Ein pessimistischer Ausblick
Wussten Sie eigentlich, dass in knapp zwei Jahren Weltuntergang ist? Wussten Sie nicht? Dann wird es aber Zeit.
Kleiner Prolog
Weltuntergänge bzw. die Furcht davor hat es zu allen Zeiten gegeben. Verschiedene Autoren haben es verstanden, virtuos mit der Lust der Leser/Zuschauer an einem solchen Szenario zu spielen. Persönlich erinnere ich mich noch gut an den tiefen Eindruck, den der Film „The Day After“ bei mir damals hinterließ. Neuere Szenarien wie „2012“ von Roland Emmerich, obwohl mit brillanten Tricks gespickt, ließen mich dagegen kalt. Emmerich hielt sich zudem nicht an die „Fakten“: Er verlegt den Weltuntergang mal eben in den Sommer, während er in Wirklichkeit am 21.12.2012 stattfinden wird.
Wird er? Natürlich nicht. Richtig ist, dass der 21.12.2012 der Tag ist, an dem die „Lange Zählung“ des Maya-Kalenders zum ersten Mal nach über 5000 Jahren zum Ausgangswert zurückkehrt. Die Details dieses Kalenders, der hochkompliziert und nur einer von mehreren Kalendersystemen ist, welche die Maya hatten, erspare ich Ihnen. Nur so viel: Diese „lange Zählung“ der Maya begann vermutlich an dem Tag, der nach unserer Zeitrechnung der 11.8.3114 v.C. war, und sie endet am 21.12.2012 n.C. Damit ist einerseits ein Endpunkt markiert, der bei Esoterikern und Apokalyptikern zu – bildlich gesprochen – Gebärmuttervorfällen führt. Polsprünge, Weltraumbeben, Asteroiden – es gibt nichts, was die Erde nicht treffen könnte. Googeln Sie mal einfach das Datum 21.12.2012. Andererseits ist das Datum aber auch ein Ausgangspunkt. Die Maya jedenfalls rechneten über diesen Tag hinaus. Also wird es nix mit dem Weltuntergang.
Ich komme darauf, weil gerade der Endzeitthriller „2012“ von Brian d’Amato auf meinem Nachttisch liegt. Die wahnwitzige Geschichte: Ein Autist mit Inselbegabung reist durch die Zeit in den Körper eines Hüftballspielers der Maya (der sich gerade für den Fürsten der Stadt Ix opfern soll), um das „Opferspiel“ der Maya zu Ende zu spielen, mit dem sich die Zukunft prognostizieren lässt; damit lässt sich herausfinden, was 2012 geschehen wird. Nette Science Fiction, die mit genügend Fakten gewürzt ist, um meine Bereitschaft aufrechtzuerhalten, der Geschichte zu folgen. Auch wenn das Buch ein Verlegenheitskauf war, ein schneller Griff vor einer längeren Bahnreise (die dann witterungsbedingt noch länger wurde).
Die alte Bundesrepublik Deutschland ist untergegangen
Fiktive Katastrophen können gute Unterhaltung sein. Reale Katastrophen nicht. In der Film- und Romanwelt können Katastrophen durch heldenhaften Einsatz abgewendet werden. In der Realität gelingt das nicht, denn wir scheinen blind für diese Katastrophen zu sein. Während die Katastrophe bei Emmerich für jeden erkennbar mit einem gigantischen Knall kommt, entstehen die meisten unserer realen Katastrophen aus schleichenden Entwicklungen. Egal ob globale oder regionale, bereits stattfindende oder erst entstehende Katastrophen, egal ob Hunger, Ressourcenknappheit ohne angemessenes Umsteuern, das Wiederaufflammen religiös unterlegter Konflikte, scheiternde Staaten, Euro-Crash. Die Erdgesellschaft befindet sich in einem stetigen Niedergang. Selbst im deutschen Mikrokosmos scheitern wir häufig damit, die Katastrophen, die uns bereits erfasst haben, überhaupt nur zu erkennen. Höchstens erkennen wir die Symptome. Wir können nichts gegen den Niedergang tun. Vielleicht wollen wir das auch gar nicht?
Machen wir uns nichts vor: Die alte Bundesrepublik Deutschland mit ihrem breiten gesellschaftlichen Konsens ist untergegangen. Werte wie Solidarität zählen nichts mehr. Starke helfen nicht mehr den Schwachen. Das Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft wurde ersetzt durch das Bekenntnis zur Neuen Sozialen Marktwirtschaft, in der sich jeder selbst der nächste ist. Dieses neue Bekenntnis durchdrang die deutsche Gesellschaft als Folge der publizistischen und lobbyistischen Arbeit der im Jahr 2000 gegründeten „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ mit ihren Kontakten in höchste Politikerkreise hinein, aber die Wurzeln dieses Niedergangs sind früher zu suchen. Vielleicht kann man den Beginn dieses schleichenden Prozesses, was Deutschland betrifft, in den späten 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ansiedeln, als in der Kohl-Regierung – wohl maßgeblich beeindruckt von den „Erfolgen“ einer solchen Politik in den USA und Großbritannien – der Wille entstand, auch in Deutschland einen Niedriglohnsektor zu schaffen. Dies wiederum war, so scheint es, eine Folge des wachsenden ökonomischen Drucks durch die Globalisierung, die hierzulande Arbeitsplätze vernichtete, weil Unternehmen in Länder abwanderten, in denen Arbeitskraft, insbesondere gering qualifizierte, weitaus billiger zu haben war als in Deutschland. Also, so der Umkehrschluss, mussten die Löhne in Deutschland sinken, musste der Niedriglohnsektor ausgeweitet werden – statt das richtige zu tun und in den einzigen Rohstoff zu investieren, den wir haben: Bildung. Tatsächlich sind die Löhne über Jahre hinweg gesunken, und tatsächlich haben wir nun einen großen Niedriglohnsektor zwischen Prekariat und schrumpfender Mittelschicht. Leiharbeit und Aufstocker sind weit verbreitet. Alle deutschen Regierungen seit der Kohl-Regierung haben diese Politik verfolgt, die mit der Einführung der Hartz-Gesetze durch die Schröder-Regierung kulminierte. Mit weitreichenden Folgen. Das Ergebnis können wir heute besichtigen: den „Wutbürger“.
Der „Wutbürger“ ist eine Spiegel-Kreation und wurde zu Recht zum Wort des Jahres gekürt, denn sie ist dümmlich-verkürzend, in ihrer Eindimensionaltität aber wiederum zutreffend. Sie ist dümmlich-verkürzend, weil sie alle Proteste und Protestformen in einen Topf wirft: die konstruktiven, die alternative Lösungen präsentieren (S21), und die destruktiven, die sich lediglich im Anprangern gefallen (Sarrazin). Der Spiegel wollte nicht differenzieren und bringt so eine wachsende Lust an Undifferenziertheit in Deutschland auf den Punkt. Insofern ist diese Begriffskreation zutreffend – sie ist ein Schlagwort, das den Blick auf die Hintergründe zu verstellen versucht. Eines von vielen Schlagwörtern, die durch den Äther schwirren und an denen man sich abarbeitet, statt an die Dinge dahinter zu gehen. In diesem Sinne haben wir eine – von Schlagwörtern – gelenkte Demokratie.
Die Wut des „Wutbürgers“ richte sich gegen den Wandel, schreibt Dirk Kurbjuweit in seinem Spiegel-Essay, „und er mag nicht Weltbürger sein“. Er halte am Überkommenen fest. „Er fühlt sich ausgebeutet, ausgenutzt, bedroht. Ihn ärgert das andere, das Neue, Er will, dass alles so bleibt, wie es war.“ Also schreit er Sarrazin-Kritiker nieder. Contenance, eine bürgerliche Eigenschaft, sei ihm fremd geworden. „Der Wutbürger macht nicht mehr mit, er will nicht mehr. Er hat genug vom Streit der Parteien, von Entscheidungen, die er nicht versteht und die ihm unzureichend erklärt werden.“ Darum protestiert er gegen S21, indem er buhe, schreie und hasse.
Allein schon wegen ihrer provozierenden Eindimensionalität wird diese steile These Zustimmung finden, und es wird darüber gestritten werden, ob sie richtig oder falsch ist. Diese Diskussion ist hinderlich, weil sie sich am Plakativen abarbeitet. Gestritten werden müsste darüber, warum es „Wutbürger“ überhaupt gibt, denn nur hier findet sich der Zugang zum Verständnis der Katastrophe, die sich dahinter verbirgt. Dabei zeigt sich rasch das Offensichtliche: dass Kurbjuweit S21-Gegner und Sarrazin-Verteidiger nur dank unzulänglicher Verkürzung in einen Topf werfen kann. Die Lust an der Provokation ist seinem Text anzumerken.
Schnauze, sonst Auge!
Dass es S21-„Wutbürger“ gibt, ist, anders als Kurbjuweit meint, eines der wenigen Hoffnungszeichen dafür, dass sich in diesem Land etwas ändern könnte. Die da protestierten, kamen aus allen Altersgruppen – es stimmt eben nicht, dass der S21-„Wutbürger“ alt ist und vielleicht noch zehn, zwanzig Jahren zu leben hat, wie Kurbjuweit schreibt. Die Protestierer hatten ein Gegenkonzept für den Bahnhofsumbau anzubieten, von dem der Schlichter Heiner Geißler sagte, dass es Chancen gehabt hätte, wenn es rechtzeitig in den Entscheidungsprozess eingebracht worden wäre (oder hätte eingebracht werden können). Der Stuttgarter Protest war auch nicht hasserfüllt. Von Wut getragen war er allerdings sehr wohl. Diese Wut aber kannte Argumente. Nennen wir diese Bürger lieber kritische Bürger und reden nur noch von den anderen.
Den Sarrazin-„Wutbürgern“. Hier zeigt sich übrigens, dass Kurbjuweits Entdeckung des „Wutbürgers“ eigentlich ein alter Hut ist, denn jeder, der im Netz unterwegs ist, kennt den „Wutbürger“ schon lange. Er tobt sich seit Jahren auf einschlägigen Plattformen verbal aus, meistens anonym. Er kriegt viel hasserfülltes Futter vorgesetzt, dass er begeistert ebenso hasserfüllt kommentiert. Vielleicht handelt es sich bei ihnen um den einen Teil der „Wutbürgerschaft“, den jüngeren, online-affineren, während der andere, ältere Teil, den die Süddeutsche (laut Kurbjuweit) geortet hat, in der Münchner Reithalle Sarrazin-Kritiker niederbuht. Ihnen geht es um Anklage, um Rechtbehalten. Sie fühlen sich bestätigt in dem, was da einer für sie aufgeschrieben hat, und erklären ihn zu ihrem Messias: Endlich hat es einer ausgesprochen. Sie sind in Wahrheit uninformiert, denn nichts von dem, was Sarrazin schrieb, war neu, nicht einmal der Rückgriff auf den Sozialdarwinismus des 19. Jahrhunderts und die Rassentheorie. Dieser Protest ist hasserfüllt, und es liegt ihm nicht an Problemlösung. Seine Sprache ist einfach: Schnauze, sonst Auge!
Nach oben buckeln, nach unten treten
Dieser Protest hat ein Merkmal, das prägend für ihn ist: Er richtet sich nicht – im Gegensatz zum S21-Protest – gegen die Verantwortlichen, sondern gegen die Opfer. Die Verantwortlichen, das wären bezüglich der Integrationspolitik – und um die geht es ja letztlich – Massen von Politikerinnen und Politikern, die es über Jahrzehnte hinweg nicht geschafft haben, Zuwanderung und Integration so zu steuern, dass sie gesellschaftsverträglich stattfinden. Politikerinnen und Politiker, die hier und da mal ein Schräubchen gedreht haben, es aber an den entscheidenden Punkten an Entscheidungsfreude fehlen ließen. Einige sind bis heute nicht dazu bereit, Deutschland als Zuwanderungsland zu bezeichnen. Diese Politikerinnen und Politiker, das darf man unterstellen, wurden von eben jenen Menschen gewählt, die sich heute in sowohl stil- als auch substanzlosem Protest als „Wutbürger“ gerieren. Ihnen haben wir die Misere zu verdanken, nicht den Einwanderern, die Opfer sind – Opfer einer fehlleitenden Politik und jetzt Opfer des „Wutbürgers“.
Es ist immer leicht, auf Schwächere einzudreschen. Das unterscheidet den Protest des „Wutbürgers“von dem des S21-Kritikers: Seine Wut richtet sich gegen Schwächere. Es ist ein eigentümlicher Reflex, den man aus der Verhaltensforschung kennt: Nach oben buckeln, nach unten treten. Es ist ein Reflex aus Ratlosigkeit, eigentlich ein Hilfeschrei, so wütend dieser auch klingt. Dieser Reflex kennzeichnet das Kleinbürgerliche am „Wutbürger“, der sich nicht hinstellt und auf die wahren Verantwortlichen zeigt, sondern sich das nächstschwächere Opfer aussucht. Wie im Kindergarten.
Der „Wutbürger“ steht unter Druck. Das ist die eigentliche – und ebenfalls keineswegs neue – Erkenntnis, und das ist eine Katastrophe. Er steht so sehr unter Druck, dass er ein Ventil braucht. Sarrazin hat es geöffnet, und zischend und brodelnd entweicht ein wenig Dampf. Dieser Druck ist ebenfalls die Folge verfehlter Politik, aber hier geht es nicht nur um Integrationspolitik. Und wieder gibt es massenhaft Politikerinnen und Politiker, die diese Politik zu verantworten haben. Eine Politik, die dazu führte, dass sich niemand mehr sicher sein kann, im Alter halbwegs auskömmlich leben zu können, selbst wenn er ein Leben lang gearbeitet hat. Einer Politik, die Ängste erzeugt – vor Jobverlust, vor sozialem Abstieg, vor Abrutschen in Hartz IV, kurz: vor dem (unverschuldeten) Scheitern. Der „Wutbürger“ sieht sich Mächten ausgeliefert, die er nicht lokalisieren kann. Sie verzocken sein Erspartes (oder könnten das tun), sie schubsen ihn herum und drangsalieren ihn – oder zumindest nimmt er das so wahr. Die Regierungen der letzten Jahrzehnte haben nichts für ihn getan, so meint er, sie haben eigentlich gegen ihn gearbeitet, indem sie Druck aufgebaut haben, Druck und nochmals Druck. Es wird keine Rücksicht mehr auf ihn genommen. Also muss auch er keine Rücksicht mehr nehmen. Die von der Politik so gern umworbene politische Mitte zerbröckelt unter diesem Druck. Und nicht nur sie.
Der soziale Frieden ist dahin
„Versöhnen statt spalten“ das war der Leitspruch des früheren Bundespräsidenten Johannes Rau. Man muss kein Christ sein, um den Wert dieses Mottos für eine mögliche Debattenkultur zu erkennen. Doch dem „Wutbürger“ geht es nicht ums Debattieren. Dabei könnte sich ja eventuell herausstellen, dass die Dinge etwas komplizierter sind, als er sie sieht. Er hat die Probleme klar erkannt, und er beharrt darauf, dass er damit Recht hat. Er ist sich selbst der nächste. Der Nächste neben ihm ist ihm gleichgültig. Es geht dem „Wutbürger“ nicht darum, Probleme zu lösen, denn er braucht diese Probleme als Projektionsfläche seiner Wut. Ihm ist nicht bewusst, dass die Gründe seiner Wut andere sind als die Probleme, gegen die er sich eigentlich wendet.
Der soziale Frieden in unserem Land ist dahin. Das ist die eigentliche Katastrophe. Eine Katastrophe, die sich über 25 Jahre hinweg aufgebaut hat und die jetzt beginnt, über uns hereinzubrechen. Ich erinnere mich an ein Wort meines Großvaters von 1978, aus der Zeit vor dem Beginn des Umbaus der deutschen Gesellschaft, den ich oben skizziert habe. Mein Großvater sagte schlicht: Besser wird es nicht mehr. Er hat Recht behalten. Es wurde seitdem schlechter. Deutschland steht heute an einem Wendepunkt. Suchen wir den Konsens – oder suchen wir die Konfrontation? Versuchen wir gemeinsam, die Probleme zu lösen (was natürlich auch beinhalten würde, Politikerinnen und Politiker zu wählen, die Problemlösungen anbieten), oder bestehen wir darauf, einfach nur Recht zu haben? Gestehen wir uns ein, dass es keine einfachen Lösungen gibt – zumal nach so langen Jahren des politischen Fehlverhaltens – und dass wir differenzieren müssen, oder folgen wir den Lautsprechern, die den Finger in die Wunde legen, aber über rassistisches Gedankengut hinaus nichts anzubieten haben?
Ich glaube, ich weiß die Antwort schon, denn nicht nur „die Mitte“ bröckelt, sondern der gesellschaftliche Konsens, der dieses Land einmal ausgezeichnet hat. Er ist kaum noch vorhanden. Wenn jeder sich selbst der Nächste ist – und das ist die Folge vieler „Reformen“ seit25 Jahren -, dann gibt es kein Wir mehr. Dann gibt es als letztes Mittel, um doch noch ein Wir herzustellen, nur den Rückgriff auf die Nation, also auf Nationalismus. Auch das kündigt sich im „Wutbürger“ bereits an. Vielleicht hat Kanzlerin Merkel das schon erkannt und fährt deshalb in der Euro-Krise und der Europapolitik einen „deutscheren“ Kurs.
Wir leben an einem geschichtlichen Wendepunkt, und das sollten wir begreifen. Knapp zwei Jahre bis zum 21.12.2012.
Nun, „gelenkte Demokratie“ ist auch noch geprahlt; aber es handelt sich aj sowieso nur um einen Deckmantel einer ochlokratischen Herrschaftsform. Was auch die Einlassungen des Meinungsblockwarts Aly serh deutlich zeigt.
MfG Karl Müller
Was für ein dramatischer Text. Lieber Bronski, bedurfte es dieser textlichen Maya-Klammer, um das Dramatische noch zu überhöhen? Der Sachverhalt ist wirklich schon schlimm genug.
Ihrer Analyse stimme ich unumwunden zu. Dieses Land geht vor die Hunde. Ich gehe sogar noch etwas weiter als Sie: Wenn Sie sagen, dass eine Wirtschaftspolitik, die auf Niedriglöhne zielt, verantwortlich sei für das gesellschaftliche Klima des Jahres 2010, dann sage ich: Verantwortlich ist die geringschätzige Unterordnung alles Menschlichen unter die vermeintlichen Zwänge des Wirtschaftlichen. Der Mensch ist in dieser Sichtweise lediglich ein Produktionsfaktor, ein Wettbewerbsvor- oder -nachteil. Individuelle Potenziale werden nicht abgeschöpft, sondern abgewürgt.
Der wichtigste Satz Ihres Textes ist in meinen Augen:
„Also, so der Umkehrschluss, mussten die Löhne in Deutschland sinken, musste der Niedriglohnsektor ausgeweitet werden – statt das richtige zu tun und in den einzigen Rohstoff zu investieren, den wir haben: Bildung.“
Eben das ist nicht geschehen, und so erklärt sich die Misere. Hier steckt aber auch der Schlüssel, mit dem der Niedergang aufgehalten werden kann. Bildung.
Lieber Herr Bronski,
Ihre „Neujahrsansprache“ ist um Vieles anspruchsvoller als das, was uns Angela M. zu sagen hat – aber wem sage ich das in diesem Blog? Ihre Ausführungen zeigen sehr gut auf, was heute, Silvester 2010, im Feuilleton gleichsam flankierend zu lesen ist: „Moral und Aufklärung“. Dort heißt es u.a. „ Großenteils ist „Moralische Klarheit“ aber ein Versuch, den Konservativen den Moralbegriff wieder abzunehmen, auf utopischen Werten zu bestehen … Den „Nichteinmischungspakt“ der Philosophen will Neiman aufkündigen, die Intellektuellen sollen ihre Rolle im öffentlichen Diskurs gefälligst wieder annehmen und sich nicht auf Fachdiskurse beschränken.“ Oder gar, wie Herr Prof. der Philosophie Sloterdijk – oder früher – Prof. der Philosophie Marquard – den Abschied von der Utopie einzuläuten, das Bestehende uneingeschränkt nicht nur hinzunehmen, sondern zu loben. Das Lob des Bestehenden ist intellektuell die ideologische Flankierung der Neuen sozialen Marktwirtschaft. Bleiben wir also bei der Aufklärung und bei Kant, der uns heute mehr als je zuvor zu sagen hat, unter anderem dieses:
„Durch Almosen werden Menschen niedrig gemacht. Es wäre besser, es auf eine andere Art zu überlegen, dieser Armuth abzuhelfen, damit nicht Menschen so niedrig gemacht werden. .. Alle gütigen Handlungen sind nur kleine Ersetzungen unserer Schuldigkeit.“ – Kant, Vorlesungen über Metaphysik. Damit meint er: Almosen sind unwürdig; wir sind die Wohlfahrt dem Nächsten schuldig, also hat er einen Rechtsanspruch darauf, also kann dies nur der Staat. Almosen, letztlich auch das Ehrenamt widersprechen möglicher Weise der Menschenwürde.
Das Jahr 2011 soll das Jahr des Ehrenamtes werden. Jedenfalls will es die Europäische Staatengemeinschaft so. Die Solidarität, von der Sie und Frau Angela M. in so unterschiedlicher Weise sprechen, wird genau dann nicht vom Ehrenamt ausgehebelt, wenn es allenfalls subsidiär eingesetzt wird. Man hat aber den Eindruck, dass Spenden, Ehrenämter zur Schonung der Vermögen als das Eigentliche sozialer Politik gelten sollen. Dabei kann sie die neoliberale Elite auf die Ideologie von der den Sozialstaat allererst schaffenden Investitionsfreude der Wohlhabenden berufen: „sozial ist was Arbeit schafft“ – heißt ein Grund – Glaubensartikel dieser Ideologie – und man meint damit, die Hoheit über die ethischen Grundeinstellungen und Zielrichtungen zu besitzen. Und so ist es denn richtig, was in oben zitiertem Artikel über „Moral und Aufklärung“ gezeigt wird: die Deutungshoheit über das, was Moral in der Wirtschaft ist, muss den Akteuren dort im Diskurs streitig gemacht werden. Und gegen die schreckliche Alternativlosigkeit dieser „Bewegung“ der Neuen Sozialen Marktwirtschaft wollen wir 2011 das „Prinzip Hoffnung“ setzen: mit Bloch, dem Jubilar des Jahres 2010, wollen wir Bestehendes dann nicht anerkennen, wenn es nur „pragmatisch“ verteidigt werden kann. Wenn Ethik erkennt, dass über dem Bestehenden die Vielfalt des möglichen Besseren steht, wollen wir es gemeinsam versuchen mit der Utopie. Also einen Entwurf von Philosophie, die aufzeigt, dass Menschen nicht nur unter dieser Erde gut begraben werden können, sondern auf ihr friedlich und ohne Not weltweit leben können (in Abwandlung eines Zitats von Hans Fallada). So wären auch Christen verpflichtet, ihr C als S (Sozial) oder M (Moral) zu interpretieren und zu leben: nämlich ein Reich Gottes auf Erden und nicht darunter oder darüber langfristig zu befördern.
Gesegnetes Neues Jahr 2011 Ihnen alles.
Ihr
Hans-Ulrich Hauschild
[11.11.11. 11:11] Weltuntergang — meinetwegen auch am 21.12.2012 — hin oder her, aber der Jahrhundert-Karneval-Tag ist sicher… 😉
Ich habe geschwankt, ob ich meine Meinung hier einstellen soll oder unter dem Nachbar-Blog vom 31.12. Als aktiver Beobachter und Teilnehmer an politischen Entwicklungen seit den frühen 70er Jahren konnte ich die unterschiedlichsten Beobachten machen, Erfahrungen sammeln und Meinungen bilden bzw. auch wieder revidieren. Zu meiner sich herausgebildeten Ansicht der Dinge zählt:
1. Die Politiker der Jetztzeit unterscheiden sich überwiegend diametral und fundamental von der Grundgesetz-Generation. Natürlich gab es Alt-Nazis, Anhänger der Industrie-Barone und Trittbrettfahrer auch in der bleiernen Zeit der Adenauer-Republik. Aber das Berechnende, das Lavieren, das Paktieren mit den Kapitalinteressen, das Segeln auf den Lobby-Booten, scheint mir stärker, größer und vor allem ungenierter von Statten zu gehen. Die Ludwig-Erhard’schen Ansätze zur sozialen Marktwirtschaft, die Bildungsreformen der Brandt-Scheel-Regierung scheinen alle als „gestrig“ im Reißwolf der Geschichte gelandet zu sein.
Schauen wir uns die Politiker unserer Zeit an: Da gilt Kanzler- oder Außenminister-gewesen sein als Befähigung für Berater- und Aufsichtsrats-Jobs bei Gasprom & Co. Da hat man als ehemaliger hess. MP die besten Voraussetzungen mitgebracht, um einen großen Baukonzern zu leiten. Da werden bei Banken und Industrie immer Stühle freigehalten, falls ehrenwerte Politiker wie Clement, Tacke & Co. nach dem Ausscheiden aus dem Amt, rein zufällig, auf Seilschaften zurückgreifen, die sie während Gesetzes-Unterzeichnung vorher geknüpft hatten. Das reicht dann runter bis in Landes-, Kreis- und Kommunalebene, wo ein Platz im Bauausschuß immer noch zu den begehrtesten Ehrenämtern zählt. Und wenn in Ministerien oder Ausschüssen Fachkompetenz fehlt (warum und wieso eigentlich?), dann wird diese nicht bei den eigenen Leuten gesucht, oder herangebildet. Nein, man greift willig und gerne auf die Angebote aus Industrie, Wirtschaft und Finanz zurück. Dort hat es reichlich kompetente Fachkräfte, die sich seit Jahren oder Monaten mit der Abwehr unangenehmer potentieller Gesetze beschäftigen, und die dann dafür sorgen, daß bereits im Vorfeld möglicherweise sich ergebende „Spannungen“ abgebaut werden.
Und der Finanzfachmann Ackermann macht dann seiner Bekannten, der Physikerin Merkel, klar, warum eine Quetschenbank wie die HRE „systemisch“ ist und unbedingt die Interessen der Großvermögen gewahrt werden müssen – durch den Steuerzahler.
Und der Bürger, jetzt angeblich Wutbürger, packt eben dieselbe, wenn er sich das Treiben anschaut. Und einige packt, Gottseidank, auch der Mut, und sie werden zum Mutbürger. Der Mut, sich einzumischen, innerhalb der Parteien oder in NGOs. Der Mut, sich Alternativen auszudenken, und diese anzubieten – leider noch nicht in genügender Anzahl und mit wenig Befugnissen und Macht ausgestattet. Viele haben dies nicht begriffen, daß es nicht genügt, die Faust in der Tasche zu ballen, und die Politik durch Enthaltung an der Wahlurne bestrafen zu wollen. Denen geht das nämlich am Arsch vorbei, ob bei Landtags- oder Bundestagswahlen jetzt 75% oder nur 45% ihr Kreuz machen.
In einer der letzten Polittalk-Runden sagte einer meiner absoluten FDP-Lieblingspolitiker – Martin Lindner – sinngemäß zum von RWE und EON diktierten Atomkompromiß, und die Frage nach der Diskrepanz zwischen Einstellung der Bürger und der Entscheidung von schwarz-gelb: „Wir haben doch in unseren Wahlprogrammen ganz deutlich gesagt, daß wir den Ausstieg aus dem Ausstieg wollen. Und da wir mit Mehrheit gewählt wurden, hat uns der Bürger damit beauftragt, dieses Vorhaben auch umzusetzen.“
Wie sollen dann Wahlzettel der Zukunft aussehen, wie beim Kumulieren und Panachieren, nur dann Inhalte und Vorhaben statt Personen? Was wählt jemand, der eine „christliche“ oder „freie/liberale“ Partei wählt?
Zuerst einmal wünsche ich allem Forumsteilnehmern ein gutes Jahr 2011
Dem was bisher hier geschrieben wurde möchte ich weitgehend zustimmen. Als Anmerkung dazu möchte ich darlegen was ich mit Sicherheit in den nächsten Wochen wie schon öfters denken werde wenn ich zum Blutspenden gehen werde. Ich werde mir wieder die Leute anschauen die da sind und feststellen das eine bestimmte Gruppe weitgehend nicht vertreten ist. Es handelt sich um die deutsche (Bildungs) Oberschicht. Es werden normale Mitbürger da sein die ihre Freizeit in diesem Fall damit verbringen für die Gesellschaft etwas zu erledigen was getan werden muß ohne dafür einen Euro zu bekommen. Es werden alle die sich selbst für zu wichtig halten solche Tätigkeiten zu tun fehlen. Weil ich weiß das diese extrem wichtigen Leute, man könnte auch sagen egoistisch, nicht die Mehrheit der Bevölkerung darstellen möchte ich die letztlich pessimitische Beschreibung von Bronski so nicht ganz teilen. Wobei man durchaus sehen muß das diese Oberschicht sehr meinungsbildend wirkt hoffe ich doch das die Mehrheit der Bevölkerung auf die Dauer die Kraft hat durchzusetzen das sie in einer reinen Elenbogengesellschaft nicht leben will.
„WUTBÜRGER“ – eindeutig nicht das Wort, sondern das „UNWORT“ des Jahres. In Stuttgart und drumherum kenne ich niemanden, der die Bewegung FÜR einen sinnvollen und schönen Kopfbahnhof nur einigermaßen mitbekommen hat, der eine Verbindung zwischen diesem Begriff und den Ereignissen des lezten Jahres herstellen kann.
Wolfgang Fladung hat in § 5 einen Begriff gebracht, den des Mutbürgers, der sich gut eignet, dem „Wutbürger“ entgegengesetzt zu werden. Das es immer mehr Mut braucht, sich den Gewaltmaßnahmen des Staates zu stellen/ auszusetzen, zeigt sich nicht zuletzt am tragischen Schicksal des Mannes, der in Stuttgart blind „wassergeworfen“ wurde. Die Bezeichnung „Wutbürger“ halte ich für eine unglaubliche Dreistigkeit bei Gebrauch für die Gegner von S21 und der Gegner der per Gaunerstück erreichten Verlängerung der Atomkraftlaufzeiten. Man rechtfertigt sich in diesem Fall mit einem 1 Jahr alten Wahlergebnis, wenn aktuelle Umfrageergebnisse deutlich zeigen, daß das Vergangenheit ist. Die Parteien können sich noch nicht mal auf ewig schwankende Meinungen des ach so (angenehm) ungebildeten und labilen Wahlvolks, das man nicht wirklich ernst nehmen könne, herausreden. Selten hat wohl eine neugewählte Regierung so viel Mist am Stück gebaut. Die vielen klammheimlichen Streichungen bei der Bildung bei gleichzeitig vollmundiger Förderung waren wohl noch nicht ausreichend, daß das Wahlvolk nicht doch irgendwann den Braten riecht, daß es auf breiter Front vera…. werden soll.
Gerade hinsichtlich Atomkraft gibt es seit Jahrzehnten fundierte wissenschaftliche Untersuchungen, die gegen jede Verlängerung sprechen und glücklicherweise (noch) nicht in den Schubladen der jeweiligen Regierung verschwunden sind.
Wut ist leider nur zu berechtigt und angebracht, aber nicht gegen Schwächere wie Sarrazin glaubt tun zu können, sondern „nach oben“ in Richtung unwürdige Politiker, die es sich schon allzu warm und gemütlich eingerichtet haben.
Bronski, Sie haben meinen Nerv getroffen. Meinen Ischiasnerv. Ich sitz hier wie gelähmt
Am Mittwoch hatte ich eine Begegnung mit einem dieser ichichichs. Er parkte mit halber Wagenlänger vor der Einfahrt zu der Tiefgarage, in der ich immer mienen Wagen abstelle. Vordere Stoßstange ganz peep an den Wagen davor, also wollte sich wohl so reinquetschen. Tatsahce war aber, aus der Tiefgarage konnte keiner raus und rein. Ich sah das ging hin und sagte, das geht nicht. Ja, er muss nur kurz was in der Stadt besorgen. Ich sage, nur kurz, ich muss aber jetzt da raus aus dedr Tiefgarage. Musste ich eigentlich nicht, das war nur ein Schwindel. Ich wollte ihm irgendwie begründen warume r da nicht stehenbleiben kann. Er lief weg Richtung Stadt, bin gleich wieder da. Ich rufe ihm hinterher: Ich rufe jetzt den Abschleppdienst. Na da ist er weggefahren, aber eingesehen hat er es nicht.
Das sind so die Sachen. Alle denken nur an sich allein. Ich weiß nicht, wie das weitergehen kann. Das muss uns doch alles um die Ohren fliegen. So kann ein Gemeinwesen doch nicht existieren, wenn jeder nur an sich selbst denkt. Und das ist überall, und das ist ansteckend. Man muss heutzutage zum Arschloch werden, um noch zu seinem Recht zu kommen. Und dies Recht, das ist doch nichts Egoistisches, das ist etwas, was das Zusammenleben regelt. Ja die Polizei ist reduziert. Merkt man überall. Aber ich mag nicht nach mehr Polizei rufen
Ach ja, Bronski, und wo Sie die INSM ansprechen: Von Max Wedell dem Lohnschreiber der INSM hab ich hier zu diesem Thema noch nichts gelesen
traut er sich wohl nicht
Hallo Frau Dr. Samman,
also für die vorgänge um S21 bin ich eigentlich ganz dankbar. Zeigt sich doch damit auch sehr gut dass formal zulässige Ordnungsmaßnahmen und auch die Polizei selbst durch geschickte Vorbereitung und Hinterzimmerabsprachen instrumentalisiert werden können.
Denn es darf auch nicht vergessen werden dass selbst der WaWe-Einsatz zu den situationsüblichen Zwangsmaßnahmen gehört und per se rechtlcih wasserdicht ist.
Hier wurd allerdings auch ein gewisses Widerstandsverhalten der Bürger provoziert, nicht zuletzt um entsprechende Pressebilder zu erhalten. …nämlich mit der erhofften Wirkung das hier bloß die üblichen Randalierer tätig sind…
MfG Karl Müller
Ich muß mich auf den genialen Georg Schramm berufen, der in seinen letzten Ansagen sehr gut den Unterschied zwischen „Wut“ und „Zorn“ erklärt hat. Im mittel- und althochdeutschen Wort „wuot“ stecken „unsinnig, besessen und rasend“ – im Sinne von Furor also. Daher auch WOTAN, eigentlich Woutan = der rasende Gott. Ein Rasender zerstört, ist „blind vor Wut“. Ein „Wüterich“ leitete sich aus dem griech.-lat. „tyrannus“ ab, würde also, um eine Art linguistischer Brücke zu bauen, eher auf Mappus, Merkel, Grube & Co. zutreffen, welche uns mit ihrem Unsinnsprojekt Stuttgart 21 tyrannisieren – einem Projekt, jenseits jeden Sinnes und Verstandes, es sei denn für Immobilien-Haie.
Dem gegenüber stünde der Zorn-Bürger, dessen Zorn sich über und wegen solcher über die Köpfe der Bürger hinweg getroffenen und nur Partikularinteressen dienenden Entscheidungen mit Grimm entläd, wegen des Kummers, Leid und Elends, die solche – altengl. „torn“ bitteren, grausamen und schmerzlichen Entscheidungen und Vorhaben blinder und selbstgerechter Entscheider über das Land bringen. Nur ist der zornige Bürger nicht blind vor Wut, sondern er grollt in seinem Zorn – aus Zorn wird dann der Mut, Alternativen zu erarbeiten und sich dem sinnvolleren Ausbau von K 21 zuzuwenden.
Auch bei der Sarrazin-Debatte reicht es bei den meisten noch nicht einmal zum Sarra-Zyniker. Blind vor Wut hauen sie, wie er, auf alles ein, was fremd ist oder wirkt, und scheuen sich auch nicht vor dem Griff in die Reichspropaganda-Eugenik-Kiste. Wer Kirsten Heisig gelesen hat, und Sarrazin dagegen hält, weiß, was ich meine. Sarrazin rast, Heisig ist zornig – und macht gute praktikable Vorschläge zur Änderung der Zustände.
Bleibt zu wünschen, daß aus dem zornigen ein weiterhin wacher, aktiver und engagierter Bürger wird. In Parteien und/oder NGOs mitarbeiten, zu Demos gehen, Parteiveranstaltungen aufmischen, Homepages von Politikern mit Mails überschütten, Leserbriefe schreiben, im Blog von Presseclub, Plasberg, Illner etc. seine Meinung abbilden, oder kopierte Artikel in Bussen und Bahnen auslegen. Und wenn von Verwandten, Freunden und Nachbarn neoliberaler und unüberlegter Stuß abgesondert wird, ruhig und sachlich dagegen halten. Ja, es müßte wieder mal ein Ruck durchs Land gehen, jedoch anders, als Roman Herzog es meinte.
So viel Pessimismus vertrage ich zur Zeit nicht, lieber Bronski. Und die kleinen Schritte, die @ Wolfgang Fladung vorschlägt, die habe ich fast alle schon gemacht. Wir müssten so viel mehr tun, aber meine Flügel hängen müde herunter.
Hallo Bronski,
ich möchte Ihren Ausführungen, insbesondere denen der Abschnitte „Schnauze sonst Auge“ und „Nach oben buckeln…“ vehement widersprechen. Sie unterscheiden zwischen Wutbürgern, die sich gegen das S21-Projekt wenden und jenen, die gegen Mißstände in Einwanderermilieus protestieren. Letzteren sprechen Sie gewissermaßen eine Berechtigung ihrer Empörung ab. Das ist nicht fair.
Sie zeichnen aus meiner Sicht ein völlig falsches Bild jener Protestler. Denken Sie wirklich, dass sie in erster Linie von einschlägigen Internetseiten wie PI zu hasserfüllten Reflexen verleitet werden? Kennen Sie diese „Spezies“ tasächlich so genau? Ich möchte widersprechen. Erstens haben Schmuddelseiten wie PI nach meinen Erkenntnissen gar nicht den entsprechend großen Zulauf (zum Glück). Zweitens ergibt sich der Frust bei dem Großteil der sogenannten Wutbürger in erster Linie aus eigenen Erfahrungen. „Schnauze sonst Auge“ erleben sie täglich auf der Straße, und ihre Wut richtet sich nicht gegen Opfer, sondern gegen Täter. Opfer sind sie selbst. Ich kenne viele junge Studenten in meiner Stadt, die in Bezirken mit überwiegendem Migrantenanteil groß wurden und dort zur Schule gingen. Sie kommen teilweise aus linksliberalen Akademikerfamilien. Sie berichten unisono von schweren Diskrininierungen gegen „biodeutsche“ Schüler. Hier geht es nicht um gelegentliche Beleidigungen, sondern um massive Gewalttaten. Ich selbst als Nicht-Jugendlicher habe in diesem Blog meine eigenen Gewalterfahrungen bereits geschildert. Selbst das linksalternative Stadtmagazin „Zitty“ hat vor einigen Monaten unter dem Titelthema „Flucht vor Multi-Kulti“ die verheerenden Zustände v.a. an entsprechenden Problemschulen beschrieben. Z.B. schildert eine Mutter in diesem Bericht, dass ihr Kind von der überwiegenden Mehrheit der Mitschüler, die muslim. Glaubens waren, gemobbt wurde, nachdem es zugab, Atheist zu sein. Das Kind musste die Schule wechseln. Andere Lehrer beklagen in diesem Artikel, dass die Lernmotivation unter best. Einwandererkindern extrem gering ist, Übergriffe auf Lehrer dagegen sind keine Seltenheit. Die Folge dieser Mißstände ist eine Flucht junger Familien aus entsprechenden Vierteln. Die, die bleiben wollen, arbeiten durchaus an „konstruktiven“ Lösungen: Man bemüht sich um die Errichtung einer Privatschule. Der Träger wäre die evang. Kirche.
Klagen über solche Mißstände höre ich auch von Lehrern aus meinem Bekanntenkreis, die in ganz anderen Städten unterrichten. In diesem Zusammenhang möchte ich nochmal auf eine bundesweiten Studie des Berlin-Instituts verweisen, die zu dem Ergebnis kommt, dass sich Einwanderer aus der Türkei und arabischen Staaten am schlechtesten integrieren. Kinder und Jugendliche aus diesen Milieus sind am häufigsten in Kriminalitätsstatistiken vertreten, unter ihnen findet man die meisten Schulabbrecher und Erwerbslosen. Genau diese Punkte sprach auch Bundespräsident Christian Wulff in seiner Rede vor dem türkischen Parlament an. Es sind also keine Erfindungen eines Herrn Sarrazin. Nun muss man natürlich feststellen, dass unsere Integrationspolitik in der Vergangenheit tatsächlichg völlig verfehlt gewesen ist. Aber reicht diese Feststellung, um die Mitglieder der o.g. Milieus gleich als Opfer darzustellen?
Ich denke nicht, denn ebenfalls aus der bereits erwähnten Studie geht hervor, dass sich Migranten anderer Herkunft mitunter sehr gut integrieren. Sie schneiden u.a. bei Schulleistungen besser ab als Schüler deutscher Herkunft, finden leichter einen Job. Warum gelingt vietnamesichen Jugendlichen der Einstieg in unsere Gesellschaft so viel leichter als Schülern türk. oder arab. Herkunft? Vor diesem Hintegrund ergibt sich ein ganz anderes Bild: Es gibt Einwanderergruppen, in denen das Interesse an Integration gering ist. Und darüber darf man sich sehr wohl aufregen.
Ein weiterer Punkt: die Integrationskritiker unter den Wutbürgern werden gern als Jünger Sarrazins beschrieben. Datt is Quatsch. In fast allen Umfragen liegt der Anteil jener, die den Thesen des ehem. Senators und Bankers uneingeschränkt recht geben, deutlich unter 10%. Ich glaube, dass damit seine kruden Thesen zur Genetik von der absoluten Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden. Interessant aber ist, dass sich die angeblich so dumpfe Horde Wütender in allen politschen Parteien wiederfinden. Emnid ermittelte doch bereits Ende 2009, kurz nach seinen provokanten Thesen im Lettre International, dass von den Union-Wählern ca. 60%, SPD, Linkspartei und FDP-Wählern ebenfalls deutlich über 50% und von den Anhängern der Grünen immerhin 24% Sarrazins Integrationskritik zustimmen. Dieses Ergebnis finde ich beachtlich und wird in seiner Tragweite ziemlich verkannt.
Ich selbst halte den vermeintlichen Empörungsleitwolf als einen verschrobenen Provokateur. Seine biologistischen Ansichten sind auch mir zuwider, Menschen nach ihrem volkswirtschaftlichen Nutzen zu beurteilen ist nicht nur geschmacklos, sondern v.a. gefährlich. Trotzdem muss die von ihm aufgeworfene Debatte geführt werden. Ich habe im September der Podiumsdiskussion zu diesem Thema unter Leitung Christhard Läpples und mit Th. Sarrazin als Gast in der Berliner Urania besucht. Einer der Diskussionsteilnehmer und Kritiker Sarrazins auf dem Podium, dessen Name ich leider vergessen habe (er war Biologe und Wissenschaftsjournalist), brachte es auf den Punkt: Vieles von dem, was Sarrazin schreibt, riecht nach Blut-und-Boden-Ideologie; von Genetik hat er keine Ahnung, seine biologistischen Thesen führen in die Irre. Aber zum Schluss bemerkte er aus meiner Sicht völlig richtig, dass Sarrazins übrige Thesen nicht aus der Luft gegriffen sind und einen notwendigen Diskussionsbeitrag darstellen. Denn schließlich, so der Gast, kenne er die Situation in den Problemvierteln selbst nur zu gut.
@ fox
Es liegt mir fern, Ihre persönlichen Erfahrungen zu bestreiten oder die Probleme, die es in sozialen Brennpunkten mit Migranten gibt, klein zu reden. Es gehört zu einer ehrlichen Integrationsdiskussion, diese Themen anzusprechen, wie es auch in der Islamkonferenz und in den Integrationsgipfeln, aber auch vielfach vor Ort unter Beteiligung konservativer und moderater muslimischen Organisationen geschieht. Wichtig ist auch, dass sich die muslimische Gemeinschaft von der islamistischen Ideologie der Aufteilung der Welt in Muslime und „Ungläubige“ deutlich abgrenzt. So bekennt sich der Zentralrat der Muslime ausdrücklich zur religiösen Pluralität, die auch für Muslime den Religionswechsel bzw. die Aufgabe der Religion einschließt.
Das alles reicht noch nicht, um die von Ihnen angesprochenen Missstände – die primär soziale Ursachen haben, aber nationalistisch und islamistisch „aufgeladen“ werden – zu beseitigen, auch deshalb, weil sich Einstellungen von Menschen (auch von Jugendlichen) nicht kurzfristig ändern lassen.
Allerdings wäre es falsch, für die Probleme die Gesamtheit der Migranten oder der Muslime in Haftung zu nehmen. Die mir bekannten Studien zeichnen ein deutlich differenzierteres Bild der Migranten und der Muslime in Deutschland, das leider in der Öffentlichkeit nicht ausreichend wahrgenommen wird. Dies verstärkt Sarrazin mit seinem Buch. Dass die von ihm veröffentlichten Zahlen zum Teil falsch und zum Teil falsch interpretiert sind, hat kürzlich eine neue „Berliner“ Studie gezeigt, die man unter http://www.heymat.hu-berlin.de/sarrazin2010/ nachlesen kann.
Die Aggressivität, die manche „Wutbürger“ gegenüber Migranten oder Muslimen auf den Tag legen, erschreckt mich. Unerträgliche Äußerungen, die die Grenze zur Menschenfeindlichkeit tangieren oder überschreiten, findet man nicht nur bei PI, sondern auch in den Kommentaren zu Artikeln der fr-online.
Hallo Abraham,
ich weiß Ihre sachlichen, fundierten Beiträge zu schätzen. Ich will Ihnen gar nicht widersprechen, wenn Sie behaupten, dass es unter jenen, die nun gegen bestimmte Mißstände protestieren, auch etliche gibt, die evtl. grundsätzlich ausländerfeindliche Einstellungen vertreten. Nur glaube ich nicht, dass sie die Mehrheit ausmachen. Ich denke, dass man nicht von böswilligen Kommentaren in den Blogs der Online-Ausgaben der Tageszeitungen auf die Gesamtheit von bestimmten Gruppen schließen kann. Da entsteht ein Zerrbild.
Ich habe mich bei der Beschreibung der Mißstände in meinem Beitrag hinsichtlich bestimmer Einwanderermilieus nicht auf Erkenntnisse oder Intepretationen Sarrazins gestützt, sondern auf eine Studie, die ich vor seiner Integrationskritik bereits gelesen und auch in diesem Blog zitiert habe. Auch möchte ich nochmal darauf verweisen, dass selbst Bundespräsident Wulff vor dem türkischen Parlament davon gesprochen hat, dass türkischstämmige Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland am häufigsten von allen Gruppen die Schule oder die Ausbildung abbrechen und in Kriminal- und Arbeitslosenstatistiken überrepräsentiert sind. Diese Fakten kann auch die von Ihnen erwähnte „Berliner Studie“ nicht ausräumen, die übrigens selbst in die Kritik geriet.
Ich stimme Ihnen aber zu, dass man für diese Schieflagen nicht die Gesamtheit aller Migranten oder Muslime verantwortlich machen kann. Ich melde mich morgen nochmal.
@ fox
Ich möchte Ihnen widersprechen, und zwar vor allem, weil Sie meinen Text offenbar nicht richtig gelesen haben. Könnte es sein, dass Ihnen ein bisschen schnell die Hutschnur durchgebrannt ist?
„Sie unterscheiden zwischen Wutbürgern, die sich gegen das S21-Projekt wenden und jenen, die gegen Mißstände in Einwanderermilieus protestieren. Letzteren sprechen Sie gewissermaßen eine Berechtigung ihrer Empörung ab.“
Mitnichten. Ich spreche allerdings davon, dass sich die Empörung gegen die Falschen richtet. Nämlich gegen die, die nicht für das Desaster verantwortlich sind. Ich spreche nicht davon, dass man die Missstände nicht benennen soll, aber wenn man sie benennt, dann soll man auch die dafür Verantwortlichen benennen. Und das sind nicht die Migranten. Die verhalten sich zwar tatsächlich teilweise so, dass sie berechtigten Zorn auf sich ziehen. Ich lebe selbst – in Offenbach – mitten in einem sozialen Brennpunt und kann daher mitreden. Es ist teils wirklich krass, was diese Herrschaften sich leisten. Da gibt es nichts zu beschönigen. Aber, lieber fox: Das eigentliche Problem liegt ganz woanders. Und genau das ist es, was ich kritisiere und was Sie übersehen. Das ist es, was die Wutbürger auszeichnet: Sie erkennen nicht diesen Verantwortungs-Zusammenhang. Sie haben Prügelknaben gefunden, auf die sie nun einschlagen, meistens allerdings glücklicherweise nur verbal, denn sonst wären sie nicht besser als die, die sie kritisieren.
Das eigentliche Problem in dem hier diskutierten Zusammenhang ist nicht, dass soziale Brennpunkte existieren, sondern dass zugelassen wurde, dass sie entstehen konnten. Das eigentliche Problem ist, dass wir uns über Jahrzehnte hinweg Politiker erlaubt haben, die hier und da ein Schräubchen gedreht, aber insgesamt in Sachen Integration nichts Wesentliches bewirkt haben. Sei es beim Familienzuzug, sei es bei der Ghettobildung. Egal, hier sind wir noch immer auf der Ebene der Phänomene, nicht der Ursachen. Als ursächlich für die Entstehung der Probleme sehe ich beispielsweise an, dass Migranten quasi in bestimmte Wohnviertel gesteckt wurden, weil nur dort billiger Wohnraum zu bekommen war. Als ursächlich sehe ich auch die Wahlfreiheit an, was Schulen betrifft, denn das bedeutete, dass den Problemen ausgewichen werden konnte (was ich nachvollziehen kann, wenn Eltern erleben müssen, dass ihr Kind zwischen 80 Prozent fremdsprachiger Kinder gefördert werden soll – siehe oben: billiger Wohnraum, Ghettobildung). Genau das passierte in der bundesdeutschen Integrationspolitik andauernd: Man wich den Problemen aus. Und als ursächlich sehe ich vor allem, dass in der Bildung gespart wurde und wird, und zwar von der Kita an. Hier setzt jetzt ein zaghaftes Umdenken ein, vielleicht auch, weil erkannt wurde, welches Potenzial in unseren Migranten steckt.
Fox, Wut gegen unsere Migranten hilft nichts. Diese Menschen sind hier, sie bleiben hier und werden sich menschlich verhalten. Das heißt: Wenn der Druck im Stigmatisierungs-Kessel steigt, wird es Überreaktionen, Druckentladungen geben. Und da hilft es nicht, diese oder jene Statistik zu bemühen.
Ich wundere mich immer wieder, wie sehr das Potenzial von Bildung verkannt wird. Deutschland ist eines der fortgeschrittensten Länder dieser Welt, aber es ist nicht in der Lage, seine Potenziale zu erschließen. Bildung ist der einzige „Rohstoff“, den wir haben. Doch statt zu versuchen, die Potenziale, die wir im eigenen Land haben (teilweise importiert) zu erschließen, versuchen wir, die Lohnstückkosten hierzulande zu drücken, per Niedriglohnsektor, per Leiharbeit, per Ein-Euro-Jobs. Dies ist eine Entwicklung, die seit gut zwanzig Jahren anhält und die dazu führt, dass keiner mehr dem anderen traut, weil er ihm den Job wegnehmen könnte. Eine ordentliche Bildungspolitik würde, das ist meine feste Überzeugung, über mittlere Frist alle Integrationsprobleme erledigen.
@ Bronski
Doch, doch ich habe Ihren Beitrag vollständig gelesen. Sie schreiben u.a.:
„Diese Politikerinnen und Politiker, das darf man unterstellen, wurden von eben jenen Menschen gewählt, die sich heute in sowohl stil- als auch substanzlosem Protest als “Wutbürger” gerieren.“
Dieser Protest ist alles andere als substanzlos, daran hatte ich mich u.a. gestört. Ihre Ausführungen unter #17 lassen vermuten, dass dies wohl nicht so gemeint war. Nun gut. Ich möchte aber noch auf den anderen Aspekt eingehen, der hier thematisiert wird. Sie geben denen, die nun wütend sind, anscheinend eine gewisse Mitschuld an der verfehlten Integrationspolitik der Vergangenheit, da sie ja jene Politiker, die diese zu verantworten haben, gewählt haben. Lieber Bronski, welche Wahl hatten denn die Bürger hier? Der Berliner Innensenator Körting(SPD) hatte vor zwei Jahren selbst eingeräumt, dass alle(!) Parteien die Integrations- und Zuwanderungsproblematik völlig unterschätzt haben. In allen Parteien wurde 25 Jahre lang gedacht, dass sich diese Mißstände im Laufe der Zeit von selbst auflösen werden. Prima, so ließ sich viel Geld sparen. Nirgendwo wurden sinnvolle Konzepte entwickelt bzw. umgesetzt. Alle Parteien haben hier versagt, keiner wollte dieses heiße Eisen anpacken. Und dies bezieht sich leider auch auf unsere relativ breite Medienlandschaft, die sich vor diesen Themen mindestens genauso erfolgreich gedrückt hat.
Ist der „Wutbürger“ nun tatsächlich jenen Reflexen erlegen, die wir aus der Verhaltensforschung kennen? Nach oben buckeln, nach unten treten? Ist es so, dass er sich nicht traut, seinen Unmut gegen die verantwortlichen Politiker zu richten? Ich widerspreche. Etliche Bundestagsabgeordnete haben in Interviews und Gesprächsrunden zugegeben, dass sie teilweise tausende Zuschriften und E-Mails (Bosbach) von Wählern erhalten haben, die sich über Mißstände in der Zuwanderungs- und Integrationspolitik beklagen. Auch ich habe vor drei Jahren einem SPD-Abgeordneten meine Erfahrungen und mein Unverständnis mitgeteilt. Die Antwort war sogar respektabel. Nur trotz dieser Form des „Bürgerbegehrens“ hat sich wenig geändert. Bürger werden dabei auch noch auf andere Weise aktiv. Ich weiß z.B. von einer Bürgerinitiative, die sich in Berlin-Moabit gegründet hat, um sich für das einzusetzen, was andere stets fordern: für mehr Respekt untereinander, gegen Gewalt im Kiez. Ältere Menschen haben hier zurecht Angst auf die Straße zu gehen, Raubüberfälle sind quasi an der Tagesordnung. Sie selbst werden dabei nicht verschont. Die Regierung hingegen nimmt zur Kenntnis und tut- nichts.
Sie benennen einige wesentliche Ursachen, die zu besagten Schieflagen geführt haben. Z.B. wurde tatenlos zugesehen, wie sich soziale Brennpunkte und „Ghettos“ bildeten. Wenn man ehrlich ist, kann man dagegen in einem Rechtsstaat gar nicht so viel machen. Es besteht in Deutschland das Recht auf freie Wohnungswahl, die sozialräumliche Segregation kann man mit keinem Instrument ausreichend wirksam verhindern. (Anm.: In den Niederlanden hat man dieses Grundrecht aufgrund entsprechender Gegebenheiten inzwischen kassiert.) Ich habe vor zehn Jahren ein Interview mit Vertretern einer Wohnungsbaugesellschaft zu diesem Thema geführt. Diese Gesellschaften haben durchaus das Interesse als auch die Möglichkeiten, wenn sie noch über große Bestände verfügen, den räumlichen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Nur sind die Ergebnisse nicht erbaulich. Trotz der sozialen Durchmischung der eigenen Wohnquartiere, so berichteten die Vertreter der Wbgesellschaft, bleiben die unterschiedlichen Gruppen unter sich, die spezifischen Probleme bleiben erhalten. Ich habe mir sagen lassen, dass dieses Phänomen auch aus soziologischen Unterschungen hervorgeht, die ich leider selbst noch nicht in Erfahrung gebracht habe. Wenn ich mich recht erinnere, soll Hartmut Häusermann an diesen mitgearbeitet haben (kriegt man also raus).
O.g. Beispiel belegt meine Feststellung, dass bestimmte Einwanderermilieus wenig Interesse haben, sich zu integrieren. Sie bleiben dann auch in der zweiten und dritten Generation unter sich und wollen nationale, eigenständige Gruppen bilden. Allein mit gut gemeinten Förderangeboten kommt man an diese nicht heran.
Ähnlich sieht es bei der zweiten von Ihnen benannten Ursache aus. Auch bei vielen Soziologen heißt das Zauberwort, wenn es um die Behebung bestehender Integrationsprobleme geht: Bildung. Nur was soll man tun, wenn die Bildungsmöglichkeiten in unserem Land nicht genutzt werden? Denn das geschieht zusehends, der Bildungsunmut bestimmter Milieus wird häufig nicht wahrgenommen. Die Gründe können vielfältig sein. Zum einen lehnen viele „konservative“ Einwanderergruppen eine moderne, liberale Werteordnung ab, die in unseren Schulen vermittelt wird (werden soll). Die Gleichstellung der Geschlechter wird von ihnen nicht akzeptiert, in unseren Lehranstalten allerdings kriegen Jungs von Frauen gesagt, was Sache ist. Viele Eltern erwarten, dass die eigenen Kinder die nie reflektierten Traditionen und Gesellschaftsstrukturen von ihnen übernehmen. Sie haben Angst davor, dass sich ihre eigenen Kinder von dem Althergebrachten und ihnen selbst entfremden. U.a. ist aus meiner Sicht auch darin ein Grund zu finden, warum die Schulabbrecherquote unter türkischen und arabischen Schülern mit Abstand am höchsten ist. Und warum Ehepartner aus dem Heimatland herangeholt werden.
Ich darf an dieser Stelle anmerken, dass die politischen Einstellungen von Migrantenkindern mitunter erschreckend sind. Ein Lehrer berichtete mir, wie in seinem Unterricht Juden verdammt und ins KZ gewünscht wurden. Ihre Einstellungen zu Gewalt, Krieg, Schwulen, Lesben, Familienehre, Selbstbestimmung muss ich hier sicher nicht weiter erläutern. Nun bedenke man aber, dass sie zu unserer Gesellschaft gehören und mit Erreichen des 18. Lebensjahres wählen dürfen. Ich fände es nicht schlecht, wenn es Gesellschaftskundeunterricht auch für Eltern gäbe.
Ich stimme Ihnen natürlich zu, wenn Sie bemängeln, dass das Potenzial an Bildung in Deutschland auch von den Regierenden verkannt wird. Und gerade in diesem Bereich hat v.a. jener versagt, der sich nun am lautesten über Bildungsmängel unter jungen Menschen aufregt: Ex-Finanzsenator von Berlin, Th. Sarrazin. Das mangelnde Angebot an Kitabetreuung, das von der CDU beabsichtigte Erziehungsgeld und die Situation am Arbeitsmarkt sind für die Lösung der Integrationsprobleme völlig kontraproduktiv. Und auch wenn es Geld kostet, an Problemschulen werden dringend Sozialarbeiter benötigt. Wenn hier und jetzt nicht ausreichend investiert wird, fressen uns unsere Probleme bald auf. Vergangene Fehler kann man ohne Kapitaleinsatz nicht wieder beheben. Diese Erkenntnis muss sich bei sämtlichen Politikern langsam mal einstellen.
Jetzt ist die Debatte wieder voll auf der „guter Muslim, böser Muslim“-Schiene gelandet – ein Zeichen für mich dafür, daß hier wirklich noch viel, ja was, Wut, Zorn, Frust?? schlummert. Interessant war für mich die Meldung, daß die vom ehem. Berliner CDU-Abgeordneten René Stadtkewitz gegründete rechtspopulistische Partei, wie der Gründer dem SPIEGEL (s. Nr. 01/2011) berichtete, auch die ehem. Jugendrichterin Kirsten Heisig als populäres Mitglied aufnehmen wollte. Jetzt halte ich vom Buch „Das Ende der Geduld“ von Frau Heisig viel, im Gegensatz zum Geschreibsel von Herrn Sarrazin, und frage daher: Wollte sich Frau Heisig hier vor den falschen Karren spannen lassen? Wurde sie benutzt oder war sie naiv? Einen interessanten Hinweis fand ich auch hier:
http://info.kopp-verlag.de/hintergruende/deutschland/gerhard-wisnewski/kirsten-heisig-wollte-in-die-politik-motiv-fuer-einen-mord-.html;jsessionid=A056ACCDD1F910ACEB179370C42A3405.
Ich bleibe bei meiner These: Während auf „Links“, siehe Kommunismus-Debatte, eingeprügelt wird, baut sich rechts eine viel größere Gefahr für die demokratische Landschaft auf. So etwas wie Sarah Palin und die Tea-Party-Bewegung wäre das letzte, was uns noch gefehlt hat.
Meine Beobachtungen der letzten Jahrzehnte haben allerdings eine tiefe Skepsis wachsen lassen. Im Zweifel und bei Sturm biegen wir Deutschen doch lieber rechts ab, auch wenn wir vorher links geblinkt haben. Und CDU und FDP wären für den Machterhalt sicherlich bereit, nach vorherigem Green-washing, um an der Regierung zu bleiben auch mit Rechtspopulisten zu paktieren. Es fehlt derzeit nur die charismatische Führungsperson, welche dann sicherlich auch aus dem SPD-Lager noch Wähler und Mandatsträger herausbrechen würde.
Noch eine Ergänzung, heute Teletext ARD: Der ungarische MP Orban verbat sich jede Kritik am neuen Mediengesetz. Diese wurde vornehmlich von Linken, Sozialdemokraten und Liberalen im Europa-Parlament geäußert. Von konservativen Abgeordneten wurde Orban dagegen in Schutz genommen.
Ah ja, habe ich mir gesagt. Wäre dieses Gesetz von Kommunisten eingebracht worden, hätten alle Konservativen geschäumt. Aber das paßt zu meiner Meinung. Die Blindheit auf dem rechten Auge ist weit verbreitet.
Ich finde es auch schade, dass die Diskussion wieder in dieses leidige Thema abdriftet. Bronski hat in seinem Eröffnungstext eine ganz andere Dimension aufgezeigt, die er dann in seiner Antwort auf fox in Kommentar 17 leider selbst etwas verengt hat. Damit sind wir wieder bei der Schulddebatte. Fox, muss das wirklich sein?
Immerhin haben Sie angedeutet, dass das Integrationsproblem ein Problem unserer politischen Struktur sein könnte. Das ist ein Gedanke, der über die Schuldzuweisungen hinausführt. Wir haben in Deutschland Volksparteien, die programmatisch breit aufgestellt und an den Interessen der Mehrheitsgesellschaft ausgerichtet sind. CDU und SPD scheinen diesen Interessen nicht mehr zu genügen, die Grünen könnten die Volkspartei der Zukunft werden. Die Grünen hätten immerhin Integrationsrezepte anzubieten. Insofern ist es vielleicht spät, aber vielleicht noch nicht zu spät.
Aber wenn hier schon eine Schulddebatte geführt wird, dann will ich hinzufügen: Ja, die Deutschen sind schuld daran, dass hinsichtlich der Integration nichts passiert ist. Sie haben die falschen Parteien gewählt. Jeder einzelne Wähler ist hier in der Verantwortung, die er nicht abgibt, nachdem er das Kreuzchen auf dem Wahlzettel gemacht hat. Jeder einzelne sollte sich fragen, aus welcher Motivation heraus er das Kreuz bei der Partei gemacht hat, die seine Stimme kriegt, und ob diese Stimmabgabe eine angemessene Antwort auf die gesellschaftlichen Probleme ist, wie er sie sieht. Der „Wutbürger“, wie Bronski ihn meint (so wie ich Bronski verstehe), wird sich diese Frage vermutlich gar nicht stellen. Für ihn ist die Stimmabgabe etwas Traditionelles, jedenfalls so lange es noch keine Anti-Islam-Partei in Deutschland gibt. Er ist möglicherweise Stammwähler und wird sich trotz veränderter Problemlage nicht anders verhalten. Insofern sind die Wähler verantwortlich für das Desaster – jawohl. Und wären sie verantwortungsbewusst und würden sich evtl. eigene Defizite eingestehen, dann würden sie jetzt hingehen in die Fragestunden der Politiker und diese zur Rede stellen, oder sie würden sich in einem Verein engagieren, der was für Integration tut. Aber auf diese Idee kommt der Wutbürger gar nicht erst. Er stellt sich hin und schreit rum. Er will die Muslime nicht in Deutschland haben. Also raus mit den Muslimen!
Hallo Sigmund,
sie scheren hier all jene, die unter den Begriff (Integrations-)Wutbürger subsumiert werden, über einen Kamm. Genau dagegen habe ich mich wehren wollen- vergebens. Kennen sie denn welche? Und wenn ja, wie repräsentativ sind die denn dann? Ich habe Beispiele gegeben, dass viele von denen nicht ganz so sind, wie beschrieben, und sie sich durchaus engagieren und bereit sind, sich an entsprechende Politiker zu wenden. Ich weiß immerhin auch von einer Bürgerinitiative, die sich für ein friedliches, gewaltfreies Zusammenleben verschiedener Kulturen bemüht hat.
Von Schuld habe ich in meinen Beiträgen konkret gar nicht gesprochen. Vielmehr geht es mir um eine genaue Analyse der Mißstände. Denn ohne diese können keine Probleme gelöst werden. Ein Beispiel zur aktuellen Thematik, das ich eigentlich bereits schon gebracht habe: Menschen aus weniger gebildeten Schichten und Kulturen, in denen noch patriarchalische Gesellschaftsstrukturen existieren und überkommene Traditionen gepflegt werden, tun sich schwer, ein liberales Werrtesystem anzuerkennen und die Gesetze eines modernen Staates einzuhalten. Zunächst einmal ist dies eine Feststellung, die aber in besonderem Maße notwendig ist. Denn sie bedeutet, dass sich Staat und Aufnahmegesellschaft um Menschen aus solchen Kulturen, wenn sie eingewandert sind, kümmern müssen. Oder ist Ihnen das egal, wenn z.B. Frauen aus diesen Milieus vorgeschrieben bekommen, wen sie heiraten und was sie werden? Fehlentwicklungen dieser Art unter Biodeutschen müssen natürlich ebenfalls angegangen werden. In bestimmten Schulen besteht daher ein erhöhter Bedarf an gesellschaftskundlichem und politischem Unterricht, der zusätzlich angeboten werden muss. Auch folgt aus dieser Feststellung, dass Schulen Eltern aus bestimmten Migrantenmilieus verstärkt in die pädagogische Arbeit einbinden müssen. Wir sollten uns an dieser Stelle schon mal klar machen, dass dies alles einen entscheidenden Mehraufwand bedeutet, der in den Lehrplänen etc. selten ausreichend berücksichtigt wird. Auch, und das geschieht bereits an vielen Schulen und Bezirken, werden Kurse oder Beratungstermine für Eltern angeboten, die falsche Erziehungsmethoden praktizieren (z.B. Gewaltanwendung) oder deren Kinder in die Kriminalität abrutschen. Beides kommt nachweislich verstärkt in bestimmten Einwanderermilieus vor. Um Abhilfe planen zu können, ist es notwendig, über die Verhältnisse genau bescheid zu wissen. Denn dementsprechend sollten evtl. auch Sozialarbeiter und andere Fachkräfte mit entsprechendem MH und Sprachkenntnissen eingestellt werden.
So weit, so gut. Nun passiert es allerdings nicht selten (etwas untertrieben), dass bereits bestehende Bildungs- als auch Hilfsangebote gar nicht genutzt werden. In solchen Fällen muss erkannt werden, dass allein mit gutem Willen und bereitwilligem Entgegenkommen niemandem geholfen wird. Die Schuldfrage ist dabei zweitrangig. Will man sie trotzdem klären, kommt man unweigerlich zu der Erkenntnis, dass beide Seiten zu der Misere, in der wir hier stecken, fast gleichermaßen beigetragen haben. Das aber ist lediglich wichtig, wenn man sich mit Migrantenverbänden auseinandersetzt, da diese den Schwarzen Peter einseitig unserem Staat in die Schuhe schieben und sein Engagement einfordern.
Laut Thilo Sarrazin braucht ein Mensch in der heutigen BRD für eine anständige Nahrung lediglich 1.79 Euro pro Tag zum Essen.
Daher: wenn es kein billiges Gammelfleisch und kein Dioxin-Fleisch mehr gäbe, wie käme dann der normale Hartz-IV-Empfänger überhaupt noch zu seinem Essen???
Ich hoffe natürlich, dass die Dioxin-Futtermittelkonzerne immer noch für Lidl, Aldi und die Hartz-IV-Empfänger arbeiten werden, denn diese armen Konsumenten müssen ja auch noch was zum Fressen haben…. (und der Staat darf dann irgendwann mal auch noch die Kosten für die an Krebs erkrankten armen Lidl- und Hartz-IV-Konsumenten tragen….).
Mit besten Gruss an Thilo Sarrazin (auch so ein Dioxin-Sch…)
@ fox
„(Integrations-)Wutbürger“?
Davon war nirgends die Rede.
Selbst schuld, wenn Sie sich den Schuh „Sarrazin-Wutbürger“ anziehen.