50 Jahre ist 1968 nun her, das Jahr, das einen Aufbruch markiert, der Deutschland verändert hat. Davon berichten hier im FR-Blog auch die Leserinnen und Leser mit ihren Texten über 1968. Aber dieser Aufbruch war nie unumstritten. Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl  fabulierte nebulös von einer „geistig-moralischen Wende“, die nie kam. Alexander Dobrindt (CSU) schwadronierte erst kürzlich von einer „konservativen Revolution“ und nahm dabei ausdrücklich die 68er-Bewegung ins Visier. Nicht zu vergessen das allgegenwärtige Gerede von der deutschen Leitkultur und nun auch noch einer Debatte über „Heimat“, die unter anderem dazu geführt hat, dass wir mit der nächsten Regierung wohl einen Heimatminister bekommen – Horst Seehofer (CSU). Schwingt das Pendel der Geschichte also zurück? Kommt jetzt, nach Jahren der Liberalisierung, die kürzlich in der „Ehe für alle“ gipfelte, die Gegenbewegung in Gang?

„Wir brauchen ein neues 1968“, forderte Emily Laquer von der „Interventionistischen Linken“ in einem großen FR-Interview. Und der Soziologe Heinz Bude geht im Interview auf die Suche nach den Ursprüngen der 68er und wirft die Frage auf: Wie viel 1945 steckt in 1968? Er bezeichnet dieses Abhängigkeitsverhältnis als „abwesende Anwesenheit“.

Zu diesen Fragen äußert sich auch FR-Leserin Brigitte Wachsmuth aus Bielefeld in einem Leserinbrief, den ich im Print-Leserforum nur deutlich gekürzt veröffentlichen konnte. Hier kommt der ganze Text als Gastbeitrag im FR-Blog.

Altes Denken in neuen Unterhosen

Von Brigitte Wachsmuth

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Dass die FR zum runden Jubiläum 2018 einen vertieften Blick auf 1968 zu werfen beabsichtigt, verdient Respekt und wird von denen, die „dabei“ waren, mit erhöhtem Interesse verfolgt werden. Die Gefahr besteht allerdings, dass die Wortführer von damals, in der Regel Geistes- und Sozialwissenschaftler – ich meine nicht die Einzelpersonen –, auch jetzt wieder diejenigen sind, die sich am lautesten, oder genauer, am wortreichsten, melden.

Dabei wird dann leicht übersehen, dass zum einen die 68er-Revolte, wenn man sie denn so nennen will, keine rein deutsche Angelegenheit war, sondern eine internationale, und zum anderen, dass damals eine Gruppe von Menschen ein gesteigertes Interesse an Veränderung hatte, die sich in der Regel nicht in sozialtheoretischen und geisteswissenschaftlichen Publikationen zu äußern pflegt.

Bude hat recht damit, dass die Liberalisierung und die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit bereits vor 1968 eingesetzt hatte, ebenso wie sich das Grau-in-Grau des deutschen Alltags der 1950er-Jahre bereits durch die Populärkultur mit bunten – vor allem auf afroamerikanischen Errungenschaften basierenden – Farbtupfern durchsetzte und sich junge Menschen („Gammler“!) entschieden, die formierte Gesellschaft Ludwig Erhards hinter sich zu lassen. Ein Milieu, dass sich in dieser alten bundesrepublikanischen Nachkriegswirklichkeit per se nicht zu Hause fühlen konnte, war die – ich nenne sie hier mal so – Neue Technologische Intelligenz, Menschen, die eher nach Berkeley in Kalifornien blickten als nach Ostberlin, Moskau oder Peking – auch nicht unbedingt nach Westberlin – und die nach einer kosmopolitischeren Perspektive verlangten, als sie den deutschen Eliten damals zu eigen war.

1968 war der Zeitpunkt da, an dem der deutsche Sonderweg verlassen werden musste; das immer noch vorhandene obrigkeitliche Denken der Staatsorgane, das Beharren der Universitäten, mehr aber noch der Justiz an muffigen, alten Zöpfen, besonders solchen, die noch aus der NS-Zeit stammten, wie auch der typisch deutsche Dünkel der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften, all das musste ein Ende finden, damit die künftigen Informatiker, Biotechnologen und Mathematiker (also diejenigen, die die Welt mittlerweile gestaltet haben) ihre Kreativität entfalten und ihre Vorstellungen verwirklichen konnten. Auch die späteren Ökologen und Planer einer alternativen Energiepolitik haben zu dieser Zeit studiert. Dass sie sich nicht so laut zu Wort meldeten wie die bildungsbürgerliche Intelligenz, liegt in der Natur der Sache.

„68“ bestand schon damals aus Dylan, Hendrix und Gerhard Richter, nicht erst neuerdings, und es war der Blick nach Westen, nach Frankreich und vor allem in die USA, der die Hirnstrukturen verändern half. Marx und Adorno waren da ebenfalls hilfreich, ohne sie wäre es bei einer rein technokratischen Wende geblieben. Eine Pointe übrigens, die aufmerksamen Beobachtern schon damals nicht entging, war, dass Adorno mit der Selbstermächtigung der Afroamerikaner in der Musik, dem Jazz, nichts anzufangen wusste.

Dass diese Veränderungen mit Unruhe (mehr war es nicht, auch wenn die Staatsorgane in Panik gerieten) verbunden waren, die die Gesellschaft durchschüttelte, machte sie unumkehrbar. Dass manche allerdings das alte Denken nur in neue Unterhosen steckten, wie die K-Gruppen, die Spartakusfraktion oder die RAF, ist ihr persönliches Problem. Es diskreditiert nicht die Errungenschaften der damaligen Zeit und ist vor allem kein Grund dafür, all jene, die die Veränderung ersehnten und herbeiführten, mit ihnen über über denselben Renegatenkamm zu scheren.

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6 Kommentare zu “Altes Denken in neuen Unterhosen

  1. Soweit ich Adorno verstanden habe, besitzt auch die Abwesenheit einer Theorie zur zentralen Frage, was eine moderne Gesellschaft konstituiert, eine Wirkmächtigkeit, die unabhängig vom Willen des je Einzelnen sich entfaltet. Man kann demnach auch die Hände schlicht in den Schoß legen und nichts tun. Das Abendland wird dennoch nicht untergehen. Weshalb sich Adorno beispielsweise nicht mit dem Jazz befasste, wie Frau Wachsmuth reklamiert, lässt sich daher mit seiner ihm dadurch eröffneten Freiheit erklären, nicht alles geradezu zwanghaft untersuchen zu müssen.

  2. Fortsetzung meines um 14:39h von Bronski veröffentlichten Leserkommentars: Im Unterschied zu seinem Doktoranden Hans-Jürgen Krahl (siehe die auch von Oskar Negt verfasste Einleitung zum Sammelband mit dem Titel „Konstitution und Klassenkampf“) erhob Theodor W. Adorno offenkundig nicht den Anspruch, eine „ausformulierte Theorie“ (ebd., S. 7) zu erarbeiten, welche vorrangig die traditionellen Begrifflichkeiten der Arbeiterbewegung ersetzen sollte. Der forschungsstrategische Horizont ist deshalb ein völlig anderer, als gemeinhin angenommen wird. Verwechselt man nicht ständig den Schüler mit seinem Lehrer, haben die heutigen Analysen der Verhältnisse infolge dessen soziale Voraussetzungen, die von Natur aus gegeben sind und denen stets eine gewisse Unbestimmtheit innewohnt. Die Annäherung an den Gegenstand ähnelt insoweit eher der Methodik, der sich auch Werner Heisenberg im Zuge der Unschärferelation auf dem Gebiet der Physik bediente und wofür ihm der Nobelpreis verliehen wurde.

  3. „Altes Denken in neuen Unterhosen“ und heute haben sich traditionelle reaktionäre Denkweisen wieder eingenistet. Nicht nur mit dem Großwerden der AfD.
    Was einmal da war, war nie wirklich weg.

    Die Politikergeneration heute werkelt floskelbehaftet und überzeugungslos mit den Titeln von Aufbruchstimmung und Einigkeit im Lande.

    Wir brauchen ein neues 1968!
    Aber in dem Sinne, dass wir viel radikaler über unseren überbordenden Lebensstil Klarheit schaffen, der wiederum auf Kosten der Menschen hier und in der Welt geht, die erst gar nicht dazu kommen, auch nur annähernd über Wohlstand und Luxus nachzudenken.
    Das, was wir an Macht- und Herrschaftsverhältnissen von wenigen Superreichen inzwischen haben, ist nicht mehr haltbar und nicht vor ‚Gott und der Welt‘ zu rechtfertigen.
    Dagegen sind die spärlichen sozialen und arbeitsmarktpolitischen Gesetzesgrundlagen unserer Regierungen nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, um die sozialen Schieflagen und die Folgen einigermaßen zu korrigieren.

    Wobei ich unter einem neuen 1968 – welches praktisch in jedem Fall mit einer neuen Studentenbewegung verbunden sein muss -, ein neues Bewusstsein des Widerstandes verstehe, der Auflehnung gegen ein nahezu unerschütterliches Fortschrittsdenken, das nur die Kluft zwischen den Besitzenden, den Herrschenden und den Beherrschten, den Abhängigen größer und größer werden lässt.
    Hinzu kommen der schreckliche Konsumismus und diese unaufhörliche Produktion des Nutzlosen und Quatsches, der alle Sinne der Masse benebelt und damit auch den Zugang zu einer halbwegs kritischen Einstellung gegenüber unseres von Gier, Haben und Macht bestimmten westlichen Lebens versperrt. Also die Infragestellung unseres Lebensstils. Tiefgreifende Gedanken dazu kann man etwa in der Lektüre von Ulrich Brand und Markus Wissen „Imperiale Lebensweisen. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus“ finden.
    Eine Auflehung gegen die Bequemlichkeit und den Egoismus unserer Zeit, die weiterhin von den Regierenden und Mächtigen auf Händen getragen wird und deren Erfolgsmeldungen im Grunde nur noch aus den Messzahlen aus Wirtschaft und den Aktienkursen bestehen.

    Es geht bei einer Neubesinnung auch nicht um eine quasi religiöse Askese (damit hat man schon die Armen dieser Welt schon entsprechend versorgt) oder eine neue Zurückgezogenheit in friedvoller Schlichtheit, sondern um die Überzeugung, dass wir uns als Einzelne nicht der gemeinsamen Misere entziehen können und die Verantwortung für ein gesellschaftliches Miteinander, das nicht am Supermarkt oder bei Amazon schulterzuckend endet.
    Wer die Kraft und die Chance hat, sollte auch für die sprechen, die es im jetzt im Augenblick nicht können oder dort zur Stelle sein, wo jede helfende Hand gebraucht wird.
    Wenn ich sowas sage, dann bin ich sehr nahe an den ethisch-moralischen Einsichten eines Albert Camus („Der Mensch in der Revolte“ und „Fragen der Zeit“, 1953 und 1957).

    Wenn schon ein damals 94jähriger Stéphane Hessel mit seinem Pamphlet „Empört Euch!“ (2010/11) zum Widerstand gegen die gesellschaftlichen Missstände aufrief und die Ideale von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit im Geiste der Revolte mit Begeisterung (!)verteidigte – dann kann es schon mit diesem Beispiel keine weiteren Ausreden mehr geben.

    Hessel schrieb zum Schluss seines Appells:
    „Den Männern und Frauen, die das 21. Jahrhundert gestalten werden, rufe ich aus ganzem Herzen und mit voller Überzeugung zu: ‚Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen.'“

  4. Auf die Gefahr hin, erneut eine Rüge erteilt zu bekommen, weil ich von meiner Zitatesammlung mitunter exzessiv Gebrauch mache, möchte ich dennoch eine Äußerung von Adorno aus dem Jahr 1957 anführen, die es erlaubt, sehr anschaulich nachzuvollziehen, weshalb es spätestens anlässlich der Besetzung des Instituts für Sozialforschung zum Zerwürfnis mit Hans-Jürgen Krahl kam, von dem Frau Brigitte Ernst in ihrem jüngsten Blog-Beitrag berichtete. Zugleich kann daran abgelesen werden, dass selbsttragende Strukturen nicht erst von Menschenhand geschaffen werden müssen, wie beispielsweise der frühere Vizekanzler und einstige Vorsitzende der SPD Sigmar Gabriel fordert, sondern dass jene längst als natürliche Gegebenheit existieren. Das Zitat fand ich übrigens auf der Website von K. P. Wittemann: „Nicht nur die Theorie, sondern ebenso deren Absenz wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“. Das heißt: Immer dann, wenn darin innegehalten wird, die bestehende Gesellschaft zu zerstören mit dem Ziel, an ihre Stelle eine andere zu setzen, um selbst deren Gesetzgeber und Machthaber zu sein, eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten zur befriedigenden und beglückenden Lösung der anstehenden Probleme. Das kann an einem arbeitsfreien Sonntag sein, aber auch an einem Rosenmontag wie heute. Der notwendige Bruch, von dem Emily Laquer im großen FR-Interview spricht, erfolgt demnach unmittelbar und irreversibel.

  5. Unter der Überschrift „Ein neuer Geist von ’68“ schreibt Didier Eribon in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine, dass analog zu den unterschiedlichen Formen der Herrschaftsausübung auch die Ansatzpunkte für den Widerstand einer demgemäßen Vielfalt bedürfen. „Wer die Zeitlichkeit der Politik vereinheitlichen will, schränkt das Feld der Mobilisationen ein und zensiert die dort sich äußernden Stimmen“ (siehe die aktualisierte Fassung v. 18.04.2017 in: faz.net). Die von Frau Gabriele Schreib hier im FR-Blog erwähnte Unterscheidung in „Hauptwiderspruch“ und „Nebenwiderspruch“ des Kapitalverhältnisses gilt es deshalb laut Eribon auch heute noch zurückzuweisen, weil es „eine substantialistische Vorstellung einer sozialen Welt (ist), in der bestimmte Kämpfe natürlicher oder legitimer erscheinen als andere“ (ebd.). Das Verharren in solch einer völlig falschen Frontstellung blockiert effektiv bis in die fernste Zukunft hinein jedwede gesellschaftliche Erneuerung. Darin notwendig innezuhalten, bleibt das Gebot der Stunde, damit nicht die regressiven, sondern auch fürderhin die progressiven Kräfte die Oberhand behalten.

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