut unnötig.
„Keine genaue Kapitalismus-Kritik“: Erstens sprengt das den Rahmen, zweitens sollte man das vielleicht zusammen anfangen. Du tötest die Debatte bevor sie angefangen hat!
Wie ich versucht habe zu erklären (anhand meines Versuches einige Leute für eine ökologische Gruppe hier in Naxos zusammen zu bekommen) ist es schwer genug eine gemeinsame Basis zu finden. Ich finde: Wenn man sich als links definiert, sollte man alle Befindlichkeiten in die Tonne kloppen. Weil: Nicht Antje Vollmer, nicht Du oder irgend jemand anderes, der heute beteiligt ist in dieser Debatte, war damals dabei. Wenn wir also erst die Streitigkeiten von damals aufarbeiten müssen, werden wir nie auf einen grünen Zweig kommen.
Für uns heute ist wichtig: Die Definition der aktuellen Situation und die Frage, welche Wege es geben könnte, um sie zu verändern. Und das können wir nur in einer gemeinsamen linken Diskussion, die nicht voreilig bestimmte Richtungen ausschließt. Keine Grabenkämpfe, bevor die Debatte überhaupt begonnen hat!“

Anna John, Naxos (GR)

fr-debatteHeutzutage geht es kaum noch um links oder rechts

Meine Äußerungen werden wahrscheinlich nicht auf Sympathie der meistens FR-Leser stoßen. Vollmers Artikel ist nostalgisch und rückwärts gewandt. Um das Aufkommen der Nazis während der Weimarer Republik zu verhindern wäre natürlich eine damalig vereinte Linke sinnvoll gewesen. Aber fast 100 Jahre danach hat sich ja enorm viel verändert. Hat Frau Vollmer dies nicht mitgekriegt?
Inzwischen gibt es die 38,5- bis 40-Stunden-Woche bei Fünf-Tagewoche, Schwanger-, Mutterschaftsurlaub, Jobgarantie bis drei Jahre nach Geburt, Elterngeld, sehr hohes Kindergeld, Rente ab 63, Kündigungsschutz, Wohngeld, Muttergeld, Grundsicherung bzw Hartz IV mit unangetasteten Geldbetrag von mehreren Tausend Euro und und und. Niemand muss heutzutage im Gegensatz zur Zeit der Weimarer Republik hungern und obdachlos sein. Bei der globalisierten Welt muss das Verhältnis Arm/Reich auch global gesehen werden. Z.B. dass ein Hartz-IV-Empfänger wie ein König lebt im Vergleich zu den hungernden und obdachlosen Armen der Entwicklungsländer.
Frau Vollmer verdammt die große Koalition (wie viele andere auch) wohl verkennend, dass ein Teil der o.g. Transferleistungen ihr zu verdanken sind. Sie meint außerdem, dass es bei einer vereinigten europäischen Linke weniger Kriege geben würde, vergisst jedoch, dass in Europa seit Kriegsende Frieden herrscht trotz Fehlen einer solchen Einigkeit (oder vielleicht sogar deswegen?). Sie beklagt die internationale Handlungsunfähigkeit der EU und übersieht, dass dies bei der Welt, wie sie eben ist, ohne entsprechende militärische Stärke nicht möglich ist.
Was der Artikel aber vermisst sind Aussagen darüber, was eine solche vereinigte europäische Linke im Einzelnen unternehmen sollte. Wahrscheinlich sollte sie für noch weiter erhöhten Transferleistungen für die eigene Bevölkerung und erhöhte Ausgaben für Entwicklungshilfe sein. Das fordert ja auch die Partei Die Linke. Es wird aber dabei verkannt, dass auch wenn alle europäische Millionäre geschröpft werden das Geld für solch astronomischen Ausgaben immer noch nicht reichen würde; im aller besten Fall für die weitere Lageverbesserungen der relativ Armen im eigenen Land, was zum noch höheren globalen Abgrund zwischen Arm und Reich führen würde und folglich zu noch mehr Flüchtlinge und Abschottung.
Heutzutage geht es kaum noch um links oder rechts. Die demokratischen Parteien wurden sich zunehmend ähnlicher weil sie alle zusammen eben dafür gesorgt haben, dass der Lebensstandard bei uns so hoch ist. Das ist im Grunde ein positives Zeichen.
Ich wünsche mir von allen dieser Parteien, dass sie sich Gedanken machen sollten um zunächst zwei wichtige Zukunftsaufgaben: Zum einen, welche Maßnahmen zur zunehmenden Verringerung des globalen Abgrund zwischen Arm und Reich unternommen werden sollen und zum anderen, wie könnte die Arbeitswelt der Menschheit so gestaltet werden, dass bei zunehmender Automatisierung immer weniger Menschenarbeit gebraucht wird um die Produkte herzustellen, die für unser aller Leben notwendig sind.

Dalia Kasubek, Frankfurt

Verwandte Themen

47 Kommentare zu “Die deutsche Linke und ihr Zickenkrieg

  1. Willi Bleicher, der einstige Bezirksleiter der baden-württembergischen IG Metall und Überlebende des KZ Buchenwald, formulierte sehr viel klarer. Anlässlich einer Podiumsdiskussion am 8. Juni 1978 in Esslingen stellt er fest: „Und so kam es, liebe Freunde, dass der Faschismus als Resultat des Versagens der deutschen Arbeiterbewegung im weitesten Sinne zur Macht kam“. Im Zentrum der von ihm geübten Kritik steht demnach die Unfähigkeit zu begreifen, was bereits damals vonnöten gewesen wäre. Frau Vollmers heutiger Aufruf zur Zusammenarbeit kann sich demnach nicht über die sozial immer noch gegebenen Gründe hinwegsetzen, die zu solch einer kaum mehr sagbaren Begriffslosigkeit führen. Allein die Spaltung dafür verantwortlich zu machen, verstellt insofern den Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und reproduziert die „blinde Herrschaft“ (Horkheimer/Adorno, 2016: 48) erst recht. Ohne somit eine erschöpfende Analyse dessen geleistet zu haben, was dem nach wie vor anhaltenden Versagen der organisierten Arbeiterbewegung illegitim vorausgeht und womit daher notwendig zu brechen ist, wird es keine Aussicht darauf geben, vor allem die Einheitsgewerkschaft als ihre wichtigste historische Errungenschaft erhalten und weiterentwickeln zu können.

  2. Ich bin schon jetzt erschöpft. Sie wollen an den Beginn einer Erneuerungsbewegung eine „erschöpfende Analyse“ dessen stellen, was es nicht mehr gibt, Herr Rath? Möchte außer Ihnen noch jemand behaupten, dass die „organisierte Arbeiterbewegung“ anhaltend versagt? Der möge doch bitte die Verhältnisse des Jahres 2017 mit denen von vor hundert Jahren vergleichen.
    Ich wünsche mir hier eine konstruktive, zukunftsorientierte Debatte.

  3. Zentral ist stets die Arbeit am Begriff. Die von Willi Bleicher aufgeworfene Frage, was die dafür erforderliche Leistung noch immer unmöglich macht, ist aktueller denn je. Ansonsten steht zu befürchten, dass das Versagen der deutschen Arbeiterbewegung im Angesicht des Faschismus keine singuläre Erscheinung bleibt. Ich hoffe, den Einwand von Bronski damit entkräftet zu haben.

  4. Zentral sind konkrete Projekte und das Umsetzen definierter Ziele. Eine Debatte darüber, was in der Vergangenheit nicht erreicht wurde, führt zu gar nichts. Wir brauchen eine Debatte darüber, was eine halbwegs einige Linke in der Zukunft erreichen möchte. So habe ich Antje Vollmer verstanden, und in diesem Sinne habe ich darum gebeten – und tue dies hiermit noch einmal – konstruktiv und zukunftsorientiert zu diskutieren. Es gäbe wirklich viel zu tun.

  5. Die klassische Arbeiterbewegung gibt es so nicht mehr. Gottseidank haben aber die Gewerkschaften noch nicht das Handtuch geworfen und sind auch aus ihrem zeitweiligen Elfenbeinturm herausgekommen, stellen im Großen und Ganzen die richtigen Fragen an Wirtschaft und Politik.
    Nicht, dass ich sehr optimistisch bin, aber ich sehe bei den Gewerkschaften (etwa verdi, Metall)einen Generationenwechsel mit einigen frischen Winden.

    Vollmers Impuls ist ein sehr konstruktiver.

    Wenn es zu Jamaika kommt (ich hoffe, dass die Parteien ihre öffentlichkeitswirksame Inszenierung bald beenden), dann wird die Nagelprobe für die Zukunft die sein, wie sich SPD und Linke berappeln und ernsthafte gemeinsame Plattformen finden.
    Es wäre im Parlament dann Zeit, die persönlichen Eitelkeiten auf beiden Seiten abzulegen und starke Inhalte (Soziale Sicherung,Armutsbekämpfung,Soziale Infrastruktur, Friedenspolitik,Ökologie, Klimawandel usw.) dem kommenden fortgesetzten neoliberalen Regierungs-Programm Jamaikas entgegenzusetzen.
    Ohne eine stärkere politische Linksentwicklung möchte man nicht in der Haut der kommenden Generationen stecken.

    Den Worten und dem „Trotz alledem“ von Robert Maxeiner (Leserbrief oben) möchte ich mich gerne anschließen.

  6. Eine Mehrheit im Bundestag für SPD, Grüne und Linke wird nur erreichbar sein wenn die größte der 3 Parteien ein schlüssiges Konzept hat das man der Bevölkerung anbieten kann. Das Thema Kapitalismuskritik geht nach meiner Meinung in die falsche Richtung weil es immer wie Kritik an der Marktwirtschaft rüber kommt. Ich kenne kein System das bessere Ergebnisse hin bekommen hat als die Marktwirtschaft. Es bedarf aber klarer Regeln in denen sich der Markt bewegen muss. Dazu muss gehören dass das Kapital einen angemessenen Beitrag zum Staatswesen zahlt. Wenn das geschieht sollte Bildung für alle und eine akzeptable soziale Absicherung finanzierbar sein. Das sollte der erste Baustein eines Zukunftskonzeptes der SPD sein.
    Der nächste Baustein sollte eine weltweite Energiewende sein. Die Macht des Öls ist derzeit am schwinden und die EE sind so preiswert und dezentral das sie eine klare Chance darstellen Fluchtursachenbekämpfung auch erfolgreich hin zu bekommen. In D. wird eine möglichst dezentrale Energiewende Geld in strukturschwache Regionen bringen und eine Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Land und Stadt ermöglichen. Im Grunde haben die relativ guten Landtagswahlergebnisse der SPD in den nördlichen Bundesländer gezeigt das diese Politik eine Chance hätte mehrheitsfähig zu sein, wenn die Partei wirklich dahinter steht. Was man bei Leuten wie Gabriel oder Kohlelohre wohl nicht wirklich sagen kann. Was dann halt auch zu entsprechenden Wahlergebnissen geführt hat.

  7. Orientiert man sich an der persönlichen Utopie der gegenwärtig amtierenden Vorsitzenden der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, besteht das von Bronski eingeforderte Projekt im Einzelnen in der Befreiung vom Diktat der fordistisch-tayloristischen Industriegesellschaft, wie Frau Nahles gegenüber der Online-Ausgabe der Wochenzeitung „Die Zeit“ vergangenes Jahr am 22. September verlauten ließ. Besserem Wissen gemäß gibt es jedoch keine Totalität des Kapitalverhältnisses, das einen heroischen Akt der Befreiung unabdingbar macht, weil entsprechend der empirisch kontrollierten und längst theoretisch von Habermas gewonnenen Erkenntnis die menschliche Lebenswelt ohnehin niemals von außen kolonisiert werden kann. Notwendig anzusetzen ist somit lediglich an Praktiken, die eine an der fortgeschrittensten Erkenntnis ausgerichtete Politik blockieren. Mit jener vermeintlichen „Weltmacht“, um es in den Worten von Heinrich Heine aus dem Jahr 1834 zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland zu sagen, gilt es im Detail endlich „zu brechen“.

  8. @ hans

    Natürlich muss es weiterhin Kritik am Kapitalismus geben und an der Marktwirtschaft.
    Da sind aber vor allem die außerparlamentarischen Kräfte gefragt.

    Aufgabe der Regierung ist es, den Markt so zu regulieren, dass die Zerstörungen des Sozialstaates nicht weiter voranschreiten und eine superreiche Elite nicht die Gemeinwesen und unser aller Leben bestimmt. Was leider schon längst passiert. Und mit der FDP haben wir den knallharten Vertreter der Freien Marktwirtschaft.

  9. zu @ Jürgen Malyssek
    Das die Marktwirtschaft reformiert und weiterentwickelt werden soll ist für mich auch klar. Ich war der Meinung das ging aus meinem Beitrag auch hervor. Sie sollte aber nicht komplett in Frage gestellt werden, weil mir keine sinnvolle Alternative bekannt ist. Das die FDP ein Vertreter der Marktwirtschaft ist kann ich so nicht erkennen. Das ist eine Partei von Lobbygruppen die von ihr vor dem Markt geschützt werden wollen. Vertreter der Marktwirtschaft sind die nur in Sonntagsreden.

  10. @ hans

    Einigen wir uns vielleicht darauf, dass bei der FDP die Liberalisierung und Privatisierung (wenig Eingriffe vom Staat)ganz oben auf der Agenda stehen. Baums und Hirschs Zeiten sind lange vorbei.
    Wer wie die Marktwirtschaft reformieren und weiterentwickeln soll, das kann ich nicht erkennen.

  11. zu @ Jürgen Malyssek
    Schon in der Bibel steht: An ihren Taten werdet ihr sie erkennen. Wenn man sich ansieht was die FDP die Jahre an der sie mit an der Regierung war bei Leuten die nach Gebührenordnung abrechen , dem Gesundheitswesen( Arzneimittel), Energiepolitik u.s.w. gemacht hat, hat das mit Marktwirtschaft nicht viel zu tun. Von der reden sie immer und wollen sie auch auf dem Arbeitsmarkt für Teile der Gesellschaft. Aber als marktwirtschaftliche Partei würde ich sie nicht bezeichnen.
    Wer soll die Marktwirtschaft weiter entwickeln und dabei zu einer Sozialen machen?
    Die SPD natürlich. Wir reden doch gerade darüber wie „Linke Politik“ in Zukunft aussehen soll. Die Partei die Linke soll sich verstärkt für den kleinen Mann einsetzen, Die Grünen für Bürgerrechte, Klimaschutz und Landwirtschaft und die SPD für soziale Marktwirtschaft und Außenpolitik. So würde ich eine mehrheitsfähige Aufgabenverteilung in Stichworten ausgedrückt sehen. Aber wahrscheinlich sind wir da gar nicht so weit auseinander.
    Mit klaren eigenen Zielen könnte eine SPD übrigens auch in eine Koalition mit der CDU gehen. Derzeit hat sie solche Ziele aber nicht und wirkt beliebig. Das war und ist ihr Problem.

  12. zu @ Peter Boettel
    Das war jetzt eine sehr konkrete Aussage wie eine Linke Politik in Zukunft aussehen sollte das sie mehrheitsfähig ist? Genau auf Grund solcher Aussagen ist sie unkonkret und deshalb nicht mehrheitsfähig. Eine SPD sollte in erster Linie klar sagen was sie will und nicht was die anderen möglichweise falsch machen.

  13. zu @ Peter Boettel
    Außerdem frage ich mich was die Vorwürfe die sie der FDP gemacht haben mit sozialer Marktwirtschaft zu tun haben

  14. „Der ungezügelte Kapitalismus ist in wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht eine Gefahr für den ganzen Planeten Erde.“ In diesem Punkt stimme ich Ihnen, lieber Bronski, zu. Doch lässt sich der Kapitalismus zügeln, lässt er sich im Sinn humanistischer Ideale reformieren?

    Gehören nicht das Verschaffen von Vorteilen gegenüber anderen, wirtschaftliche Vorherrschaft (bei Produkten und Märkten) und schlussendlich die Erlangung politischer Macht (letztere zur Absicherung des vorher Genannten) zu seinem Wesen? Müsste er, der Kapitalismus, nicht, wenn er der gesamten Menschheit dienen wollte, auf allen Ebenen durch ein System demokratischer Entscheidungsprozesse ersetzt, statt von vergleichsweise wenigen beherrscht zu werden? Und welche Kriterien wären dann als Leitlinien zu definieren, um sowohl das Ziel als auch die Wege dorthin menschenfreundlich und menschenwürdig zu gestalten? Bedarf es möglicherweise eines neuen Dekalogs, der ausschließlich das Diesseits im Blick hat, aber sich wie sein biblisches Vorbild aus der weisheitlichen Erfahrung der Menschheit speist?

    Exakt über solche Frage streiten sich Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten seit Jahrzehnten. Mal sehr seriös und ernsthaft und um der Sache willen, mal oberflächlich und im Interesse ihrer persönlichen (Karriere-) Interessen. Dieser vielgestaltige Streit verdeutlicht auch, dass Idealisten ihre Ideale verlieren können und sehr viele von ihnen sie tatsächlich verloren haben. Vielleicht deswegen, weil der Kampf um die bessere Welt sich der Kampftechniken jener Gesellschaft bedient, die eigentlich überwunden werden soll.

    Der Sozialdemokratie sagt man nach, dass sie sich lediglich als Reparaturbetrieb des Kapitalismus verstehe, dass sie dessen übelste Begleiterscheinungen zwar abmildern oder vollständig beseitigen will, ohne jedoch die Systemfrage zu stellen. Dass sie auf Beschwichtigung und Interessenausgleich setzt.

    Sozialisten und Kommunisten stellen das kapitalistische System grundsätzlich und zumeist in radikaler Weise infrage. Aber ihnen fehlen in der modernen Industriegesellschaft ausreichend Anhänger mit ähnlichem Problembewusstsein. Denn die Lohnabhängigen akzeptieren mehrheitlich die goldenen Fesseln, zumindest solange, wie das Joch vergleichsweise leicht zu tragen ist und dank vielfältiger Manipulation die Hoffnung auf Besserung gerade bei jenen nicht erlischt, welche die schwersten Lasten tragen. Die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft sind vor allem denen nicht bewusst oder werden von ihnen verdrängt, die tagtäglich in den Produktions-, Verwaltungs- und Vermarktungsbetrieben ihren Berufen nachgehen und welche die ständig steigende Produktivität häufig mit Schäden an ihrer Gesundheit bezahlen müssen. Und die aktiv am Untergang einer bewohnbaren und lebenswerten Welt mitarbeiten, manchmal gegen das eigene bessere Wissen.

    In vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, wo die Kulis der westlichen Industriegesellschaft schuften und wo sich niemals ein Silberstreif am Horizont zeigt, degeneriert ein Teil der Menschheit zu Raubtieren. Wird dieses explosive Gemisch noch durch autoritäre Religionen mit Jenseits-Verheißungen verdichtet, entsteht ein Terrorismus, welcher letztlich der Stabilisierung der kapitalistischen Verhältnisse garantiert. Ein Beitrag zur Befreiung ist aus diesem Teil der Welt, der derzeit Heimat der Ärmsten der Armen ist, ist nicht zu erwarten.

    Was bleibt zu tun, um nicht weiterhin ungebremst in die totale (weil soziale, ökologische und politische) Katastrophe zu rasen?

    Der Kapitalismus setzt auf formale Bildung auf allen Qualifikationsebenen. Aber er verhindert durch Einflussnahme in die staatliche Bildungspolitik sowie durch permanente Propagandakampagnen das Entstehen eines kritischen Bewusstseins. Zudem setzt er aus systemimmanenten Gründen (weil sich Kapitaleinsatz wirtschaftlich rentieren muss) vor allem auf quantitatives Wachstum, auf die kostengünstige Massenproduktion von Gütern, die vielfach volkswirtschaftlich sinnlos sind, weil sie mit Ressourcenverschwendung und Umweltzerstörung einhergehen. Massenproduktion wiederum ist auf Massenkonsum angewiesen, der nicht aus sich selbst heraus entsteht, sondern nur mit Hilfe manipulierender Bedarfsweckung erreichbar ist.

    Die moderne kapitalistische Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Anpassung und der Angepassten. Das ist ihren Verfechtern bekannt und folglich sehen sie darin die größte Schwachstelle des Systems, die viel gravierender ist als beispielweise ungleiche Gehaltsstrukturen in den Industrieländern. Darum sollen durch wirksame Öffentlichkeitsarbeit die Interessen der Wirtschaft auf den Feldern Arbeitsmarktpolitik, Wirtschaftspolitik, Umwelt- und Energiepolitik, Sozialpolitik und Bildungspolitik im Sinn von Deutungshoheit in der Bevölkerung verankert werden. Ein typisches Beispiel dafür ist die „Initiative Neue soziale Marktwirtschaft“ der Arbeitgeberverbände. Zusammen mit dem ebenfalls zum Arbeitgeberverband zählenden „Institut der deutschen Wirtschaft“, dem „Institut für Demoskopie Allensbach“ und dem „Stockholm Network“ wird erfolgreich versucht, die ureigensten Interessen der Bevölkerungsmehrheit in ihr Gegenteil zu verkehren.

    Parteien wie Die Linke hingegen begründen ihre Forderungen nach einer gerechten und solidarischen Gesellschaft mit Argumenten, die selbst vielen Armen als Rückfall in jenen offenen Klassenkampf mit starren Fronten erscheint, der das 19. Jahrhundert bestimmte. Statt den angeblichen Interessenausgleich zwischen denen, die über Eigentum an Produktionsmitteln und Finanzkapital verfügen und den Besitzlosen zu demaskieren, wird so getan, als ob der Hälfte der Bevölkerung Hartz IV drohe. Letzteres wird allein wegen der notwendigen Stabilisierung der Massenkaufkraft nicht eintreten. Vielmehr werden die sozialen Antagonismen immer komplexer und dadurch undurchschaubarer. Diese zu entlarven, würde bereits den wesentlichen Teil eines linken Parteiprogramms darstellen. Intellektuelle Anleihen bei den sozialistischen Theoretikern des 19. Jahrhunderts werden sich dabei zwar als nützlich erweisen, dürften aber nicht ausreichen.

    Ich sehe nur einen Ausweg: Dieser kann nur in den Köpfen der Menschen beginnen. Sie werden wieder in der Lage sein müssen, über den Tellerrand des allzu Selbstverständlichen hinauszublicken. Deswegen darf die schulische Bildung nicht länger eine formale, auf die Bedürfnisse der Wirtschaft zugeschnittene, sein. Das logische Denken, das verstehende Lesen, das ausdrucksfähige Sprechen und Schreiben werden Einstiegsqualifikationen für alle Berufe sein müssen.
    Daneben bedarf es einer ethischen Grundübereinstimmung, aus der persönliche Aufrichtigkeit, Mut zur eigenen Meinung und zum Widerspruch hervorgehen. Eine wichtige Aufgabe bei der Humanisierung der Gesellschaft wird den Qualitätsmedien, also der unabhängigen Presse und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, zukommen. Und Kommunikation wird mehr sein müssen als das Zusammentreffen von Millionen unbedarfter bis gemeingefährlicher Charaktere im Internet.

    Links muss künftig dort sein, wo Ethos und Verstand ihren Sitz haben. Alles andere ergibt sich daraus mit zwangsläufiger Notwendigkeit.

  15. @ Klaus Philipp Mertens

    Meiner Ansicht nach gehören – leider – das Verschaffen von wirtschaftlichen Vorteilen und das Streben nach politischer Macht nicht nur zu den Charakteristika des Kapitalismus, sondern sie sind in starkem Maße im Wesen des Menschen verankert. Wie sonst wäre es zu erklären, dass sich bei den bisherigen Umsetzungsversuchen einer „Diktatur des Proletariats“ bzw. einer klassenlosen Gesellschaft immer sehr schnell eine neue Oberklasse von Bonzen herausgebildet hat, die sich wirtschaftliche Privilegien verschaffte und die Bevölkerung noch schlimmer knechtete, als es das kapitalistische System im heutigen Europa tut?
    Deshalb müssen in ein demokratisches System egal welcher Wirtschaftsform genügend Kontrollmechanismen eingebaut werden, damit keine Person oder Gruppe übermächtig wird. In unserem derzeitigen System funktioniert das nicht in ausreichendem Maße, aber in den bisher erpobten „sozialistischen“ (oder so genannten) Staaten erst recht nicht.

    Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass der Impuls zur Veränderung in den Köpfen der Menschen beginnen muss. Aber das ist leichter gesagt als verwirklicht. Während meiner 40jährigen Tätigkeit an der Schulfront habe ich zunehmend feststellen müssen, dass viele Jugendliche weniger an dem interessiert waren, was ich vermitteln wollte, nämlich die Fähigkeit, die herrschenden Verhältnisse kritisch zu hinterfragen, sondern dass sie sich ablenken ließen vom allgegenwärtigen Konsum, von ihren neuesten I-Phones und ihrer Markenkleidung, und sich gedanklich höchstens noch mit ihrem zukünftigen Job befassten, den sie durch möglichst angepasstes Verhalten erringen zu können glaubten. Solange diese oberflächlichen Bedürfnisse einigermaßen befriedigt sind, ist es schwer, Menschen für einen groß angelegten gesellschaftlichen Wandel zu mobilisieren.

  16. zu @ Klaus Philipp Mertens
    Selbst wenn sie zu 100% recht hätten wären ihre Ausführungen sicher ein bisschen zu theoretisch um in einem Wahl oder Parteiprogram eine Grundlage für einen Wahlsieg zu legen. Das der Kapitalismus das nicht zu bändigende Problem ist wird als Programaussage nicht ganz reichen.

  17. @Klaus-Philipp Mertens
    “ Das logische Denken, das verstehende Lesen, das ausdrucksfähige Sprechen und Schreiben werden Einstiegsqualifikationen für alle Berufe sein müssen.“ Da liegen Sie ja voll auf der Linie der Industrie. Die beschwert sich auch darüber, dass die jungen Leute nicht mehr in der Lage sind, Briefe zu schreiben, die man rausschicken kann.

  18. Wenn ich den Beitrag von Herrn Mertens lese, fühle ich mich zurück versetzt in meine Studienzeit Mitte der 70er Jahre. Alle sind verblendet oder manipuliert, nur meine maoistischen Kommilitonen blickten durch und ich sollte doch dringend mal eine Kapitalschulung machen.
    Ich kann mir nicht vorstellen, dass man damit heute noch Wahlen gewinnen kann.
    Wenn ich Wahlen gewinnen will, muss ich herausfinden, wie der Wähler denkt und nicht behaupten, dass er falsch denke und das dies zu ändern sei. Man muss den Wähler nehmen wie er ist. Andere gibt es nicht.
    Was hatte die Linke früher anzubieten: den Achtstundentag, bezahlten Urlaub, «Samstags gehört Papi mir.», Bafög, Entspannungspolitik, Friedensnobelpreis etc.
    Heute geht es den meisten Menschen gut: zweimal im Jahr Urlaubsreise und alle fünf Jahre ein neues Auto.
    Was hat die Linke jetzt anzubieten: Erhöhung des Mindestlohns. Nicht das man etwas dagegen hat, aber Begeisterung löst es ja nicht aus, wenn der Friseur und der Bäcker teurer werden.
    Energiewende: Nicht unbedingt etwas dagegen, aber bitte keine Windturbine oder Stromleitung hinter unserem Haus und schon wieder eine Strompreiserhöhung löst auch keine Begeisterung aus.
    Was früher die Arbeiter waren, sitzt heute in der Industrie an den Schreibtischen. Man schimpft zwar auf den Chef, aber ein Grossteil identifiziert sich mit der Firma. Ich war immer überrascht über die «corporate identity» bei den Siemensianern, Anilinern und anderen. Man kann doch nicht Wahlerfolge bei Siemens-Mitarbeitern erzielen, wenn man die Firma verteufelt.

  19. @ Brigitte Ernst: Die so genannten sozialistischen Staaten werden keine Vorbilder sein können. Die Ignoranz eines Teils der Jugend ist erschreckend, ich erlebe sie bei meiner ehrenamtlichen Arbeit in einer Frankfurter Stadtbüchereifiliale. Doch ich habe auch junge Menschen kennengelernt, die sich nicht Mainstreams unterordnen wollen, die von anderen (zumeist aus kommerziellen Erwägungen) bestimmt werden. Auf diesen liegt meine Hoffnung. Und auf alten Männern wie mir, die sich längst kein X für ein U mehr vormachen lassen.

    @ hans: Es wird nicht ohne Theorie gehen. Für mich stellt sich eher die Frage, wer sie propagiert, wie sie von ihren Adressaten kritisch reflektiert werden kann, um schließlich Stück für Stück umgesetzt zu werden. Dieses Problem war auch den Protestanten bewusst, als sie ein Gegenstück zum katholischen Klerus formulierten, der das Lehramt der Kirche verwaltete. Sie entschieden sich für das so genannte Priestertum aller Gläubigen. Auf Sozialistisch hieße das: Jeder Bürger der künftigen besseren Welt ist auch ihr Agitator und Propagandist (oder Botschafter, Verkünder, was sich ziviler anhört).

    Die herrschende Anpassung an die Verhältnisse kann unterbunden werden, das lehren mich meine persönlichen Erfahrungen aus dem Alltag. Ich widerspreche überall, wo ich sie höre, dummen, weil gefährlichen Ansichten. Und stelle fest, dass die Vertreter des „gesunden Volksempfindens“ feige und obrigkeitshörig sind. Bereits ein leise gesprochener Satz, der sich aber wie ein Kommando anhört, bringt sie in die Defensive. Man muss den herrschenden Verhältnissen ihre eigene Melodie vorspielen. Allerdings sind die Texte zu ändern.

  20. @ hans

    Es gab einmal eine Zeit, die man als Soziale Marktwirtschaft bezeichnen kann. Es war nicht alles gerecht und freiheitlich. Aber es gab eine gewisse Balance zwischen Markt, Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Verdienst, Wohnen, Soziale Sicherung und letztem Auffang. Man konnte durchaus von solidarischen Strukturen in der Gesellschaft sprechen. Vieles konnte auch rechtlich erstritten werden usw. usw.

    Wenn es heißt, die Marktwirtschaft sollte weiterentwickelt werden, dann wären die Strukturen der 50er, 60er, 70er Jahre zwar nicht wiederholbar im Kontext der rasanten Globalisierung, aber eines ist klar: Wir waren schon mal weiter. Der Kapitalismus ist – auch wenn ich mich hier wiederhole – zum vielfressenden Raubtier geworden.

    Die Aufgabenverteilung einer gedachten zukünftigen „Linken“ ist erst einmal gar nicht so verkehrt. Ich weiß zur Zeit jedenfalls nicht, ob die Grünen noch in dieses Zukunfts-Spektrum passen. Die Linke selbst hat programmatisch mehr drauf, als sich ausschließlich um den „kleinen Mann“ zu kümmern. Aber 8-10Prozent sind zu wenig.

    Und bei der SPD – siehe Scholz contra Schulz – ist die Hausmacht noch völlig offen. Gabriel hat sich zurückgezogen. Schwesig wird (linker Flügel?) überschätzt und Nahles wird zwar als eine Option der weiblichen Zukunft der SPD
    gesehen. Ich sehe das nicht so. Ich suche dort nach Figuren und dann fallen mir keine mehr ein, die zukunftsgestaltend bedeutsam sein könnten. Oder?

  21. @ all

    Noch einmal: Bitte bleiben Sie nicht beim Lamento über den Zustand der gegenwärtigen deutschen Linken stehen! Der Gastbeitrag von Antje Vollmer formuliert Ziele, die darüber hinaus gehen. Thema dieses Threads ist eine zukünftige Perspektive. Danke!

  22. Progressive Kräfte gibt es im globalen Maßstab inzwischen zuhauf, die tagtäglich und rund um die Uhr in den vielfältigsten Zusammenhängen tote Arbeit in lebendige verwandeln. Die Schubumkehr und der damit gesellschaftlich einhergehende Prozess der Erneuerung vollzieht sich insofern unabhängig von der Frage einer etwaigen Kooperation der deutschen Linken längst. Mindestens genauso oft eröffnen sich im Zuge solch eines zukunftsträchtigen Handelns mannigfach Perspektiven für jeden Einzelnen. Das gegenwärtig zu beobachtende Phänomen, dass Teile nicht allein der hiesigen Bevölkerung an dadurch seit Jahrzehnten überkommenen Lebens- und Produktionsweisen geradezu eisern festhalten, führte Horkheimer bereits Anfang der 1930er Jahre in einem vor der Kant-Gesellschaft in Frankfurt/Main gehaltenen Vortrag auf eine das Bewusstsein verfälschende Triebmotorik zurück. Ist der Einzelne demzufolge das beliebige Objekt der sadistischen Projektionen Dritter, stellt sich zuvörderst die Frage, wodurch die besagte Objektstellung überwunden werden kann, die neben dem ökonomischen Erfolg auch sämtliche Innovationen auf gleich welchem Gebiet erheblich restringiert. Im Alltag ist somit bloß ein politischer Entscheid erforderlich, der darin besteht, sich schleunigst von Praktiken zu lösen, die lediglich dazu dienen, die in Rede stehenden Allmachtsphantasien zu befördern.

  23. Die klugen Ausführungen von Stefan Engel zum wissenschaftlichen Begriff der Diktatur des Proletariats (Marx und Engels) und der entgegenstehenden Diktatur der Kapitalistenklasse sowie die dann damit einhergehende Scheidelinie zwischen dem revolutionären und dem reformerischen Flügel der Linken könnten noch durch nachfolgende Anmerkungen ergänzt werden: Wirtschafts- und gesellschaftshistorisch ist der Kapitalismusbegriff insofern ein „Popanz“, als mit diesem polemisch aufgeladenen Begriff eine nur vermeintliche Bedeutung oder auch eine Art von einschüchternder Wichtigkeit verbunden ist. Man stellt eine Schreckgestalt oder Vogelscheuche auf und benutzt diesen Begriff, ohne ihn auf inhaltliche Stringenz wirklich abzuklopfen.
    In Wirklichkeit geht es aber doch um das Phänomen der modernen Geldwirtschaft (Georg Simmel), die nicht in irgendeiner Weise überwunden werden kann, ohne dass modernes Wirtschaften unmöglich wird. Solange die sogenannte „revolutionäre“ Linke an einem verdinglichten Kapitalismusbegriff hängt, kann es mit der reformistischen Linken, also der SPD, keine inhaltliche Zusammenarbeit geben. Die Spaltung der Linken in umstürzlerisch und reformistisch ist letztlich ein unüberwindbarer Graben.
    Im Übrigen sind noch weitere unüberwindbare Gräben zwischen der SPD und der Partei Die Linke zu benennen, als da sind: die Zugehörigkeit zur Nato, die Zugehörigkeit zur EU und zum Euro-Währungsraum, die zentrale Bedeutung des Privateigentums und die überragende Bedeutung individueller Selbstverantwortung des einzelnen Menschen und Bürgers in einer modernen Gesellschaft.
    Es wäre längst an der Zeit, dass eine Programmkommission der SPD die unveräußerlichen Positionen der Sozialdemokratie den illusorischen Polit-Thesen der Linkspartei gegenüberstellt! Auch die Weber’sche Theorie von der „protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus“ belegt, dass die rein materialistische Kapitalakkumulations-These von Marx und Engels nicht den geschichtlichen Gegebenheiten stand hält.

  24. Jaja – Herr Schmidt! Gegenüberstellt – abgrenzt – illusorisch! Mit solchen Begriffen läuft ja die Debatte seit langem! Bei der SPD wird nach wie vor die Linke mit dem SED-Regime in Verbindung gebracht, aus Wut und Frust über Lafontaines Abgang damals weiter nur mühsam Zusammenarbeit möglich und im bundesrepublikanischen Zusammenhang auf die Ablehnung von Krieg und Waffenexport verwiesen um zu begründen, dass Zusammenarbeit unmöglich ist. Da wären doch mal Ansatzpunkte. Die Sozialdemokratie hat sich dem Abgott Neoliberalismus seit Schröder hemmungslos in die Arme geworfen und wird von dieser Weltsicht in Richtung Alternativenentwicklung gebremst.
    Es gäbe doch jede Menge wunderbarer Ansatzpunkte: die Linken könnten sich gemeinsam dafür einsetzen, dass der Euro nicht die Südländer über die Austeritätsplitik (Merkel, Schäuble, Lindner, Seehofer etc etc) platt macht. Sie könnte massiv (Selbst-)kritik an der unsinnigen weil undifferenzierten Schuldenbremse üben (Selbsterkennnis wäre ein Erster Schritt zur Besserung), sie könnte offensiv das Thema bedingungsloses Grundeinkommen diskutieren angesichts der absehbaren Folgen der digitalisierung; sie könnte endlich aufhören, andere Nationen als Absatzmärkte und Rohstofflieferanten zu betrachten („Unsere Interessen werden auch am Hindukusch verteidigt!“); sie könnte gemeinsam mit Linken und Grünen eine wirklich grundsätzliche Kritik am Hartz-IV-System führen usw. usw.

  25. Ein kurzen Dankeschön, Frau Flach für Ihren Einsatz! Kann mich gerade nicht im Einzelnen einmischen. Weinstein hält mich auf Trapp.
    Ich teile grundsätzlich ihre Überlegungen.
    Sigurd Schmidt und die Linken, das bleibt ein Dorn im linken Auge des Betrachters. Hauptsache die Wirtschaft brummt!

  26. Habe gerade die Leserbriefe vom 06.11 gelesen -ebenfalls zur SPD-Politik, insbesondere die scharfe Kritik an Olaf Scholz von den Herren Ewald-Wehner und Helt. Die se Diskussion läuft oder lief unter Rosneft weg Schröders Aufsichtsratsposten, an den er über seinen Freund Putin gekommen ist.
    Ja -auch bin Hamburgerin und bekomme mit, dass es hier jede Menge stockneolibersl eingestellte SPD -Mitglieder gibt. Aus Zorn über von seinen abweichenden Meinungen gibt Altbürgermeiste Dohnany offen zu, bei der Bundestagswahl nicht die SPD gewählt hat. Und Olaf Scholz hat es in all den Jahren nicht für nötig befunden, irgendetwas zu tun, um in den Jobcentern das Gewicht von Fördern und Sanktionieren wenigstens mehr auf qualifiziertes Fördern zu verschieben! wenn man außerdem hört und sieht, wie er herablassend und abwertend mit der Linken umgeht – anlässlich der G20-Demonstrationen und den Folgen in der Bürgerschaft – dann bin ich doch sehr wenig hoffnungsvoll was Antje Vollmers Ratschläge angeht.

  27. @ Irmgard Flach

    Ja, und dann dieser Olaf Scholz, dieser Top-Krisenmanager (G20),der sich jetzt sogar an Martin Schulz abarbeiten muss. Scholz und Dohnany – ach!
    Vielleicht braucht es dann doch noch etwas Visionäres, wie von Antje Vollmer …

  28. Es kann natürlich sein, nein es ist sehr wahrscheinlich, das sich die Linke nicht auf gemeinsame Ziele einigen kann. Der kleinste gemeinsame Nenner sollte aber sein dass das Kapital so viel zum Schuldendienst beiträgt das davon die Zinsen gezahlt werden können. Das Gespräch mit Michael Hudson gestern in der FR war mir leider auch zu vergangenheitsorientiert und für die Zukunft zu pessimistisch. Nach meiner Meinung muss man nicht die Schulden sondern die Zinsen im Griff behalten. Das wäre ein ganz wichtiger Baustein für Linke Politik. Wobei dabei wohl offensichtlich wird wie sinnvoll für den kleinen Mann die oft kritisierte schwarze 0 ist.

  29. Wenn ich das Forum zum Thema Erneuerung der SPD überfliege, fallen mir Arbeitskreise bzw. Geschichtsseminare ein. Wahlen kann man damit nicht gewinnen und die breite Arbeiterschicht, sofern es die im klassischen Sinne noch geben sollte, erst recht nicht. Meine Sozialisation fand in den 50er und 60er Jahren in der Frankfurter Metallindustrie statt und bin nun über 60 Jahre Metaller. Damals sah auch die Arbeitswelt anders aus. Viele Jahre war ich Betriebsrat in einem Betrieb, der dann abgewickelt wurde – und machte bei Streiks um die 35-stundenwoche mit. Viele dieser Firmen gibt es in Frankfurt am Main praktisch nicht mehr, wie Hartmann & Braun, AEG, VDO, Adlerwerke, VDM usw. Ich weiß, von was ich spreche. Von einigen Beiträgen in diesem Forum habe ich den Eindruck, dass ihre Verfasser nie in einem Produktionbetrieb gearbeitet haben und daher die Denkstrukturen der Beschäftigten nicht kennen. Gute Tarifverträge und bezahlbarer Wohnraum interessieren eben mehr als geschichtliche Abläufe der Arbeiterbewegung vor 100 Jahren. Der Aufruf Antje Vollmers zur Zusammenarbeit der Linken im künftigen Bundestag ist zu begrüßen, aber naiv. Mir fehlt der Glaube, so lange man immer noch Schröders Agenda wie eine Mandra vor sich herträgt und sich selbst nicht einig ist. Von der SPD verlangt Frau Wagenknecht, sie solle erst mal wieder sozialdemokratisch werden. Von vielen Beiträgen habe ich den Eindruck, sie bewegten sich noch in einem nationalen Wirtschaftsraum, in dem Regierungen vielleicht mehr Einflussmöglichkeiten hatten.
    Die Linke war sich halt noch nie einig. Das ist die Crux.

  30. Moin zusammen,

    ich habe den Blog nicht gelesen aus Zeitmangel und antworte ausschließlich auf den in der FR am Samstag abgedruckten Kommentar von Herrn Flessner. Aus Zeitmangel werde ich mich anschließend auch nicht weiter beteiligen (es geht auf die sea-watch 3).

    Herr Flessner schreibt:

    „Wenn ich Wahlen gewinnen will, muss ich herausfinden, wie der Wähler denkt und nicht behaupten, dass er falsch denke und das dies zu ändern sei. Man muss den Wähler nehmen wie er ist. Andere gibt es nicht.“

    Wenn ich eine bestimmte Politik für richtig halte, muß ich für die Inhalte dieser Politik kämpfen. Es muß mir egal sein, ob ich dafür gewählt werde oder nicht.

    Ich möchte eine SPD (als eine der linken Parteien), die sozialdemokratisch denkt und handelt. Diese linken Parteien müssen dafür sorgen, daß Geld umverteilt wird von den obersten 1% (vielleicht sogar nur von den obersten 0,1%) zum Rest. Wenn diese Parteien weiterhin von Arm zu Reich umverteilen, sind sie programatisch weder links noch sozialdemokratisch. Und dann spielt es für das reale Leben keine Bedeutung, ob sie gewählt werden oder nicht.

    Ein anderes Beispiel, was ich schon öfter verwendet habe, zeigt die Absurdität des Flessnerschen Argumentes (es geht mir nicht um die Person Hennig Flessner, sondern um sein Argument): Gäbe es eine Vegetarier-Partei, der einziges Ziel es ist, in den Bundestag zu kommen, so könnte diese Partei am besten die Omnivoren beziercen, weil die Mehrheit der Wahlbevölkerung Tiere ißt. Wenn eine solche Partei dagegen das Ziel hat, Vegetarismus zu pushen, dann muß sie pfeifen auf die jetzigen Mehrheitsverhältnisse und für ihr Ziel kämpfen.

    (Ich bin übrigens seit 1990 Vegetarier, ist mir in diesem Zusammenhang wichtig zu erwähnen.)

    Und links ist solidarisch oder eben nicht links.

  31. @Ralf-Michael Lübbers
    „Wenn ich eine bestimmte Politik für richtig halte, muß ich für die Inhalte dieser Politik kämpfen. Es muß mir egal sein, ob ich dafür gewählt werde oder nicht.“
    Gegen diesen Standpunkt ist nichts einzuwenden.
    Aber man könnte auch den Standpunkt vertreten, dass in einer Demokratie die Politiker machen sollen, was der Wähler will und nicht was er für richtig hält.
    Wenn z. B. die Mehrheit der Bevölkerung für ein Tempolimit ist, dann könnte sich doch ein Politiker dafür einsetzen, auch wenn er persönlich dagegen ist.
    Ich esse wenig Fleisch, aber Grünkohl ohne Mettwurst, Kassler und Pinkel, nein danke!

  32. @ Herrn Lübbers: Sie werden es nicht mehr lesen – aber das haben Sie gut gesagt! Das ist es ja, was derzeit den Grünen nicht abgenommen wird: dass sie ggf nein sagen würden, wenn sie sich allzu weit von ihren wichtigsten Anliegen verabschieden würden, nur um mitregieren zu können. Und genau das haben sie in der Schröderschen Bastakoalition mit sich machen lassen.
    Jetzt möchte die SPd gerne Hartz IV und Co ( nicht zu vergessen die Eichelsche Steuerreform des Ausblutens der Kommunen und Reduzierung der
    Spitzensteursätze) in der Versenkung bzw im Orkus der Geschichte verschwinden lassen.
    @ Herrn Ullrich: Sie sagen, manche tun so, als bewegten wir uns noch in einem nationalen Gestaltungsraum. Ja -der Verdacht kommt ja auf, wenn man sich die Macht und den Einfluss anschaut , den gerade Deutschland hat bzw auch ausspielt; man denke an Griechenland, vorher an die Ausgestaltung des Euro und der EZB.

  33. @ hans

    Zum Gespräch mit Michael Hudson:

    Ich bin kein Wirtschaftsexperte, aber der Schuldenerlass ist für ein überschuldetes Land (großes Beispiel Griechenland) die vernünftigste Lösung, statt ein Volk mit neuen „Rettungspaketen“ noch tiefer ins Elend zu stürzen.
    Warum soll der pessimistische Blick auf die Zukunft bei dererlei rigider Wirtschaftspolitik
    im Stile Schäubles & Co. rückwärtsgewandt sein?
    Insofern ist ein wichtiger Baustein Linker Politik die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen der Oligarchie des Establishments und staatlicher Regulation, die verarmten und verschuldeten Menschen vielleicht wieder eine Lebensperspektive geben kann.

    Insofern ist der Ökonom Michael Hudson für mich ein Linker.

  34. @ Josef Ullrich

    Ganz so naiv ist der Impuls und der Aufruf von Antje Vollmer gewiss nicht. Aber sicher ist die Zeit nach der Jamaika-Geburtstunde eine entscheidende politische Phase in Deutschland, ob Linke und Sozialdemokraten eine Handlungsebene finden. Auf beiden Seiten der Parteien ist nicht gerade Aufbruchstimmung und große Einigkeit unter den Macherinnen und Machern.

    Sie haben durchaus recht mit den „Denkstrukturen der Beschäftigten“. Auch da ist die Kluft zwischen Politik, Parteieninteressen und den Interessen und Bedürfnissen von „Arbeiterinnen“ und „Arbeiter“ ziemlich groß geworden. Kein Wunder bei der Zusammensetzung des Parlaments in Zeiten der Herrschaft des Marktes und der Elitenwirtschaft.

    Der/die Beschäftigte heute hat im Wesentlichen drei Bedürfnisse: Anständige Entlohnung, bezahlbaren Wohnraum und ein planbares Familienleben.
    Die heilige Kuh, das Auto, habe ich hier mal weggelassen.

  35. Nimmt man den Leserbrief von Frau Kasubek als Gesellschaftsbeschreibung Deutschlands, muss man annehmen, dass es in diesem Land keine gesellschaftlichen Probleme gibt. Es ist ein nahezu paradiesischer Zustand. Niemand braucht mehr Angst zu haben vor Verlust des Arbeitsplatzes, Einkommensreduzierung, Verlust der Wohnung. Es ist doch alles wunderbar geregelt durch die Sozialgesetzgebung des Staates.
    Nimmt man allerdings die Realität in diesem Lande zur Kenntnis, weiß man, das die Angst vor Arbeitsplatzverlust existiert, dass der Kündigungsschutz leicht umgangen werden kann durch organisatorische Veränderungen im Unternehmenskomplex bzw. Eigentumswechsel, älteren Arbeitnehmer schnell in die existenzielle Grundsicherung fallen, bei weitgehendem Aufzehren des Ersparten usw.. Prägnant sprach es einst Professor Sinn aus, in dem er den Wert der Arbeit in einer kapitalistischen Gesellschaft definierte. Steigt quantitativ das Angebot einer spezifischen Arbeit, sinkt ihr Preis unabhängig von ihrer qualitativen Ausführung. Alleine die Wahrnehmung dessen, führt zu Angst, was besonders in gering qualifizierten Bereichen, aber auch zunehmend in qualifizierten Arbeitsbereichen Realität ist.
    Der Kampf der jeweils Regierenden gegen die Gewerkschaften, wesentlich ab den neunziger Jahren, was diese dann auch erheblich schwächte, hat zu niedrigen Tariflöhnen geführt bzw. weitgehend zu nicht Tarif gebundenen Arbeitnehmern. So hatte man in den neunziger Jahren stets eine Lohnquote über 70 v.H., im Jahre 2006 war sie schon auf 64,6 v.H. gesunken; inzwischen ist sie bei 68 v.H.. Viele Arbeitnehmer erhalten nur Teilzeitbeschäftigungen, ganz wesentlich im Einzelhandel und müssen mehrere Tätigkeiten zur Existenzsicherung annehmen.
    Es ist schon erschreckend zu lesen, dass „ein Hartz IV Empfänger wie ein König lebt im Vergleich zu den hungernden und obdachlosen Armen der Entwicklungsländer.“ Armut kann man nicht von der jeweiligen Gesellschaft trennen. Sagen sie einem Zehnjährigen er könne nicht an der Klassenfahrt teilnehmen, da seine Eltern nicht das Geld dazu aufbringen können. Auf jeden Fall müssten sich seine Eltern als Hartz IV Empfänger outen und ihre finanziellen Verhältnisse vollkommen offenlegen, um das sogenannte Bildungspaket in Anspruch zu nehmen bzw. vom Förderverein der Schule einen Zuschuss zu erhalten. Hartz IV Empfänger können nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen; sie können nicht ins Kino bzw. Theater gehen; sie können keinen Urlaub machen; sie können nicht mit besser situierten Freunden Essen gehen; sie leben ständig im Zustand des ausgeschlossen sein und müssen sich dazu häufig auch noch rechtfertigen.
    Es ist völlig unzulässig Armut gesellschaftsübergreifend zu betrachten. Wenn alle unzureichend versorgt sind, wie dies in sogenannten Entwicklungsländern häufig der Fall ist, sind alle arm, aber gemeinschaftlich arm und keiner ist auf Grund der Armut in der Gemeinschaft ausgesondert und ein spezifischer Teil der Gemeinschaft.
    Nun geht Frau Kasubek auch noch auf den Frieden in Europa ein, den sie als ungebrochen nach Kriegsende sieht. Dies sollte sie einmal ehemaligen Angehörigen des jugoslawischen Staatenverbundes sagen, die von NATO Verbänden bombardiert wurden. Wie steht es mit der Beteiligung europäischer
    Staaten an Kriegen im Irak, Libyen, Syrien, Afghanistan? Hat sich Frau Kasubek mal Gedanken darüber gemacht, was europäische Staaten dazu geführt hat, in diesen Staaten Krieg zu führen?
    Der gesamte Leserbrief ist eine gesellschaftliche Betrachtung, die auf Ignoranz des gesellschaftlichen Alltags gründet und das gesellschaftliche Elend völlig ausblendet.
    Frau Kasubek, es geht nicht um höhere und erweiterte Transferleistungen; es geht um eine gerechtere Beteiligung der Menschen am erwirtschafteten Ertrag.
    Wenn Vorstandsvorsitzende das 300 fache verdienen im Vergleich zu einer unteren Lohngruppe und dies kein Einzelfall ist und sich in Hinblick auf die unteren Hierarchien ähnliches beobachten lässt, brauchte man nur dort anzusetzen; die Zunahme an Milliardären und Millionären in Deutschland würde abnehmen (wie furchtbar!), das allgemeine Einkommensniveau würde steigen, Hartz IV Aufstocker gäbe es keine mehr; wir hätten gesellschaftlich wieder ähnliche Verhältnisse wie in den sechziger/siebziger Jahren, weniger Exportüberschüsse, eine bessere Binnennachfrage und andere Länder müssten sich nicht verschulden, um deutsche Produkte zu kaufen. Wir hätten kein Paradies, nur eine zufriedenere Gesellschaftlich, weniger Armut, weniger Angst.

  36. Als ehemaliger Betriebsangehöriger der AEG-Telefunken AG, der dort sowohl eine Ausbildung zum Mechaniker als auch eine Ausbildung zum Industriekaufmann mit weit überdurchschnittlichen Leistungen absolvierte, muss ich mir die Vorhaltungen von Josef Ullrich hier im Blog nicht bieten lassen, angeblich nicht ausreichend betrieblich verankert zu sein. Insofern meine Beiträge stets Antworten auf Frage suchen, weshalb ein ehedem in den 1950er und 1960er Jahren immense Weltgeltung genießender Konzern innerhalb kürzester Zeit unterging, obwohl das Unternehmen bis zuletzt zu herausragenden technischen Innovationen wie beispielsweise die Entwicklung des ersten Silizium-Mikroprozessors oder die lasergestützte Nachrichtenübertragung per Glasfaserkabel fähig war, ist es umso irritierender, dass vermeintlich fortschrittliche Industriepolitiker sich angesichts dessen völlig gleichgültig zeigen. Ohne die Gründe für das Entschwinden des Konzerns zu kennen, ist aber jeder Versuch einer etwaigen Zusammenarbeit der deutschen Linken zum Scheitern verurteilt. Es führt daher kein Weg daran vorbei, die Tiefen auszuloten, um zu den gesellschaftlich universalen Grundlagen vorzustoßen, die den Bestand nicht allein von Telefunken gewährleistet hätten.

  37. @Ralf Rath
    «Ohne die Gründe für das Entschwinden des Konzerns zu kennen, ist aber jeder Versuch einer etwaigen Zusammenarbeit der deutschen Linken zum Scheitern verurteilt.“
    Ein ehemaliger Kollege, der auch bei der AEG war, erklärte den Untergang so: «Ein Paradies für Ingenieure, aber keine Ahnung vom Geschäft.» Damit wäre das geklärt und die Vereinigung der Linken kann in Angriff genommen werden.

  38. @ Henning Flessner
    Wenn der Nobelpreisträger Werner Heisenberg dem Forschungsinstitut (FI) von Telefunken im Jahr 1965 in Ulm/Do. seine Aufwartung macht, finde ich es nicht angebracht, davon zu sprechen, dass der Göttinger Physiker bloß ein „Paradies für Ingenieure“ besuchte, aber ansonsten das Unternehmen „keine Ahnung vom Geschäft“ gehabt hätte. Genauso wie die physikalische Welt zu weiten Teilen unbestimmt ist, worauf dessen Unschärferelation fußt, ist vorrangig die soziale Welt der Arbeit noch immer größtenteils unerforscht. Primo Levi schreibt dazu: „Dieses grenzenlose Gebiet der Schufterei, des boulot, des job, mit einem Wort, der täglichen Arbeit, ist weniger erforscht als die Antarktis, und infolge einer traurigen und zugleich mysteriösen Erscheinung reden ausgerechnet diejenigen am meisten und lautesten davon, die es am wenigsten durchmessen haben“. Die Einlassung Ihres ehemaligen Kollegen, der bei der AEG war, kann daher nicht der Maßstab sein, weil zumindest arbeitswissenschaftliche, wenn nicht industriesoziologische Untersuchungen vonnöten sind, um Aufschluss darüber zu gewinnen, woran eine hochleistungsfähige Arbeitsorganisation, wie sie die Telefunken-Belegschaft einst praktizierte, scheiterte.

  39. Ich will ja nicht beckmesserisch sein und auch nicht vom Thema abschweifen. Mir sei allerdings der Hinweis gestattet, dass die Möglichkeit zum Austausch hier im Blog nicht zuletzt zur Zukunft der deutschen Linken wesentlich auf einem Telefunken-Patent beruht. Insofern ist es nicht allzu abwegig, zu erörtern, auf welchen technologischen Vorleistungen, die keineswegs eine Selbstverständlichkeit sind, solch eine heute über das Internet öffentlich geführte Debatte aufbaut und die zu berücksichtigen sind, falls man sich nicht wie der junge Karl Marx in romantisch-ästhetischen Reminiszenzen und Anachronismen einer vor-industriellen Zeit verlieren will, sondern den Anspruch erhebt, eine neue Lebensform aufgrund neuer Möglichkeiten zu entwerfen.

  40. Genau, und als nächstes suchen wir bei Adam und Eva nach den Wurzeln der Linken. Also: Ihr Hinweis ist erlaubt und angekommen, und jetzt möchte ich Sie einladen, ZUKUNFTSORIENTIERT zu diskutieren.

  41. Mit „Wann, wenn nicht jetzt“ verlangt Antje Vollmer von der parlamentarischen Linken, sich der Gemeinsamkeiten zu besinnen. Letztlich sollte die Forderung schon deshalb verständlich sein, weil alle drei Parteien sozialdemokratische Positionen vertreten.
    Die Diskussion ist in eine über die kapitalistische Produktionsweise umgewandelt worden. Fürsprecher der herrschenden Ökonomie bemühen Argumente, Versatzstücke und Zeitzeugen, um ihren Kapitalismus zu verteidigen. Dabei wird so getan, als habe Georg Simmel („Philosophie des Geldes“) eine antimarxistische Schrift verfasst. Max Weber – ebenfalls als Kronzeuge bemüht – sprich von einer Wirtschaftsordnung (er benennt sie ausdrücklich „Kapitalismus“) „die mit überwältigendem Zwange bestimmt“ werde, „bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffes verglüht“ sei. Eine treffende und sehr zeitgemäße Analyse, sofort anschlussfähig an die Kritik der kapitalistischen Naturverhältnisse (Karathanassis) oder an den Begriff „Kolonisierung der Lebenswelt“ (Habermas).
    Wir wollen auch nicht vergessen, dass – im Gegensatz zu den heutigen Apologeten des Kapitalismus – Max Weber wie Adam Smith, Ricardo und Marx wussten, dass der Kapitalismus endlich ist (was nicht identisch ist mit „Sozialismus“ über der Exit-Tür. Es kann auch barbarisch mit Heulen und Zähneklappern zugehen). Frederike Habermann weist darauf hin, dass man sich eher ein Ende der Welt als das des Kapitalismus vorzustellen vermag.
    Urkomisch ist es, wenn die Lukács’sche Verdinglichungskritik gegen die Kapitalismuskritiker gewendet werden soll. Kapitalismus ist ein Herrschaftsverhältnis, in dem menschliche Beziehungen hinter dem Rücken der Beteiligten in Warenverhältnisse verwandelt werden. Das meint eine kritische Theorie mit Verdinglichung.
    Es wäre schön, wenn die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokraten in der SPD ein kleines Stück von dieser Kritik begreift. Noch besteht Hoffnung.

  42. @ Wilfried Jannack

    Ich möchte Ihnen im Großen und Ganzen zustimmen, auch im Zurechtrücken der anderen Aussagen hier zur Kapitalismuskritik von Marx, Weber, Simmel u.a.
    Im Laufe der Jahre, da der Kapitalismus in den heutigen Auswüchsen schier unüberwindlich erscheint, täte uns die Kritische Theorie (Adorno, Horkheimer u.a.) gut. Aber das würde wohl bedeuten, dass man sich schließlich eingestehen müsste, Opfer seiner eigenen Segnungen des Systems zu sein.

    An dieser Stelle empfehle ich die Streitschrift von Patrick Spät: DIE FREIHEIT NEHM ICH DIR, 11 Kehrseiten des Kapitalismus (Rotbuchverlag 2016): „Entweder stirbt der Kapitalismus oder wir.“ (Spät)

Kommentarfunktion geschlossen