Den Hochschulen wurde der Geist ausgetrieben

„Nichts über eine Sache wissen zu wollen, macht die Dinge nicht besser“, schreibt FR-Leitartikler Thorsten Harmsen in seinem Kommentar zum „March for Science“., bei dem am Samstag in 600 Städten weltweit Tausende von WissenschaftlerInnen und Interessierten für die Freiheit der Forschung, gegen Beschränkungen und gegen „fake news“ demonstrierten. In Frankfurt waren es 2400. Der „March for Science“ richtete sich aber auch explizit gegen Pläne des US-Präsidenten Donald Trump, Gelder in Staatshaushalt so umzuschichten, dass der Verteidigungshaushalt deutlich mehr bekommt – auf Kosten von Forschungsförderung und Klimaschutzprogrammen. Trump glaubt nicht an den von menschlichen Aktivitäten geförderten oder sogar gemachten Klimawandel. „Make America great again“, hat er versprochen. Dieses Ziel will er unter anderem mit einer Wiederbelebung der Kohleförderung und -verstromung erreichen, während der Rest der Welt nach dem Pariser Weltklimagipfel versucht, das Zwei-Grad-Ziel doch noch zu erreichen (also den globalen Temperaturanstieg pei zwei Grad zu begrenzen). Ohne die USA ist dieses Ziel vermutlich nicht zu erreichen.

Nichts über eine Sache wissen zu wollen, macht die Dinge nicht besser. Das ist völlig richtig. Man braucht Wissen, Informationen, um das Weltgeschehen, aber auch die Vorgänge im eigenen Dorf einordnen zu können. Wissenschaft schafft Wissen. Das betrifft nicht nur die sogenannten exakten Wissenschaften, also die Naturwissenschaften, sondern auch die Geisteswissenschaften, die heutzutage zunehmend ein Nischendasein führen. Doch ohne entscheidende Neuerungen in der Philosophie ist die Aufklärung nicht denkbar, jene Epoche der westlichen Kultur, deren Kennzeichen eine weitreichende Emanzipation des Individuums unter Betonung seiner Vernunftbegabung war. Beim „March for Science“ ging es zwar darum, die „Logik der Aufklärung“ zu verteidigen, wie der Wissenschaftsjournalist Ranga Jogeshwar im FR-Interview sagt, aber die Geisteswissenschaften sind dabei höchstens mitgemeint.

Dass der Kampf gegen Vorurteile – eines der Motive der Aufklärung – bis heute nicht zu Ende ist, ja, sogar wieder schwerer geworden ist, hat sicher auch mit dem Nicht-Wissen-Wollen gewisser Bevölkerungskreise zu tun, denen die Welt zu kompliziert ist und die sich lieber abschotten und mit einfachen Lösungen hantieren wollen. Doch Wissenwollen, Entdeckerlust, Neugier sind menschliche Eigenschaften und starke Triebfedern menschlichen Handelns. Sie führen zu Offenheit und Toleranz. Daher ist es gut, dass die Wissenschaft versucht, mit dem „March for Science“ in die Offensive zu gehen, auch gegen die anti-aufklärerischen Reflexe, die sich unter anderem im gegenwärtig erstarkenden Rechtspopulismus niederschlagen.

Es gilt allerdings auch, mit einem Missverständnis aufzuräumen: Von der Wissenschaft darf man keine „ewigen Wahrheiten“ erwarten. Wissenschaft ist das Ringen um Erkenntnis. Wissenschaftlicher Fortschritt passiert sogar im Grunde ausgerechnet immer dann, wenn eine Theorie als widerlegt betrachtet und zu den Akten gelegt werden muss, denn dann muss ein neuer Lösungsansatz her. Man kann wissenschaftlichen Fortschritt als eine Evolution von Ideen betrachten. Das ließe sich am besten sogar an der Evolutionstheorie nach Charles Darwin zeigen, wenn dies hier nicht zu weit führen würde. Nur so viel: Darwins Theorie war wegweisend und ist dennoch in vielem überholt, jedoch nicht in ihrem Kern. Bis heute steuern verschiedene Wissenschaftsdisziplinen von der Genetik über Ökologie bis zur Paläontologie ständig neue Erkenntnisse bei. Erst kürzlich las ich im „Spektrum der Wissenschaft“ einen Beitrag über Schwertwale, die sogenannten Orcas, bei denen sich derzeit offenbar verschiedene Arten herausbilden. Dabei scheint die Artenschranke – also der Punkt, an dem sich die Tiere nur noch innerhalb einer bestimmten Gruppe fortpflanzen, die sich von allen anderen unterscheidet – nicht durch geografische Hindernisse oder andere Selektionsfaktoren definiert zu werden, sondern durch kulturelle Eigenheiten: Die Tiere kommunizieren in verschiedenen Gruppen unterschiedlich miteinander, definieren anscheinend auf diese Weise ihre Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, in der sie sich dann fortpflanzen. Einen solchen kulturellen Selektionsfaktor hatten die Evolutionsbiologen bisher nicht auf ihrem Plan.

Wissenschaft schafft Wissen — und sie schafft Fakten. In der Medizin gibt es ständig Fortschritte bei der Krebsbekämpfung. Endlich wurde ein Malaria-Impfstoff gefunden, der in einer klinischen Studie eine Wirksamkeit von nahe 100 Prozent hatte – wenn sich das erhärtet, würde das einen Riesenfortschritt für Millionen von Menschen nicht nur in Afrika bedeuten. Ständig werden draußen im Weltall neue Planeten entdeckt. Sie sind zu weit weg, um beim gegenwärtigen Stand des technisch Möglichen zu ihnen zu reisen, aber wir können sie aus der Ferne erforschen, und immer bessere Teleskope werden uns mittelfristig viel über sie verraten. Aber auch die Suche nach Leben in unserem Sonnensystem zeitigt Fortschritte: Auf dem Saturnmond Enceladus scheint es unter seiner Eiskruste, die ihn äußerlich prägt, flüssiges Wasser zu geben. Die Daten der Raumsonde Cassini von einem Vorbeiflug im Jahr 2015 deuten darauf hin. Damit könnte es in der Tiefe eines – bisher hypothetischen – Ozeans unter der Eiskruste Voraussetzungen geben, unter denen dort Leben entstanden sein könnte. Auch auf der Erde gibt es Bakterien, die in der Nähe von Thermalquellen leben. Auf Enceladus hätten sie sich unabhängig vom Leben auf der Erde entwickelt. Ähnliche Überlegungen gibt es auch über andere Monde der Planeten Saturn und Jupiter.

Dies sind nur wenige Beispiele dafür, wie Wissenschaft zur Horizonterweiterung führt. Es geht dabei nicht immer um praktischen Nutzen. Auch Erkenntnisse über Dinge, die scheinbar weit von uns entfernt geschehen, haben das Zeug, unsere Weltsicht zu verändern. Das Paradebeispiel dafür ist natürlich die kopernikanische Revolution, welche die Sonne ins Zentrum unseres Sonnensystems versetzte und die Erde zu ihrem Trabanten machte. Die Entdeckung von Leben auf einem anderen Himmelskörper hätte eine ähnliche Qualität.

Es kann also kein Zweifel daran bestehen, dass wir Wissenschaft brauchen — und zwar nicht nur im fernen Elfenbeinturm, sondern auch als konkrete Berater der Politik. Dass Donald Trump nicht an den Klimawandel glaubt, sollte seine Privatsache sein, denn der Klimawandel ist wissenschaftlich belegt, die Forschung ist sich einig über seine Existenz. Findet Professor Joachim Curtius vom Institut für Atmosphäre und Umwelt der Goethe-Universität Frankfurt, der beim „March for Science“ in Frankfurt geredet hat. Donald Trump sollte auf die Wissenschaftler hören. Glauben ersetzt keine Fakten.

fr-balkenLeserbriefe

Ralf Brust aus Roßdorf fragt:

„Warum vertrauen die Menschen der Wissenschaft immer weniger und suchen sich lieber ihre eigene Wahrheit? Weil wir immer öfter betrogen werden. Keine Schandtat, die uns nicht mit „wissenschaftlichen“ Gutachten verkauft wird. Wenn sich die Wissenschaft so offensichtlich kaufen lässt, merken das die Leute. Man darf sich also über die Entwicklung nicht wundern.
Die so viel gepriesene Aufklärung hat uns wichtige (aber eben nur) Erkenntnisse über die materielle Welt gebracht. Leider gilt nur, was wir mit den Sinnen wahrnehmen bzw. messen, berechnen und beweisen können. Also ist die Wissenschaft für den übrigen, eigentlichen Teil der Realität blind. Den kann man nicht mit dem Verstand erfassen und auch nicht „beweisen“, nur erleben. Also gibt es ihn gar nicht. Die Wissenschaft verweist in ihrer Überheblichkeit alles geistige, zunächst nicht greifbare in den Bereich des (Aber)glaubens und der Spekulation. Nicht würdig, sich damit zu befassen. Und sie maßt sich an, mit ihrem Wissen über die eine Hälfte die Welt zu erklären.
Anstatt alles zu zergliedern und immer mehr Einzelteile zu betrachten, müsste sie jetzt primär den Blick auf das Ganze richten, in dem jedes Wesen seinen berechtigten Platz hat. Langsam merken es die Menschen, dass Politik und (institutionelle) Religion und schon gar nicht die Wissenschaft ihre existenziellen Fragen nicht beantworten können.
Also begibt man sich im besten Fall selbst auf die Suche. Und wer noch nicht so recht weiß, was er eigentlich sucht und noch am üben ist, der muss vielleicht auch noch lernen, wo es hinführt, wenn man mit dem Bauch einen Toren zu seinem Anführer wählt.
Die Wissenschaft verständlich zu erklären, dabei erfüllt Herr Yogeshwar eine wichtige und anerkannte Funktion. Es würde mich freuen, wenn er dabei helfen könnte, die ganze Welt als Betätigungsfeld zu sehen.“

Regina Neumann aus Marburg:

„Bei allem Respekt: Auch „die Wissenschaft“ hat Irrtümer produziert, die in politisches Handeln umgesetzt fürchterlichen Folgen hatten. Ich denke nur an die Eugenik, die über Jahrzehnte als anerkannte Wissenschaft galt und in etlichen Ländern zu Zwangssterilisierungen (und Schlimmerem) geführt hat. Ein anderes Beispiel: Paracetamol wurde lange Jahre als völlig harmlos propagiert, galt fast als „homöopathisches Mittel“. Das hat sich als fataler Irrtum herausgestellt. Oder an wissenschaftliche Wahlprognosen …
Ewige Wahrheiten gibt es eben nur in der Religion, „Wissenschaft ist das Schreiten von Irrtum zu Irrtum“. Um es klarzustellen: Diese Irrtümer aufzuklären, ist Sache der Wissenschaft selbst. Aber so zu tun, als ob sie mit ihrer Interpretation von Fakten nur „ewige Wahrheiten“ produziere, wird dem Problem auch nicht gerecht.“

Andreas Ohme aus Jena:

„Die Wissenschaft ist in Gefahr! Darauf hat Ranga Yogeshwar anlässlich des „March for Science“ hingewiesen und in seinem Interview mit der FR gefordert: „Deshalb muss die Wissenschaft jetzt aufstehen und die Logik der Aufklärung verteidigen.“ So richtig diese Forderung auch ist, so oberflächlich ist die ihr zugrunde liegende Analyse. Es reicht nicht aus, die Populisten für die Wissenschaftsfeindlichkeit verantwortlich zu machen. Stattdessen wäre zu diskutieren, was die Ursachen für diesen Populismus sind.
In diesem Zusammenhang ist an die berühmte Antwort Immanuel Kants auf die Frage, was Aufklärung sei, zu erinnern, nämlich „der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Zweierlei ist darin impliziert: 1. Dass der Mensch aufgrund seiner Rationalität zu einem solchen Ausgang befähigt ist. 2. Dass der Ausgang die Einsicht voraussetzt, dass der Mensch seine Unmündigkeit selbst verschuldet hat. In diesem Sinne wäre danach zu fragen, ob die Wissenschaft zu ihrem Vertrauensverlust in der Gesellschaft nicht selbst beigetragen hat.
Einiges spricht dafür, und zwar sowohl auf struktureller als auch auf inhaltlicher Ebene. Die Bologna-Reform mit ihrer Vermassung und Verschulung der Universitäten hat massiv dazu beigetragen, den Geist aus den Hochschulen auszutreiben. Bildung wurde zur Ausbildung, um die Studierenden für den Arbeitsmarkt fit zu machen. Im Zentrum steht deshalb nun die Vermittlung von Kompetenzen, die die „employability“ der Absolventen gewährleisten sollen. Die akademische Kernkompetenz, nämlich die Fähigkeit zur kritischen Reflexion über die jeweiligen Fachgegenstände, bleibt dabei allzu häufig auf der Strecke. Am deutlichsten wird dieser Umstand wohl in den an US-Hochschulen verbreiteten sogenannten „trigger warnings“, mit denen die Studierenden im Namen der „political correctness“ auf Inhalte hingewiesen werden, die auf sie möglicherweise verstörend wirken könnten (die FR berichtete). Anstatt sich mit alternativen und kontroversen Sichtweisen auseinanderzusetzen, die unter dem Gesichtspunkt ihrer jeweiligen historischen Bedingungen zu diskutieren wären, meidet man genau diese Diskussionen bis hin zum Sprechverbot. Zweifellos ein Verstoß gegen die Idee der Aufklärung!
Aber auch im fachwissenschaftlichen Diskurs selbst wird eine Diskussion immer schwieriger. Ursache hierfür ist die Preisgabe eines intersubjektiven Wahrheitsbegriffs im Zuge poststrukturalistischer Erkenntnistheorien, wie etwa im radikalen Konstruktivismus. Nach ihm ist die Sprache überhaupt nicht in der Lage, die Welt abzubilden, vielmehr kann sie lediglich unterschiedliche Versionen von ihr entwerfen. An die Stelle von Fakten treten damit verschiedene Perspektiven, die sich letztlich nicht mehr überprüfen lassen, weil die jeweiligen Gegenstände ja nicht für sich existieren, sondern nur konstruiert sind. Deshalb kommt es auch nicht mehr auf den Wahrheitsgehalt der Aussagen an, sondern lediglich auf deren Authentizität. Wegen der gebotenen Kürze vereinfache ich an dieser Stelle natürlich hochkomplexe Probleme, doch sollten sich die Vertreter konstruktivistischer Positionen zumindest die Frage stellen, ob sie mit ihren pointierten Sprachspielen nicht genau solchen Vereinfachungen Vorschub leisten, die dann allzu gerne auch von den Populisten aufgegriffen werden. Die Rede von „alternativen Fakten“ wäre ohne das gesunkene Diskursgut des Konstruktivismus jedenfalls nicht möglich.
Natürlich ist es richtig, wenn die Wissenschaft gegen den Populismus ihre Stimme erhebt. Glaubwürdig ist es aber erst dann, wenn sie dies auf der Basis eines kritischen – und damit aufklärerischen – Selbstreflexionsprozesses tut, der die neoliberale Hochschulpolitik der letzten 20 Jahre ebenso hinterfragt wie die in den letzten Jahrzehnten populär gewordenen erkenntnistheoretischen Positionen.“

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47 Kommentare zu “Den Hochschulen wurde der Geist ausgetrieben

  1. Zunächst ist festzuhalten, dass der FR-Leitartikler nicht vom ‚March for Science‘, sondern vom ‚March of Science‘ schreibt: „Auf ihrem March of Science forderten sie…“. Warum auch immer? Das dürfte ein Fauxpas sein.

    Sie, lieber Bronski, schreiben, dass es in der Medizin ständig Fortschritte bei Bekämpfung der Krebserkrankung gäbe. Dem entgegen steht die Zahl der Krebstoten, die dramatisch steigt. Seit 1970 hat sich deren Anzahl verdoppelt. Das läge, sagt man, auch an der zunehmenden Lebenserwartung. Menschen, die heute an Krebs sterben, würden im Schnitt 74 Jahre alt, vier Jahre älter als um 1980. Das sind Aussagen des Gesundheitsministeriums, das in seinem „Bericht zum Krebsgeschehen in Deutschland 2016“ Erfolge vermelden will. Darin steckt die Krux der Wissenschaft, die der Leitartikler nicht angesprochen hat: Die gesellschaftlich-politische Einordnung der Ergebnisse und die von Interessen geleitete Auftragsarbeiten innerhalb der Forschungsgemeinschaft. Ich verweise auf die Drittmitteleinwerbung der Universitäten. Drittmittel sind Gelder, die von außen, oft von der Wirtschaft, an die Hochschulen für bestimmte Forschungsbereiche gegeben werden.

    Die Interpretation der Zahl der Krebstoten mutet schon ein wenig absurd an, wenn Fortschritte in der Bekämpfung der Krebserkrankung gefeiert werden, aber gleichzeitig doppelt so viele Menschen an dieser Krankheit sterben wie vor 40 oder 50 Jahren. Die Wissenschaftler müssten in diesem Fall an den Ursachen dieser Entwicklung interessiert sein und sich auf Präventionsforschung einlassen. Es könnte sein, dass man auf Faktoren stößt, die den wirtschaftlichen Interessen der Pharma-Industrie bzw. der Industrie im Allgemeinen zuwiderlaufen. Aber das ist nur eine Hypothese. Erst müsste geprüft werden, ob eine Plausibilität überhaupt zu erwarten ist, bevor diese These weiter verfolgt wird. Es könnte aber auch sein, dass Wissenschaftler an den Ursachen der rapide steigenden Zahl der an Krebs Sterbenden interessiert sind, jedoch keine Gelder (Drittmittel) da sind, die sie in diesem Bereich Erkenntnisse gewinnen ließen.

  2. Wenn man das Wort Fakten googelt und nach einem Wikipedia-Eintrag sucht, wird man auf den Begriff Tatsachen umgeleitet. Es gibt bei Tatsachen zwei Unterkapitel: 1. Rechtswissenschaft und 2. Philosophie und Theologie. Ein Unterkapitel Naturwissenschaft gibt es nicht.
    Durch die Klimaforschung hat eine wahrscheinlich bisher einmalige Politisierung der Naturwissenschaft stattgefunden. Plötzlich ist in der Naturwissenschaft von Fakten, bei denen implizit immer mitschwingt, dass sie beweisbar sind und Wahrheiten die Rede. Man kann aber und will in der Naturwissenschaft auch gar nichts beweisen. Die Naturwissenschaft entwickelt Theorien zur Beschreibung der Phänomene mit dem Ziel der Vorhersagbarkeit. Die meisten Theorien sind vermutlich falsch. Aber das macht nichts, weil auch falsche Theorien häufig brauchbar sind.
    Die Theorien seines Kollegen in Frage zu stellen, galt mal als die vornehmste Aufgabe des Wissenschaftlers. Heute gilt es oft als inakzeptables Abweichlertum.
    Wenn ich in die Universität gehe, lese in an der Wand immer den Spruch: «Wahrheit, ist was uns verbindet» und es befällt mich ein Unbehagen.
    Wenn die Wahrheit in der Naturwissenschaft bekannt ist, dann kann man aufhören.

  3. Wer „der Klimawandel“ schreibt gehört sowieso erschossen, äh halt, der hat schon wissenschaftlichen Suizid begangen. Wer „glaubt“ in solchem Kontext benutzt ist auch nicht besser!

    Wer die anthropogene Komponente meint soll die auch klar benennen…

    Theologische Begriffe und „Erlösungswahrheiten“ haben im wissenschaftlichen Diskurs nichts verloren!

  4. @ Rudi

    Danke für den Hinweis bzgl. „March of Science“. Ich hatte diesen Fehler ebenfalls überlesen. Die Korrektur wurde veranlasst.

    Sie bewerten die Erfolge der Krebsforschung allein anhand der vermeintlichen Misserfolge bei der Rettung von Krebsopfern. Damit werden Sie der Krebsforschung nicht gerecht. Aus zwei Gründen.

    Erstens: Krebsforschung ist Grundlagenforschung, also eine langwierige Sache. Noch Anfang der 1970er Jahre hieß es über Krebs, dass alles, was es an wissenschaftlicher Erkenntnis darüber gibt, Platz auf einer Visitenkarte finde (frei zitiert nach einem Bericht von „Bild der Wissenschaft„). Ich denke daher, dass Sie Ihren Anspruch an die Forschung ein wenig auf ein realistisches Maß zurückschrauben sollten. Inzwischen ist Krebs und seine Entstehung kein Geheimnis mehr, und es gibt Therapieansätze, die in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren gute Chancen haben, Krebs zu besiegen. Diese Fortschritte sind vor allem an die Gendiagnostik gekoppelt. Die Grundlagen dafür wurden unter anderem mit dem Humangenomprojekt geschaffen, das erst seit 14 Jahren als abgeschlossen gilt.

    Zweitens: Dass wir länger leben als noch im Jahr 1970, ist nur einer von mehreren Aspekten, die man berücksichtigen sollte, wenn man mit diesen Statistiken hantiert. Angeblich gibt es sogar weniger Krebstote als 1970, wenn man den Anstieg des Durchschnittsalters herausrechnet — wie auch immer das gemacht werden könnte. Ich habe diese Angaben nicht überprüft, sondern einem Artikel von n-tv entnommen.

    Daneben gibt es andere Gründe für die gestiegenen Opferzahlen, etwa unsere Lebensweise. Wir bewegen uns zu wenig und essen zu viel Industriefutter mit denaturierten Bestandtteilen. Das scheint bestimmte Krebsarten zu fördern, die im Vergleich zu 1970 häufiger auftreten, etwa Bauchspeicheldrüsenkrebs und Lebertumore, die kaum heilbar sind. Auch Diabetes wird von dieser Lebensweise gefördert. Viele Menschen praktizieren exzessives „Sonnenbaden“. Der Zusammenhang von UV-Strahlung mit dem malignen Melanom (schwarzer Hautkrebs) war 1970 weit davon entfernt, erkannt zu werden. Inzwischen gibt es nach einem Bericht der „Welt“ einen Durchbruch in der Forschung, der zu einem Heilmittel führen soll. Erhöhter Kontakt mit Umweltgiften (denken Sie an die neuen Erkenntnisse zur krebserregenden Wirkung von Dieselabgasen) spielt ebenfalls eine Rolle im Vergleich zu 1970, würde ich annehmen, ebenso Erkenntnisse über Krebsarten, die von Viren ausgelöst werden und von denen man 1970 noch nichts wusste. Die Sache ist also komplex.

    Dass Fortschritte in der Krebsbekämpfung gefeiert werden, während die Zahl der Krebstoten absolut zugenommen hat, ist daher meines Erachtens nur auf den ersten Blick absurd.

  5. @ Karl Müller, 25.4., 13:42

    Ich gehöre also erschossen bzw. habe mich bereits selbst umgebracht. Also, wissenschaftlich umgebracht, gewissermaßen bildlich gesprochen. Na gut, wenn Sie meinen … Dann bin ich jetzt also tot. Hmmm, das empfinde ich ein bisschen anders. Ich werde nicht so gern erschossen. Auch nicht mit den Mitteln sprachlicher Gewalt.

    Die Kritik zu meiner Wortwahl bzgl. Klimawandel ist richtig, und so habe ich meinen Text oben angepasst. Der beanstandete Satz lautet nun:

    „Trump glaubt nicht an den von menschlichen Aktivitäten geförderten oder sogar gemachten Klimawandel.“

    Das „glaubt“ bleibt stehen, weil ich nicht glaube, dass Trump auch nur eine einzige wissenschaftliche Studie selbst gelesen oder sich mit dem Thema sonstwie vertiefend befasst hat.

    Und noch was: Wir sind hier nicht im wissenschaftlichen Diskurs, sondern im Diskurs über die Wissenschaft. Da dürfen Sie, Herr Müller, jetzt nicht mehr mitreden, ohne erschossen zu werden.

  6. @Bronski
    Anlässlich seines neulich erschienen Buches „Der betrogene Patient“ veröffentlichte die FR vor einigen Tagen ein Interview mit dem Arzt Gerd Reuther. Seine Darstellung des Medizingeschäfts belegt er mit hunderten von Quellenangaben. Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen, auch wenn es manchmal schwer fällt, die Inhalte zu verarbeiten, weil jegliches Vertrauen in die moderne Medizin schwindet. Reuther weist darauf hin, dass bei Menschen seit den letzten 150 Jahren je Jahrzehnt das Lebensalter im 2,5 Jahre ansteigt, also weit länger schon, als die Medizin dies durch ihr Zutun hätte beeinflussen können. In den USA und Frankreich sei 2015 erstmals eine rückläufige Lebenserwartung gemeldet worden. Das Sterbealter in der EU stagniere seit fünf Jahren. Seit 1990 läge die Quote der Sterbefälle in D bei 1% der Bevölkerung, zwischen 830.000 und 930.000. Noch immer würde rund ein Fünftel der Männer das 66. Lebensjahr nicht erreichen.

    Das 1964 gegründete Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) hat inzwischen ein Jahresbudget von über 200 Millionen Euro. 3.000 Mitarbeiter sollen grundlagenforschend dem Krebs Einhalt gebieten. Reuther schreibt über diese Einrichtung: „Ein halbes Jahrhundert nach seiner Gründung sind fast alle Krebserkrankungen unverändert unheilbar.“ Seine Bilanz ist ernüchternd. Dass von ärztlicher Seite, genauer eigentlich von der Pharma-Industrie, immer wieder eher euphorische Meldungen verbreitet werden, etwa bezüglich der Gentherapie, liegt hauptsächlich an deren wirtschaftlichem Eigeninteresse. Die Grenze zwischen wissenschaftlicher Information und pharmazeutischem Marketing ist nicht mehr zu ziehen. Die Mehrzahl der Autoren zu medikamentösen Therapien in Fachzeitschriften, sei, so Reuther, von Interessenkonflikten betroffen. Die Fortbildungspflicht der in Deutschland praktizierenden Ärzte könne inzwischen durch gesponserte Veranstaltungen der Pharma-Industrie vollständig abgedeckt werden.

    Das ist kein gutes Zeichen für die Wissenschaft. Deren Unabhängigkeit wird zwar beschworen, ist real jedoch immer weniger vorhanden. Der Boom der Fachhochschulen und privaten Hochschulen ist auch in diesem Zusammenhang zu sehen. Im Zentrum steht die fachspezifische Ausbildung zum Mitarbeiter in der Industrie. Private Hochschulen rühmen sich, „maßgeschneiderte Studiengänge“ bieten zu können. Die Sparkassen-Finanzgruppe bietet einen Studiengang „Bankwirtschaft“. Die Fachhochschule der Wirtschaft wirbt mit „berufsbegleitenden Studiengängen“.

    Quelle: http://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/boom-private-hochschulen-100.html

  7. @ Rudi

    Sie reden von Medizingeschäft, ich von Forschung, in diesem Fall von Grundlagenforschung. Das sind völlig verschiedene Dinge, die man gründlich auseinanderhalten sollte. Ich würde Ihnen empfehlen, sich dem Thema mal von der anderen Seite her anzunähern, vom Forschungsgegenstand her, dem Krebs selbst. Sie werden schnell erkennen, wie fremdartig und komplex die Materie ist. Es ist unrealistisch zu erwarten, dass man umso schneller zu Ergebnissen kommt, je mehr Millionen man hineinbuttert. Es kommt im Gegenteil darauf an, grundlegende Kenntnisse zu erwerben, und das dauert eben seine Zeit. Es liegt in der Natur der Dinge, dass sich mit diesem Fortschritt auch die Methoden verändern, mit denen man an die Dinge herangeht. Sie haben vielleicht schon einmal von der CRISPR/Cas-Methode gehört, einem Verfahren, um DNA gezielt zu schneiden. Sie ist erst seit 2012 in Gebrauch und wurde 2015 von der Fachzeitschrift „Science“ zum „Durchbruch des Jahres“ gekürt. Mit ihr werden auch in der Krebsforschung schnell neue Erkenntnisse gewonnen, aber auch nach diesem „Durchbruch“ gibt es keinen Endstand der Forschung und wird es nie einen geben, weil immer wieder neue Fragen auftauchen werden. Meiner Einschätzung nach wird der Sieg über den Krebs nicht mit einzelnen medikamentösen Therapien geschafft werden, auch wenn es damit Einzelerfolge geben wird, sondern mit Gentherapie. Hier kommen Probleme ethischer Natur ins Spiel, denn dazu wird man am menschlichen Erbgut herumschneiden müssen, um jene Gene zu ersetzen, die für den Krebs verantwortlich sind. Aber damit werden wir uns beschäftigen, wenn es soweit ist. Vielleicht in zwanzig Jahren.

    „Die Grenze zwischen wissenschaftlicher Information und pharmazeutischem Marketing ist nicht mehr zu ziehen“, schreiben Sie. Das war eigentlich nie anders bzw. es war schon immer ein Skandal. Schon Robert Koch hat die Zusammensetzung seines Tuberkulose-Heilmittels geheim gehalten, weil er es vermarkten wollte. Das wird ihm niemand verdenken, und dieses gewinnorientierte Denken schmälert seine Leistung nicht. Heutzutage kann man Entdeckungen patentieren lassen und sich so auch die Erträge sichern; das war damals noch nicht möglich. Selbstverständlich haben Forscher und Ärzte auch ihr eigenes Wohl im Kopf, aber die Mehrheit von ihnen weiß vermutlich, dass diesem eigenen Wohl am besten gedient ist, wenn sie gute Arbeit abliefern und zufriedene Patienten haben. Auch Gerd Reuther verfolgt natürlich ein Geschäft, wenn er ein Buch über das Medizingeschäft vorlegt. Dieser Interessenkonflikt ist dem System immanent. Daran werden Sie nichts ändern können, aber man kann darüber aufklären und so die Grenzen für Betrug und Missbrauch herabsetzen. Durch eine informierte Öffentlichkeit, aber auch durch entsprechende Gesetze. Ich stimme Ihnen allerdings in der Einschätzung zu, dass im Medizingeschäft nicht alles zum Besten geregelt ist.

    Nun ziehe ich mich aus der Diskussion heraus, da ich sehr beschäftigt bin, verbunden mit der Bitte, beim Thema zu bleiben. Das ist der „March for Science“ und seine Motive.

  8. Zum Artikel: „Wissen schafft Lösungen“
    Es heißt dort: „Die Forscher konnten auch nachweisen,..“ Nachweis wird hier sicherlich als Synonym für Beweis benutzt. Wieso kamem in meinem Physikstudium Beweise nicht vor und auch in meinen Physikbüchern finde ich nichts über Beweise. Ein Kollege fragte mich mal, woran Einstein erkannte, dass seine Relativitätstheorie wahr sei. Die Antwort ist, dass man in der Physik nichts beweisen kann und daher auch nicht wissen kann, ob es etwas wahr ist. Das macht auch nichts, weil es in der Physik nicht um Wahrheit geht. Wem es um Wahrheit geht, der muss Philosophie oder Theologie studieren.

  9. @ Henning Flessner

    Als vormals theoretischer Physiker kann ich ihrem Widerspruch gegen die Aussage „Die Forscher konnten auch nachweisen …“ nicht ganz zustimmen. Wenn Beobachtungen (d.h. Ergebnisse von Messungen) mit den Vorhersagen der Theorie übereinstimmen, kann man durchaus vom „Nachweis“ sprechen. Das ist natürlich kein mathematischer „Beweis“ einer Theorie. In diesem Sinn gibt es auch Tatsachen, wie etwa die, dass ein Stein auf der Erde zum Boden fällt und dass das Newtonsche Gravitationsgesetz diese Bewegung richtig beschreibt. Dies kann man als „wahr“ bezeichnen, auch wenn dieses Gesetz nur eine im bestimmten Bereich gute Näherung einer komplexeren Theorie ist. Ich würde durchaus auch als nachgewiesene Tatsache bezeichnen, dass sich die Erde um die Sonne bewegt und nicht umgekehrt. Oder sprechen Sie der Kirche der Zeit von Galilei das Recht auf alternative Tatsachen zu?

  10. @JaM
    Ich bin nicht der Meinung, dass man Theorien durch Messungen verifizieren kann. Ich glaube Positivisten sind dieser Meinung. Ich halte es mehr mit Karl Popper.
    Kopernikus konnte wohl noch der Meinung sein, dass die Erde sich um die Sonne dreht. Spätestens seit Newton sollte man der Meinung sein, dass Erde und Sonne sich um ihren gemeinsamen Schwerpunkt drehen. Die „nachgewiesene Tatsache“, dass die Erde sich um die Sonne dreht, ist also falsch.
    Ein Kollege hat mich vor ein paar Jahren gefragt, woher Einstein wusste, dass seine Relativitätstheorie wahr ist. Ich war so verblüfft, dass ich ihn bitten musste, die Antwort auf den nächsten Tag zu verschieben. Meine Antwort ist, dass wir nicht wissen und nicht wissen können, dass physikalische Theorien wahr sind.
    Wenn wir wüssten, dass etwas wahr ist („The science is settled.“), dann könnten wir zumindestens in diesem Bereich die Forschung einstellen. Meine Befürchtung ist, dass man mit dem Anspruch auf Wahrheit lediglich seine Kritiker mundtot machen will.

  11. Als der ältere Bruder meines zweitjüngsten Geschwisters, das an einem Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte und nur wenige Monate, nachdem die Diagnose gestellt war, verstorben ist, halte die von Bronski am 26. April um 0:25 Uhr angestellte Vermutung, dass Bewegungsmangel und der Konsum „von zu viel Industriefutter mit denaturierten Bestandteilen“ die Tumorbildung fördert, für ziemlich gewagt. Immerhin gilt es zu bedenken, dass dem Einzelnen in seiner empirisch stets vollständigen Wirklichkeit das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Konsequenz dieses Tatbestands nicht als Abstraktum innewohnt. Angesichts dessen sind vorrangig die Legionen unterkomplexer Zugriffe auf die Träger menschlicher Arbeitskraft zu kritisieren. Ansonsten verfängt sich jegliche Untersuchung der Gründe für die absolute Abwesenheit infolge des unwiederbringlichen Entzugs ihrer körperlichen Gegenwart in einem Zirkelschluss. Ich für meinen Teil weigere mich jedenfalls kategorisch, so zu tun, als ob der Exitus meines Geschwisters selbstverschuldet ist, weil das voraussetzen würde, dass gleich welchem Handeln keine Unmittelbarkeit fehlt. Zumindest mit den bislang auch von mir gewonnenen Befunden ist solch eine Behauptung nicht in Einklang zu bringen und somit letztlich gegenstandslos, solange es Dritten nicht gelingt, wenigstens dem dadurch auf demokratische Weise im Zuge nicht erhobener Einsprüche legitimierten Erkenntnisstand wirksam zu widersprechen; wobei ich dieses Unterfangen sozialwissenschaftlicher Laien zugegebenermaßen schon im Ansatz für gescheitert erachte.

  12. @ Henning Flessner

    „Die „nachgewiesene Tatsache“, dass die Erde sich um die Sonne dreht, ist also falsch.“

    Tatsächlich befindet sich das Baryzentrum, also der Massemittelpunkt, des Erde-Sonne-Systems im Innern der Sonne, wenn auch nicht in ihrem Mittelpunkt. Ihre oben zitierte Behauptung ist also falsch. Richtig wäre die Formulierung:

    Die „nachgewiesene Tatsache“, dass die Planeten des Sonnensystems sich um die Sonne drehen, ist falsch.

    Diese Behauptung wäre deswegen richtig, weil es bei bestimmten Konstellationen (wenn die massereichen Planeten Jupiter und Saturn in Konjunktion stehen) zu dem Phänomen kommt, dass sich das Baryzentrum des Sonnensystems durch die Schwerkraft dieser großen Planeten um bis zu 50.000 Kilometer über der Sonnenoberfläche befinden kann. Trotzdem würde ich auch in diesem Fall die Behauptung als erwiesen gelten lassen, dass die Planeten um die Sonne kreisen, weil sie annähernd stimmt und die zu beobachtende Realität plausibel wiedergibt. Meines Erachtens ist es nicht sinnvoll, in der Forschung in Kategorien von Wahr und Falsch zu denken, sondern, da es immer um Theorien und damit um die Annäherung an die Wirklichkeit geht, in Kategorien wie pausibel, denkbar, möglich, wahrscheinlich.

    Sind Sie sicher, dass Einstein seine Relativitätstheorie für „wahr“ hielt? War er nicht lediglich davon überzeugt?

  13. Der Fortgang der Diskussion um March for Science zeigt, dass das damit verbundene Ansinnen, die Wissenschaft schaffe Fakten im Gegensatz zu jenen, die sich nicht unmittelbar auf diese Disziplin berufen, nicht zwingend zu überdauernden „Wahrheiten“ führt. Habermas‘ prägte den Begriff der erkenntnisleitenden Interessen. Er sprach den empirisch-analytischen Wissenschaften ein technisches Erkenntnisinteresse zu, das auf Verwertbarkeit zielt. Dieses Erkenntnisinteresse hat in den letzten Jahrzehnten eindeutig die Oberhand gewonnen. Ich versuchte dies im Bereich der medizinischen Forschung deutlich zu machen. Der derzeit gebrauchte Bildungsbegriff zielt stets auf die Arbeitswelt. Der Bildungsansatz von Adorno, der die Gesellschaftskritik in den Mittelpunkt stellte, oder das Humboldt’sche Bildungsideal (Stichworte: autonomes Individuum, Weltbürgertum) sind vom Neoliberalismus versenkt worden. Statt Weltbürgertum heißt es jetzt Globalisierung. March for Science setzte sich über dieses Problem weitgehend hinweg. Erreicht werden sollte – auch in der Rezeption der Presse und in deren Vorberichterstattung –, dass ausschließlich das technische Erkenntnisinteresse mit Wissenschaft gleichgesetzt wird. Der Autor des Leitartikels hat seinen Teil dazu beigetragen.

  14. @Bronski
    Was Sie richtig beschrieben haben, ist der Standpunkt der Newtonschen Physik. Wenn Sie sich auf den Standpunkt der Relativitätstheorie stellen, können Sie auch die Erde (oder irgendeinen anderen Punkt) als ruhend annehmen und alles sich relativ zu diesem Punkt sich bewegen alles. Das würde keinen Naturgesetz widersprechen. Aber darum geht eigentlich gar nicht.
    “ Meines Erachtens ist es nicht sinnvoll, in der Forschung in Kategorien von Wahr und Falsch zu denken, sondern, da es immer um Theorien und damit um die Annäherung an die Wirklichkeit geht, in Kategorien wie pausibel, denkbar, möglich, wahrscheinlich.“ Zustimmung, Zustimmung und nochmals Zustimmung!!! (Vielleicht an Ende „oder brauchbar“ anfügen.)
    Da sehe ich ja gerade heute eine Gefahr für die Naturwissenschaft durch die Einführung von Wahrheit. Andere scheinen da kein Problem zu sehen.

    Ich habe nicht geschrieben, dass Einstein seine Relativitätstheorie für wahr gehalten hat. (Die kosmologische Konstante hielt er für seine „größte Eselei“.) Die Frage nach der Wahrheit einer physikalischen Theorie hat mich so verwirrt, dass ich einen Tag sprachlos war, weil Physik und Wahrheit für mich zwei Dinge sind, die nichts miteinander zu tun haben.
    Die Relativitätstheorie hat sich in der Beschreibung der Phänomene tadellos bewährt, genau wie die Quantentheorie. Dummerweise können nicht beide richtig sein. Aber sie sind beide extrem gut brauchbar und das ist das Entscheidende.

  15. @Rudi
    Ist das Humboldsche Bildungsideal nicht auch etwas, dass auch eine grossbürgerliche Gesellschaft voraussetzt, deren Mitglieder sich um den Broterwerb nicht zu kümmern brauchen?
    Wie viele Stunden Adornos fuhren später Taxi? Kann das sinnvoll sein?
    Ich habe kein Problem damit, dass man in der Universität das lernt, was man später im Beruf braucht.
    In meinen ersten Berufsjahren habe ich mich sehr darüber geärgert, dass ich viele Dinge, die eigentlich Basiswissen in meinem Beruf waren, nicht gelernt habe. Ich habe z. B. mich vor Kunden blamiert, weil ich technische Zeichnungen nicht richtig lesen konnte.
    Ich bin aber auch der Meinung, dass es einem Naturwissenschaftler nicht schadet, wenn er etwas über Logik und Erkenntnistheorie weiß. Mit einem Studium generale könnte ich mich anfreunden.
    Was ich kritisch sehe, ist die Spezialisierung des Studiums. Wenn ein Student derart spezialisiert ausgebildet wird, dass es in seinem Gebiet nur ein oder zwei Arbeitgeber gibt, dann kann das m. E. nicht sinnvoll sein. Die Industrie unterstützt dies mit ihren unnötig detaillierten Stellenausschreibungen auch noch. Wer sein Studium schafft, kommt auch im Beruf zurecht. Die Anforderungen sind dort in der Regel geringer. Viele junge Kollegen haben sich über zu viel Arbeit, aber auch darüber beschwert, dass sie intellektuell nicht ausgelastet seien.
    Ich habe auch meine Zweifel bei der anwendungsorientierten Forschung an der Universität. Die Firmen brauchen diese Forschung eigentlich nicht. Die Forschungsanwendungen der deutschen Industrie sind viel höher als was in den Universitäten ausgegeben wird. Mittelständische Unternehmen können sich eine Unterstützung der Universitätsforschung meistens gar nicht leisten.

  16. „Dass Fortschritte in der Krebsbekämpfung gefeiert werden, während die Zahl der Krebstoten absolut zugenommen hat, ist daher meines Erachtens nur auf den ersten Blick absurd.“ (Bronski)

    Es ist sogar alles andere als absurd und die Zusammenhänge lassen sich auch relativ einfach darstellen (wird trotzdem länger als gewünscht – Bronski mag entscheiden, ob er es durchgehen lässt):

    Krebs beruht im Grunde auf einer Mutation bei der normalen Zellteilung, also nicht in der Keimbahn, sondern bei den normalen Körperzellen. Man kann auch sagen, dass es sich um einen genetischen Unfall handelt. Die sind an sich sehr selten, haben aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit, die Gesamtwahrscheinlichkeit nimmt also mit der Zahl der Zellteilungen und damit mit dem Alter zu.

    Es gibt aber dann noch ein paar weitere Randbedingungen, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, das kann die Gegenwart bestimmter Stoffe sein – es gibt Chemikalien , die so sicher erbgutverändernd sind, dass sie in staatlichen Labors nur unter Sondergehmigung und mit Sicherheitsauflagen benutzt werden dürfen, es reicht aber auch energiereiche Strahlung. Strahlende Stoffe, die aufgenommen werden und keine hohe eigene Toxizität besitzen, erhöhen also das Krebsrisiko. Der UV-Anteil der Sonnenstrahlen erhöht das Krebsrisiko in der Haut.

    Die anderen inzwischen bekannten Stoffe, die das Krebsrisiko erhöhen sind z.T. natürlich , z.T. künstlich. So würde ich z.B. den Giftcocktail aus dem Zigarettenrauch noch natürlich nennen, auch er enthält krebserregende Stoffe. Dann gibt es Bakterien, die krebserregende Stoffe erzeugen (auch natürlich) und sogar körpereigene Prozess, die das tun, z.B. chronische Entzündungen.

    Zu diesen natürlichen Ursachen haben wir künstlich noch eine große Menge Stoffe dazugepackt, die mit Sicherheit noch nicht alle erkannt sind und deren Kontakt mit uns in der Verteilung noch unbekannt ist.

    Trotzdem ist meines Wissens die Krebsrate bei uns schon seit den 90ern rückläufig, und das hat den einfachen Hintergrund, dass die meisten stark krebserregenden Stoffe schon länger identifiziert sind und aus unserer Umwelt, besonders aus unserer Arbeitswelt, entfernt wurden. Die Forschungen hierfür sind also schon viel älter und der Gesetzgeber hat auch eine Menge dazugetan, wer dazu etwas wissen will, sollte unter dem Stichwort Maximale Arbeitsplatz-Konzentration nachsehen.

    Zusammegefasst: Es hat jeder eine bestimmte eigene genetische Disposition für Krebskrankheiten. Darüber hinaus steigt die Wahrscheinlichkeit für einen Krebs mit zunehmendem Alter und mit zunehmender Expositionszeit krebserzeugender Agentien, die sich in ihrer Wirkung addieren. Wenn also verbesserte Lebensbedingungen und Medizin zu verlängerten Leben führen, muss in der Folge Krebs zumindest als Krankheit, wahrscheinlich aber auch als Todesursache zunehmen.

    Man kann trotzdem die Zunahme oder auch Abnahme des Krebsrisikos feststellen, indem man empirisch festellt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, innerhalb eines bestimmten Alters Krebs zu bekommen. Theoretisch könnte ich mir also regelmäßig alle 40-jährigen der Republik vornehmen und nachsehen, wie hoch die Krebsrate bei denen ist. Das wäre sehr aufwändig. Es gibt dafür mathematische Methoden, die es erlauben, die normalen Krebsmeldungen in unserer Gesellschaft in eine Gesellschaft mit beliebiger Altersverteilung zu transformieren. Diese Standardisierung ist keine Form der Lüge, sondern einfach eine Methode, Beobachtungen vergleichbar zu machen, die ohne diese Transformation nicht direkt vergleichbar wären: Wenn Sie z.B. ein Neubaugebiet haben, in dem Mediziner wegen des durch alte Mülldeponien belasteten Bodens eine erhöhte Krebsrate vermuten, haben sie gleichzeitig das Problem, dass Neubaugebiete in der Regel von jungen Familien bezogen werden, also die Altersverteilung nicht durchschnittlich ist. Um solche Problem zu umgehen, werden Krebsdaten normiert: d.h. sie werden zu Vergleichszwecken alle auf eine bestimmte „Normbevölkerung“ umgerechnet, wobei es prinzipiell egal ist, welche Bevölkerung man nimmt. Man könnte auch die aus Takatukaland nehmen, aber man hat sich international für „Segi’s Weltbevölkerung“ entscheiden.

    Dass dieser Zusammenhang auch gestandene Fachjournalisten mit einer außerordentlich kompetenten Dokumentation im Hintergrund, von der man im Tagesjournalismus nur träumt, überfordern kann, sei an einem Artikel im SPIEGEL demonstriert: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-7811288.html
    Wissenschaftlich gesehen also der pure Blödsinn, was da im SPIEGEL stand, aber mit spitzer Feder geschrieben und deshalb in der politischen Wirkung evtl katastrophal.

    Das alles hat aber mit dem, was aktuell so als Krebsforschung bezeichnet wird, wenig zu tun; Dabei handelt es sich um die Erkennung von Tumoren und die Behandlung erkannter Tumore, und bei beidem sind die Fortschritte in den letzten Jahren gewaltig.

  17. Knapp 5000 Zeichen, damit ein sehr langer Kommentar. Ich würde sagen, dass das, was A.H. an anderer Stelle (7500 Zeichen) für sich in Anspruch genommen hat — dass komplizierte Inhalte manchmal mehr Platz brauchen –, hier in besonderem Maße gilt. Forschung ist heute vielfach, nicht nur im Fall Krebs, so kompliziert, dass ihre Fortschritte tatsächlich kaum zu vermitteln sind. Selbst Ranga Yogeshwar, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Wissenschaftsvermittlung, hat meines Erachtens am vergangenen Montag beim Thema Epigenetik, wo es auch um Krebs ging, in „Quarks & Co.“, nicht die gewohnt gute Figur gemacht. Die Sendung ist in der WDR-Mediathek noch anzusehen. Ich denke, dass die Vermittlung von Inhalten eines der Hauptprobleme ist, wenn es um Akzeptanz der Wissenschaft bei den Menschen geht. Anderes Beispiel, ebenfalls aus dem Bereich der Grundlagenforschung, die Forschung ist ausschließlich staatlicherseits bzw. durch die EU gefördert: Wer versteht schon respektive kann anschaulich erklären oder auch nur vermitteln, was ein Higgs-Boson ist, das sogenannte „Gottesteilchen“? Bei der Vermittlung solcher Inhalte müsste viel mehr passieren. Dann würden sich mittelfristig vielleicht auch die Kreationisten verdünnisieren.
    Trotzdem die Bitte an alle, die hier diskutieren: Achten Sie auf die Länge Ihrer Kommentare. Lange Kommentare sind ein Lesehemmnis und würgen die Diskussion ab.

  18. Henning Flessner schreibt:
    „Ist das Humboldsche Bildungsideal nicht auch etwas, dass auch eine grossbürgerliche Gesellschaft voraussetzt, deren Mitglieder sich um den Broterwerb nicht zu kümmern brauchen?“

    Das kann man so interpretieren. Es ist ein Ideal: die zweckfreie und ergebnisoffene Beschäftigung mit Philosophie, Geschichte und Philologie. Nützlichkeitserwägungen blieben außen vor. Ziel war die in der Auseinandersetzung mit der Geisteswissenschaft reifende Persönlichkeit. Die Humboldt’schen Vorstellungen sind im Grunde das Antidot des heutigen Begriffs von Bildung, der auf Ausbildung verengt wird. Ein oft verwendeter Begriff der neoliberalen Vertreter ist das Fitmachen für den Wettbewerb, da es um den „Wirtschaftsstandort Deutschland“ gehe. Wobei das Wort ‚Wettbewerb‘ tatsächlich ‚Konkurrenz‘ meint. Das Survival of the Fittest wird auf das globalisierte Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell übertragen. Dazu braucht man eine adäquate Definition von Wissenschaft. Und die wird zunehmend zum Selbstverständnis dieser Disziplin. Mit dem March for Science sollte die Wissenschaft als Wert an sich präsentiert werden, quasi als nicht hintergehbare Institution. Allerdings, und das ist das Entscheidende, promotet als unabhängig von der Industrie. Deshalb war der March for Science auch eine PR-Aktion.

  19. Dank an Frank Wohlgemuth für die verständliche Erklärung, und Dank an Bronski für die ungekürzte Veröffentlichung. Dieser Beitrag bedeutete für mich kein Lesehemmnis, der interessante Inhalt ließ die Länge des Textes vergessen. Mein geistiger Horizont wurde wieder ein bisschen erweitert.

  20. @Rudi
    Die Hauptaufgabe der Universitäten ist heute aber die Ausbildung. Für die reine Wissenschaft hätten wir die Universitäten nicht derartig ausbauen müssen. In unserer hochindustrialisierten Gesellschaft gibt einen Bedarf an Akademikern. Woher sollen die kommen, wenn nicht aus den Universitäten?
    Man kann es natürlich wie die Schweiz machen, wo zu wenig Kinder die Hochschulreife erreichen und man dann die Akademiker aus dem Ausland holt.
    Ich sehe auch nicht, dass die Ausbildung an den Bedarf der Industrie angepasst ist. Es gibt genug Studiengänge, die man studieren kann, ohne das der geringste Bedarf dafür in der Industrie besteht.

  21. @ Henning Flessner

    Wie wäre es mit einer Kombination aus beidem: Ausbildung für den wirtschaftlichen Bedarf und dennoch eine Persönlichkeitsbildung im Humbold’schen Sinne? Wir wollen doch mündige Akademiker, die über ihren Tellerrand hinaussehen und die Gesellschaft kritisch mitgestalten, und nicht das, was die Alt-Achtundsechziger als „Fachidioten“ bezeichneten, die ihre Vermarktung als Rädchen in einem unsteuerbaren Wirtschaftsgeschehen nicht hinterfragen.

  22. @Brigitte Ernst
    Ich hatte ja geschrieben, dass ich mich mit einem Studium generale anfreunden kann.
    Ich habe den Eindruck, dass im Handwerk entsprechend dem Bedarf ausgebildet wird. Was ist mit der Persönlichkeitsbildung der Azubis? Gilt die nur für die gehobenen Schichten des Bürgertums?

  23. @ Henning Flessner

    Im Rahmen des dualen Berufsausbildungssystems erhalten die Azubis auch noch Unterricht in allgemeinbildenden Fächern, vor allem in Deutsch, Politik und Religionslehre, wobei sich letztere, ebenso wie in der gymnasialen Oberstufe, weniger mit konfessionell gebundenen Inhalten, sondern vor allem mit ethischen und lebensphilosophischen Fragen befasst.
    An Berufsschulen arbeiten sowohl Berufsschullehrer, die vor allem für die berufsbezogenen Fächer zuständig sind, als auch Gymnasiallehrer, die den Azubis eine erweiterte Allgemeinbildung vermitteln sollen.

  24. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse (Altmeyer/Thomä, 2006: 8) sollte auch hier im Blog in ihrer Reichweite nicht unterschätzt werden, weil sie zugleich eine Absage angesichts eines nach wie vor boomenden Naturalismus bedeutet (Frankfurter Rundschau v. 25. April 2006, S. 26). Es trägt somit nichts aus, beispielsweise bei einer Krebserkrankung zufällige Veränderungen des Erbguts und ihre mutmaßlichen Auslöser zu debattieren, die für sich genommen völlig irrelevant wären, wenn die soziale Lebenslage des Einzelnen nicht immer schwieriger würde. Schon Sigmund Freud schrieb in seinem unvollständig gebliebenen Abriss der Psychoanalyse kurz vor seinem Tod: „Der Barbar, erkennen wir, hat es leicht gesund zu sein, für den Kulturmenschen ist es eine schwere Aufgabe“ (ebd. S. 56: Reclam Univeral-Bibliothek). Insofern könnte es in der Tat einfältiger nicht sein, vor allem beim Kauf von Tabakwaren gegenwärtig darauf hinzuweisen, dass Tabakrauch über 70 Stoffe enthält, die erwiesenermaßen krebserregend sind, falls man leeres Gerede nicht selbst noch unter massivem Einsatz öffentlicher als auch privater Gelder nahezu unendlich reproduzieren will.

  25. Ergänzend möchte ich noch erwähnen, dass der griechisch-französische Psychoanalytiker Castoriadis davon spricht: „… sind wir zu der Annahme gezwungen, dass der Sinn psychischer Phänomene wesentlich nichtfunktional ist, dass er über die biologische Funktionalität hinausreicht, was bis zur Zerstörung dieser Funktionalität gehen kann“ (ders.: Psychische Monade und autonomes Subjekt, hrsg. v. Halfbrodt/Wolf, übers. v. Halfbrodt, Lich, 2012, S. 134). Will man also seine eigene stets eng begrenzte Zeit vergeuden möchte, zerbricht man sich den Kopf über Bewegungsmangel und vermeintlich denaturierte Nahrung als die Gründe etwa für eine Krebserkrankung.

  26. @ Ralf Rath
    Das ist sehr interessant, was Sie da schreiben, aber ich möchte Ihnen, um Ihre Reichweite zu erhöhen, im Zusammenhang mit Krebs unbedingt noch von Wilhelm Reich „The Cancer Biopathy (The Discovery of Orgone, Vol. 2)) ans Herz legen. Auch Volume III von O. Kinne „Deseases of marine Animals“ ist zu diesem Thema eigentlich unverzichtbar.

  27. @ Ralf Rath

    Die Diskussion darüber, in welchen Maße biologische, psychische oder von Umwelteinflüssen abhängige Faktoren die Entstehung körperlicher Krankheiten begünstigen, ist noch nicht beendet. Deshalb halte ich es durchaus für sinnvoll, vor dem Rauchen zu warnen.
    Im Übrigen sind die Positionen der Psychoanalyse im Allgemeinen und Sigmund Freuds im Besonderen in der heutigen Psychologie nicht unumstritten.

  28. Völlig unstrittig ist, dass der Einzelne ein soziales Wesen ist, weil zumindest die 6. These über Feuerbach längst nicht widerlegt ist. Indes macht ihn die Psyche erst zum Menschen. „Andernfalls wäre (er) bloß ein Roboter oder ein Zombie“ (Castoriadis, C.: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, übers. v. Brühmann, H., Frankfurt/Main, 1997, S. 553, 2. Aufl.). Insofern verstehe ich nicht, weshalb mein Ansatz hier im Blog fortwährend relativiert wird, der lediglich darauf fußt, mich zu weigern, meinem verstorbenen Geschwister nach seinem Tod aus deshalb nichtigem Anlass heraus abzusprechen, ein Mensch gewesen zu sein.

  29. @Ralf Rath
    „Insofern verstehe ich nicht, weshalb mein Ansatz hier im Blog fortwährend relativiert wird,..“
    Ich sehe nicht, wo das passiert. Es antwortet Ihnen doch niemand (bei Frank Wohlgemuths Antwort bin ich mir nicht sicher, ob es ernst gemeint ist). Ich kann Ihnen auch nicht antworten. Ich vermute, dass es anderen geht wie mir: ich verstehe Sie nicht.

  30. @ Bronski
    „Die Vermittlung von Inhalten (ist) eines der Hauptprobleme, wenn es um Akzeptanz der Wissenschaft bei den Menschen geht. … Wer versteht schon respektive kann anschaulich erklären oder auch nur vermitteln, was ein Higgs-Boson ist, das sogenannte ‚Gottesteilchen‘?“
    Ich fürchte, diesen Anspruch kann kein Wissenschaftler erfüllen. Die Quantenphysik versucht Phänomene in einem Bereich der kleinsten Dimensionen und hohen Energien zu beschreiben, der sich der direkten Wahrnehmung entzieht und jenseits der „normalen“ Erfahrung liegt. Die jeweiligen Modelle der theoretischen Physiker bestehen aus Differenzialgleichungen, deren „Bedeutung“ sich nicht unmittelbar erschließt. „Verstehen“ kann man eine Gleichung ohnehin nicht. Um mit ihnen zu arbeiten, braucht man ein mehrjähriges Studium.
    Das High-Boson ist im Grunde genommen ein in das Standardmodell eingefügtes mathematisches Element, das dazu führt, dass eine Lösung des Gleichungssystems als Elementarteilchen mit Masse interpretiert werden kann. Um dies „anschaulich“ (als mit Analogien oder „Modellen“ zu erklären, müsste man zunächst bei den Grundlagen beginnen (sozusagen mit den Wortschatz: was sind Felder, was Teilchen, was ist die Wechselwirkung) und dann schrittweise weiter gehen. Dafür reicht nicht ein Wikipedia-Eintrag, sondern man braucht dazu ein ganzes Buch, eine Vorlesungsreihe oder eine ganze Sendefolge. Mit „schnellen“ Medien geht das nicht.

  31. @ Ralph Rath (diesmal ensthaft)
    Niemand spricht hier Ihrem Bruder ab, ein Mensch gewesen zu sein. Wer Ihr Menschenbild nicht teilt, sieht andere Teile von Ihnen, aber er spricht Ihnen Ihr Menschsein nicht ab. Bei der Gelegenheit: Das Menschenbild von Marx, Feuerbach und Freud entspricht, ohne deren geschichtliche Leistung schmälern zu wollen, nicht mehr wirklich dem Stand der Forschung. Das des Herrn Castoriadis kenne ich nicht, aber ich gebe zu bedenken, dass das Menschenbild als therapeutisches Setting keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. Es dient dazu, die Aufmerksamkeit zu lenken und damit zu seinem neuen Selbstbild zu führen, es erfüllt also einen spezifischen Bedarf in der Situation zwischen Therapeut und Patient.

    Ich glaube auch nicht, dass Bronski Ihren Bruder für dessen Krebs selbst verantwortlich machen wollte. Die neueren Meldungen über die carcinogene Potenz bestimmter Stoffe oder auch Verhalten, die früher nicht bekannt waren, und auf die Bronski kurz hingewiesen hat, sind zwar alle so, dass bei sehr großen Zahlen ein Zusammenhang gefunden werden kann, aber sie sind nie so, dass man vorhersagen kann: Wenn Du das machst oder dies isst, bekommst Du Krebs. In diesem Zusammenhang eine persönlichen Schuld konstruieren zu wollen, wäre also der reine Blödsinn. Ich hatte allerdings schon darauf hingewiesen, dass es Stoffe gibt, bei denen das Risiko sehr viel höher ist. Die sind aber in der Regel schon lange bekannt, und mit denen kann man auch schuldhaft handeln. Bei manchen von ihnen ist die Krebserzeugung so sicher, dass man damit auch jemanden ermorden kann; es gibt bereits mindestens einen derartigen Fall in der deutschen Rechtsgeschichte.

    Was Ihrer Aussage eventuell entgegenkommt, ist, dass die „Reparaturfähigkeit“ unseres Körpers unter Stress abnimmt. Aber es wäre ein großer Fehler, anzunehmen, „der Krebs“ befiele nur die gestressten. Es ist einfach eine Lotterie, in der wir alle leben, bei der wir im Normalfall nicht wissen, wie viele Lose wir gekauft haben. Aber einige kaufen wir auch bewusst – wie beim Rauchen. Aber selbst bei einem Raucher mit Lungenkrebs könnten wir im Einzelfall nicht nachweisen, dass es das Rauchen war, das diesen Krebs verursacht hatte. Wir können allenfalls Wahrscheinlichkeiten dafür angeben. Ich weiß nicht, ob Ihnen das jetzt hilft, aber Ihr Bruder hat einfach Pech gehabt. Ich habe übrigens auch meinen ersten bösartigen Krebs schon hinter mir, ich hatte allerdings einen gut operablen „gezogen“.

  32. „Ich habe den Eindruck, dass im Handwerk entsprechend dem Bedarf ausgebildet wird. Was ist mit der Persönlichkeitsbildung der Azubis? Gilt die nur für die gehobenen Schichten des Bürgertums?“ (Henning Flessner)

    Danke für diese Zwischenfrage, das war jetzt für mich der zweitwichtigste Beitrag auf dieser Seite. Natürlich gehört das ganze Thema grundlegend in die Schule. G8 in einer Zeit, in der schon erkennbar war, dass uns demnächst wegen der fortschreitenden Automatisierung die Arbeitsplätze wegbrechen, war ausgemachter Schwachsinn. Und dazu gehört selbstverständlich auch, dass Bildung für alle da sein sollte. Der selbe Schwachsinn wurde dann an den Universitäten unter der Bezeichnung Studienreform fortgesetzt, und man hat dabei ganz nebenbei ein weltweit nachgefragtes spezifisch deutsches Produkt „geschliffen“, den deutschen Ingenieur. Alle Studien wurden weiter verschult und die Spezialisierung vergrößert, gleichzeitig wird aber erzählt, dass sich niemand mehr darauf verlassen sollte, in seinem Leben mit einem Beruf auszukommen. Als sei es logisch, dieser Aussicht zu begegnen, indem man die Ausbildungsbasis verschmälert. Mein persönlicher Eindruck ist, dass sich da zu viele Geisteswissenschaftler in der Bildungspolitik tummeln, die daran gewöhnt sind, dass man sich in ihre Spezialgebiete mal eben einarbeiten kann. Das ist in den Naturwissenschaften schon lange nicht mehr so. Hinzukommt, dass man sich in den Naturwissenschaften ernsthaft eigentlich nur bewegen kann, wenn man auch in der „Vizekönigin“ der Geisteswissenschaften hinreichend sicher ist, der Mathematik. Wenn wir an den Schulen keinen vernünftigen Grundstein legen, können wir auch im nachfolgenden Bildungsbereich nicht viel erwarten.

    Den für mich wichtigsten Beitrag hier hat allerdings Andreas Ohme geschrieben (ganz oben, der letzte der Leserbriefe, und eigentlich der Grund, weshalb ich hier nichts mehr schreiben wollte, weil schon alles gesagt ist). Deshalb möchte ich nur noch mal auf die praktischen Konsequenzen des Konstruktivismus eingehen, dessen Umsichgreifen er beklagt: Da werden im Fach Gender-Studies ca 250? „Forschungstellen“ für eine Ideologie geschaffen, die selbst das biologische Geschlecht, etwas, was man gemeinhin zu den Fakten rechnet, für konstruiert erklärt. Dazu passt auch der zunehmende Umfang der Diskussion um Homöopathie bis in die Universitäten, nachdem dieses Thema wissenschaftlich lange abgefrühstückt ist. Es sind nicht nur die Rechten, die sich die Welt so hinbiegen, wie sie sie gerne hätten, es sind auch Linke und andere Religiöse. So hätte ich nie erwartet, von einem deutschen Politiker die Forderung zu hören, in der Schule die Genesis als Alternative neben die Evolutiontheorie zu setzen, aber auch das ist schon passiert.

  33. @Frank Wohlgemuth
    So einfach widerlegt sich der Konstruktivismus nicht.
    Der hier wichtige Punkt ist, dass die Konstruktivisten bestreiten, dass wir in der Naturwissenschaft die Wahrheit erkennen können. Wir können nicht wissen, ob Theorien wahr sind oder nicht. Ob Einstein wahrer als Newton ist, wissen wir nicht.
    Viele Menschen hätten aber gerne Wahrheiten, an denen sie sich festhalten können.
    Ich fühle mich bestätigt in dem Verdacht, dass es denen, die heute die Wissenschaft in Gefahr sehen, um die Einführung der Wahrheit in der Naturwissenschaft geht und natürlich um ihre Wahrheit. Damit ist die Naturwissenschaft wirklich in Gefahr.

  34. @ Henning Flessner
    Auch wenn ich derzeit unterwegs bin und nur das Smartphone dabei habe, eine kurze Bemerkung: Sie haben behauptet, niemand habe Herrn Rath geantwortet. Bisher war mir nicht bewusst dass ich ein niemand bin, aber man oder auch frau lernt ja nie aus.

  35. @ Henning Flessner
    Die Theorien der Physik sind eine Sache, und wer da nützlicher ist, Einstein oder Newton, das kommt darauf an, mit welchem Gegenstand wir uns gerade befassen. Auch z.B. den Urknall empfinde ich als eine interessante Extrapolation, mehr nicht. Da brauchen wir uns nicht drüber zu streiten – da brauche ich noch nicht einmal mein Vordiplom in Physik zu bemühen, da reicht meine gymnasiale Bildung, um mit ihnen auf einen Nenner zu kommen: Ich habe schon in der Schule gelernt, dass es in der Physik keine Gesetze gibt, sondern nur hinlängliche Beschreibungen.

    Wenn wir mal philosophisch einen Gang runterschalten und uns um den „Mesokosmos“, also unsere tägliche Umgebung bemühen, und konkrete Aussagen betrachten, wird vielleicht klarer, was ich meine: Was würden Sie davon halten, wenn Ihnen jemand erzählte, dass das Gewicht der Steine durch einen sprachlichen Akt entsteht und man kurz davor steht, Granit demnächst in Wasser schwimmen zu lassen? Ich vermute, dass die Kategorie, in der sei dann dächten, eher medizinisch als philosophisch wäre.

    Auf den Websites deutscher Universitäten können Sie aber Aussagen wie diese hier finden (vorweg: „sex“ in diesem Zusammenhang bedeutet biologisches Geschlecht):
    „Seit den neunziger Jahren neu und kontrovers diskutiert wird das Verhältnis zwischen gender und sex. Demnach werden nun auch biologische Unterscheidungen zwischen Mann- und Frausein als kulturelle Produkte analysiert und somit als Gegebenheit brüchig.“

    Hier geht es jetzt nicht um einzelne Unterschiede zwischen Mann und Frau, sondern um die Unterscheidung allgemein und damit sind wir bereits mittendrin in den alternativen Fakten.

  36. Wie den Hochschulen (und nicht nur diesen) der Geist ausgetrieben werden soll, kann man einem Artikel von Dr. Anna Veronika Wendland entnehmen, die zur Geschichte und Gegenwart nuklearer Sicherheitskulturen in Ost- und Westeuropa forscht und am Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg arbeitet.

    Erschienen ist der Artikel auf der Seite „ACHGUT“:
    http://www.achgut.com/artikel/atomkraft_und_ploetzlich_bist_du_menschenveraechter

  37. @ Frank Wohlgemuth
    Schon mal darüber nachgedacht, dass die Unterscheidung zwischen Mann und Frau in Grenzbereichen brüchig wird, z. B. bei Transgenders oder bei der Geburt nicht definierbarem biologischem Geschlecht?

  38. @Frank Wohlgemuth
    Ich habe vor einigen Wochen in der Uni-Bibliothek unter Erkenntnistheorie gestöbert und bin da auf den radikalen Konstruktivismus gestossen (Ernst von Glasersfeld, Heinz von Foerster). Das erschien mir sehr interessant und auf den ersten Blick einleuchtend.
    Einen Zusammenhang zwischen dem, was Sie hier beschreiben und dem was ist über den radikalen Konstruktivismus gelesen habe, kann ich nicht herstellen. Wir reden vielleicht über verschiedene Dinge.
    Das, was Sie kritisieren, scheint mehr aus der Richtung J. Butler zu kommen. Frau Butler vertritt aber keinen radikalen Konstruktivismus, sondern einen dekonstruktivistischen Ansatz, habe ich gelesen.
    Herrn Ohme stört am Konstruktivismus «die Preisgabe eines intersubjektiven Wahrheitsbegriffs“.
    Aus irgendeinem Grunde gehen bei mir immer alle roten Warnleuchten an, wenn ich von jemanden höre, dass er die Wahrheit kennt.

  39. @JaM
    Ich gebe Ihnen vollkommen Recht, was die Vermittlung von Wissenschaft betrifft.
    Leider müssen wir dann auch mit den «Konsequenzen» leben. Dazu zwei Erlebnisse:
    In den 80er Jahren bekam meine Firma einen Grossauftrag vom DESY. Einige Arbeiter, die natürlich nichts von Elementarteilchenphysik verstanden, liessen sich nicht davon abbringen, dass es militärische Forschung sein müsse. Sehr viel Geld ausgeben für etwas, das keinen direkten Nutzen bringt, gab es nach ihrer Meinung nur beim Militär.
    Das Forum Ökosoziale Marktwirtschaft (FÖS) hat vor Jahren eine Studie zur Subvention von Energieträgern veröffentlicht. Die Studie wurde vermutlich wenig gelesen, aber häufig zitiert (auch von der FR). Das Higgs-Teilchen wurde ja beim CERN gefunden, das von Deutschland mitfinanziert wird und das «N» bedeutet «nucléaire». Da die Verfasser nicht verstanden haben, was die da im CERN treiben, haben sie die Finanzierung als Subvention der Kernenergie verbucht. Bei 63 Jahren kamen da schon einige Milliarden zustande.

  40. In der heutigen FR ist ein Leserbrief von Manfred Wetzel zum Thema erschienen.
    Er scheint einer Beschränkung der Freiheit der Wissenschaft das Wort zu reden mit der Begründung, dass Wissenschaft missbraucht werden kann. Als Beispiel nennt er u. a. die Stringtheorie. Missbrauch sollte normalerweise verhindert und / oder bestraft werden. Sollte die Stringtheorie verboten und die Wissenschaftler bestraft werden? Im Vergleich zu solchen Forderungen wären D. Trumps Mittelkürzungen harmlos.

  41. „Schon mal darüber nachgedacht, dass die Unterscheidung zwischen Mann und Frau in Grenzbereichen brüchig wird, z. B. bei Transgenders oder bei der Geburt nicht definierbarem biologischem Geschlecht?“ (Brigitte Ernst)

    @ Brigitte Ernst
    Ja. ich habe schon mal drüber nachgedacht. Nein, das passt nicht so ganz hierher. Die Probleme, die im „Grenzbereich“ bei ungeklärtem biologischen Geschlecht auftreten, sind schon länger bekannt und wurden auch als solche, völlig ohne Mitwirkung der Genderwissenschaften bearbeitet. Vor allen Dingen haben diese Fälle, die man eher als Unfälle in der Individualentwicklung klassifizieren muss, nichts, aber auch gar nichts, mit biologischen Unterschieden zu tun, die man als kulturelle Produkte identifizieren könnte. So etwas gibt es auch nicht.

  42. @ Hennig Flessner
    Konstruktivismus und Dekonstruktivismus sind miteinander verknüpft teilweise auch – zumindest für mich – schwer auseinanderzuhalten. Wenn ich mich dabei auf die erkenntnistheoretische Seite beschränke, finde ich das auch alles sehr interessant. Es gibt nur leider Richtungen, die meinen, die ontologische Seite vernachlässigen zu können, was ja auch interessant sein kann, aber innerhalb unseres direkten Erfahrungsbereiches nur noch sehr bedingt. Da sollte z.B. man unsere sozialen Konstruktionen und die biologischen Gegebenheiten nicht in einen Topf werfen. Ich weiß jetzt nicht, ob ich damit bei Ihren „Wahrheiten“ bin, aber es gibt Dinge in unserer normalen Erfahrung, die in Frage zu stellen einfach nur bedeutet, die Kommunikation aufzugeben. Dazu gehört für mich, dass Granit in Wasser in schwimmt und dass die Geschlechtsbestimmung bei Säugern bis auf wenige Unfälle genetisch passiert, was eine Bestimmung des Geschlechts durch Sprechakte ausschließt. Wie sollten sonst auch Kaninchen und Paviane ihr Geschlecht finden? (Könnte natürlich sein, dass diese Wesen selbst auch nur durch Sprechakte gezeugt und als gar nicht vorhanden sind, aber wie gesagt: Da wird es für mich absurd.)

    Wer allerdings z.B. die Stringtheorie als Missbrauch der Wissenschaft verbieten und bestrafen möchte, missbraucht sein Denkfähigkeit und sollte durch Nichtbeachtung bestraft werden, auch wenn seine Definition des Missbrauchs bestimmt Unterhaltungswert hat.

  43. @Frank Wohlgemuth
    Ich habe mich bisher nur mit der erkenntnistheoretischen Seite des Konstruktivismus beschäftigt.
    Das Argument, dass das zweidimensionale, auf dem Kopf stehende, mit einem schwarzen Fleck versehene Bild auf meiner Netzhaut nicht die Realität widergibt, sondern dass aus diesem Bild in meinem Gehirn ein dreidimensionales Etwas (re-)konstruiert wird, dass hoffentlich der Realität nahekommt, leuchtet mir ein.
    Die Theorie, dass Granit in Wasser stimmt, lässt sich ja einfach durch einen Steinwurf falsifizieren.

  44. „Die Theorie, dass Granit in Wasser schwimmt, lässt sich ja einfach durch einen Steinwurf falsifizieren.“ (Henning Flessner)

    Auf der naturwissenschaftlichen Seite eigentlich schon, obwohl es auch da nicht mehr so einfach ist. Die heutigen Theorien sind meistens so kompliziert, dass auch die Widerlegung nicht mehr besonders verständlich ist. So sterben sie nicht durch Widerlegung, sondern mit ihren Apologeten. Berühmtes Beispiel hierfür, auch für die Dynamik der Konkurrenz zwischen wissenschaftlichen Teilgebieten, ist die Plattentektonik, die im Prinzip von Alfred Wegener begründet wurde und sich erst viel später durchsetzte.

    Noch schlimmer ist es, wenn sich Geistes- und Naturwissenschaften um ein Objekt streiten: In den Geisteswissenschaften werden die Aussagen der Gurus von ihren Anhängern gern als Axiome behandelt, obwohl wissenschaftstheoretisch eigentlich klar ist, dass ein Axiom, das nicht von der großen Mehrheit anerkannt wird, keine Axiomatik begründet, sondern höchstens eine Religion. Das heißt, dass die geisteswissenschaftliche Theorie zu einem naturwissenschaftlichen Objekt dort keine naturwissenschaftliche Prüfung erfährt – wie auch, da fehlen sowohl Kompetenz als auch Wille. Wenn dann noch ein politischer Wille dazu kommt, sind Hopfen und Malz verloren. Ein Lehrstück zu dem Thema ist hier nachzulesen:http://www.forschung-und-lehre.de/wordpress/?p=17324

    Der ziemlich offensichtlich blödsinnige Satz, den ich oben zitiert habe, steht nun schon seit Jahren auf der Website der Uni Bielefeld.

    Auch Ärzte sind von ihrer Ausbildung her keine Wissenschaftler, ihr Arbeitsgebiet ist die angewandte Humanbiologie. Deshalb gibt es in der Medizin momentan eine Renaissance der Homöopathie, obwohl nun schon im x-ten Anlauf sowohl direkt als auch in Metastudien gezeigt wurde, dass potenzierte Homöopathika keine Wirkung besitzen, die über die Placebowirkung hinausgeht.

    Es klafft eine immer größer werdende Lücke zwischen wissenschaftlicher Forschung und einem Verständnis dafür in der Gesellschaft, die parallel zu der Lücke ist, die zwischen der Benutzung heute üblicher Geräte (Beispiel Handy) und dem Verständnis der dahinterstehenden Technik wächst. Das selbe Problem haben wir dann noch einmal zusätzlich in der Forschung selbst, wenn Technik und Methoden benutzt werden, deren Funktionsweise und Randbedingungen nur ungenügend verstanden sind.

  45. @Frank Wohlgemuth
    Der Esoterik-Markt ist gigantisch und wird auf 30 Milliarden Euro geschätzt. In den Programmen der Volkshochschulen gibt es neben Sprachkursen fast nur noch Esoterik (Wünschelruten, Tarotkarten etc.).
    In den Stadtbibliotheken (und Buchhandlungen) findet man neben 30 cm Philosophie 3 m Esoterik.
    Es scheint früher nicht so schlimm gewesen zu sein.
    Warum stört es niemanden, dass er den Hokuspokus der Homöopathie mit seinen Krankenkassenbeiträgen mitbezahlen muss?
    Die einzige Erklärung, die ich dafür habe, ist, dass es ein tiefes menschliches Bedürfnis nach Irrationalem gibt und dass dieses Bedürfnis von den Kirchen nicht mehr befriedigt wird. Richtig überzeugend finde ich diese Erklärung aber auch nicht.

  46. @ Henning Flessner
    Zur Homöopathie nur soviel: Solange das in den Händen von Leuten bleibt, die den Patienten auffordern, sich in echte Behandlung zu begeben, wenn es ernst wird, halte ich das nicht für so kritisch – der Anteil der Placebowirkung bei der normalen Medizin wird unterschätzt – Placebos sind alles andere als wirkungslos.

    Ansonsten sind Sie beim Problem angekommen: Die Unbestimmbarkeit der Wahrheit ist eben nicht mehr ein Erkenntnisproblem aus dem Philosophenturm, sondern als „anything goes“ im normalen Leben angekommen. Nachdem die christliche Tradition (im Gegensatz zum kirchlichen Einfluss) hier weitgehend gebrochen wurde, gab es nur bedingt eine Hinwendung zum „Objektiven“ der Erfahrungswelt und dafür dann eine Öffnung zum Subjektiven.

    Ich halte das für ein Schulversagen, das auf einer zu geringen Gewichtung der Naturwissenschaften in den Lehrplänen beruht. Ich habe hier nur einen lokalen Einblick, der aber genau das auch wiedergibt: Die Unterrichtsfächer mit den höchsten Ausfallquoten sind die Naturwissenschaften, die „Laberfächer“* können im großen und ganzen nach Plan erteilt werden. Wenn das ja wenigstens zu einer größeren Sicherheit in der deutschen Sprache führen würde …..

    Komischerweise wird dieses Problem aber nicht an die große Glocke gehängt.

    * Die Laberfächer hießen bezeichnenderweise schon während meiner Schulzeit so und sind nicht mit den Geisteswissenschaften identisch. Mit zu dem Problem gehört, dass die Mathematik, die ich an anderer Stelle schon als Vizekönigin der Geisteswissenschaften charakterisiert habe, von den Bildungspolitikern, die ich als den Kern des Problems sehe, regelmäßig zu den Naturwissenschaften gerechnet wird.

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