Die Kopftuchdebatte ist von der Startseite des FR-Blogs gerutscht. Schade; dabei wurde gerade begonnen, ernsthaft über Lösungen zu diskutieren. Ich hole sie daher aus dem Hintergrund des Bloggeschehens wieder hervor und ermögliche die Fortführung anhand zweier zuletzt geposteter Kommentare. Andere KommentatorInnen mögen sich dadurch bitte nicht herabgesetzt fühlen. Es sind nun mal diese beiden Kommentare von Anna Hartl und Werner Engelmann, die die Debatte wieder geöffnet haben.

Bevor es los- bzw. weitergeht, möchte ich noch einen Hinweis geben. Möglicherweise ist es mir entgangen, dass dieser Punkt in den Kopftuchdebatten hier im FR-Blog erwähnt wurde; ich erinnere mich jedenfalls nicht. Dabei ist er nicht ganz unwesentlich: Ist das Kopftuchgebot tatsächlich ein Gebot des Koran? Dies ist eine zentrale Frage, denn viele Muslime scheinen das zu glauben. Doch so einfach ist es nicht. Und hier sind wir eben an einem Punkt, an dem klar wird, wie dringend eine historisch-kritische Exegese des Koran nötig ist – eine Denkweise, die viele Muslime bestreiten und bekämpfen werden und die auch im Christentum in dessen Umgang mit der Bibel jahrhundertelang keineswegs selbstverständlich war.

Die Deutsche Islamkonferenz hat dazu klargestellt:

Es gibt drei Passagen im Koran, in denen der Frau Verhüllung bzw. Verschleierung oder ein Sich-Verbergen geboten wird. Zu diesem Zweck gab es zu jener Zeit offenbar verschiedene Optionen. In Sure 24 ist ab Vers 31 von einem himār bzw. humur die Rede, einem „ungenähten großen Umschlagtuch, das um Kopf und Schultern drapiert wurde und auch vor das Gesicht gezogen werden konnte“. Damit sollten Frauen ihr „Dekollete“ und ihren Schmuck verbergen. Unter islamischen Gelehrten setzte sich die Überzeugung durch, dass das Haar der Frau zu diesem Schmuck gehöre. Dennoch lautet das Gebot des Koran nicht, dass die Frauen ihren Kopf bedecken sollten.

Der hijāb hingegen sollte die Gattinnen des Propheten davor schützen, sittlichkeitsgefährdend angesehen zu werden. Hijāb ist „heutzutage die arabische Standardbezeichnung für den Kopfschleier, war es zu Zeiten der Verkündung des Koran aber noch nicht“. Es sei dabei damals offenbar an einen Vorhang gedacht worden, nicht an ein Tuch, dass die Frau auf dem Kopf trägt. Und dann gibt es da noch den ğilbāb bzw. ğalābīb, ein weites, umhangartiges Gewand, das seiner Natur nach ebenfalls kein Kopftuch sein kann. (Zum Text der Islamkonferenz, der auf einem Vortrag der Islamwissenschaftlering Prof. Rotraud Wielandt, Tübingen, beruht, geht es hier.)

Ich gebe diese Hinweise aus folgendem Grund: Wenn wir anfangen, über Lösungen zu sprechen, sollten wir berücksichtigen, dass es für viele Muslime zumindest ungewohnt ist, an die göttliche Offenbarung des Koran historisch-kritisch heranzugehen. Zugleich sind sie offenbar vielfach schlecht über den Koran informiert. Das bringt sie in eine schwierige psychologische Situation, die an eine Wagenburg erinnert. Je mehr sie bedrängt werden, desto lauter wird es aus der Wagenburg zurückschallen. Es stellt sich also die Frage: Wie weit kommt man hier mit Argumenten? Oder brauchen wir doch schärfere Regeln, Gebote und Verbote, um die patriarchalische Nuss zu knacken?

Achtung, vorsorglicher Hinweis: Dieser Thread wird am 9. Mai beendet, weil das FR-Blog dann wegen Bronskis Urlaub ruht. Nach dessen Ende kann es im Juni weitergehen.

fr-debatteHass tötet zuerst die eigene Seele

„Begegnungen mit radikalen Muslimen oder mit Islamisten, wobei ich nicht sicher bin, ob eine „strenge“ Auslegung des Koran gleich Islamist heißt, habe ich keine. Es ist aber nicht zu leugnen, dass es sie gibt und nur die positive Seite zu sehen, hilft auch nicht bei der Suche nach einem Umgang mit der zerstörerischen Kraft dessen, was mehr oder weniger im Untergrund statt findet. Das verstörende an Hass ist, dass er zuerst die eigene Seele „tötet“.
Woran ich noch knabbere sind die Kopftücher für die kleinen Mädchen. Dieser Anblick tut richtig weh. Bei einer erwachsenen Frau sehe ich unter Umständen die Möglichkeit der „freien Wahl“. Keine Wahl mehr sehe ich, wenn man schon als kleines Mädchen zum Kopftuch tragen „gezwungen“ wird.
Ich kann dem Gedanken, das ein Verbot das Gegenteil bewirkt folgen, frage mich aber, ob ein Nichtverbot auch das Gegenteil bewirkt. Will sagen, wie viele junge oder auch erwachsene Frauen legen ihr Kopftuch wieder ab?“

Anna Hartl

(Link zum Originalkommentar)

fr-debatteKleine Töchter werden in den Kulturkampf geschickt

„Eben das ist das Problem, dass beide „Strategien“ falsch sind, weil beide auf die islamistische Strategie hereinfallen, Nebenkriegsschauplätze mit symbolischem Charakter (Kopftuch, Niqab, Burka) für eine „Religion“ zu eröffnen, welche das eigentliche Anliegen verschleiern und zugleich einen Schritt weiter bringen, nämlich in einer demokratischen Gesellschaft Einfallstore für patriarchal-totalitäre Herrschaft zu finden und zu nutzen.
Verbot des Kopftuchs wird von Muslimen – egal, ob fundamentalistisch oder nicht – als Angriff auf „den Islam“ als solchen interpretiert, ist damit kontraproduktiv.
Noch mehr gilt das aber für das Gegenteil, das Laissez-faire. Es bestärkt die radikal-islamistischen Kräfte in ihrer Strategie, sich immer mehr als „die Repräsentanten des Islams“ aufzuführen, die bisher ja durchaus erfolgreich ist.
Der Hauptfehler liegt darin, auf islamistische Vorgaben lediglich zu reagieren (und so an der Nase herumführen zu lassen) statt klipp und klar das ins Zentrum eigenen Handelns zu stellen, was „Islamismus“ eigentlich ausmacht: Die Herrschaft feiger Machos, die diese nur so lange ausüben können, als sie in ihrem Sinne nicht nur in ihren Familien, sondern auch bei uns Angst und Schrecken verbreiten. Die ihre Frauen, und schlimmer noch: ihre kleinen Töchter vorschicken, den Kulturkampf durchzufechten, den zu führen sie selbst zu feige sind.
Ich habe das ja selbst erlebt und in dem Bild der Macho-Väter dargestellt, die vor mir zum folgsamen Schülern mutierten, während ich ihnen als legitimierte Gegen-Autorität diktierte, was zu ihren Pflichten als Väter von Töchtern in einer deutschen Schule gehört. Schlussfolgerung: Es ist völlig klar, dass vor allem das Durchsetzen von Kopftüchern für kleine Mädchen bei Islamisten eine Machtfrage gegenüber dem demokratischen Staat darstellt, den sie ohne dies zu verlieren drohen. Das wird auch in einer Antwort von „Botschaft des Islam“ auf einen Kommentar zum „Aufruf“ deutlich:
„Wa Alaikum Salam, in erster Linie trägt eine muslimische Frau ein Kopftuch, weil es ein Gebot Allahs ist. Und wenn man dieses Gebot an seine Kindern bereits im frühen Alter weitergeben möchte, hat sich ein Staat nicht darin einzumischen.“ (vgl. Beitrag 18. April 2018 um 11:49)
Will heißen: Die kleinen Kinder werden als Besitz der Eltern betrachtet, mit denen sie tun und lassen können, was sie wollen. Sie rechtzeitig in ihrem Sinn zu indoktrinieren (solange sie sie unreif, also nicht geistig in der Lage sind, dies zu erfassen), ist für sie essentiell, da sie sonst ihrer absoluten Herrschaft an unsere „verdorbene“ Kultur zu entgleiten drohen.
Eine Gegenmaßnahme muss also unmittelbar diese Machoherrschaft ins Visier nehmen, ohne den Umweg über die Töchter. Dies ist aber auf der Ebene flächendeckender „Verbote“ nicht möglich, durch die sich Moslem generell in ihren Überzeugungen bedroht fühlen. Das geht nur, indem der Kampf gegen die Machos vor Ort, von den jeweiligen Erziehern/Erzieherinnen (Grundschullehrern/-lehrerinnen) geführt wird: als autorisierte Repräsentanten eines demokratischen Erziehungswesens, das keine Absonderung und Herausbildung totalitärer Gegenkulturen dulden darf.
Ein solches grundlegendes Erziehungsziel kann und muss in internen Regelungen (etwa einer verbindlichen Hausordnung) verankert werden (z.B. keine religiösen Erkennungszeichen in Klassenräumen). Entscheidend ist, dass diese aus demokratischen Erziehungsprinzipien abgeleitet und nicht als gegen eine Religionsgemeinschaft gerichtete Maßnahme erfahren wird. Laut Schulgesetz vorgesehene Zwangsmaßnahmen haben sich dementsprechend gegen verantwortliche Eltern, nicht gegen Schüler/innen zu richten.
Welche Aufgaben hierbei Vorschule bzw. Schule aufgebürdet werden, ist mir wohl bewusst, ich habe das ja selbst erfahren. Nach meiner Überzeugung geht es aber nicht anders.“

Werner Engelmann

(Link zum Originalkommentar)

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13 Kommentare zu “Hass tötet zuerst die eigene Seele

  1. @Werner Engelmann
    „Der Hauptfehler liegt darin, auf islamistische Vorgaben lediglich zu reagieren …“
    Sie haben das zwar anders weiter gedacht, aber da harkt bei mir was ein, obwohl ich nicht weiß, wie es ohne Vorgaben seitens dieser Gesellschaft funktionieren soll.

    Sie haben schon häufiger über die Konfrontation mit den „Machos“ aus diesem Kulturkreis geschrieben.

    Für mich wäre auch Nachdenkens Wert, die Frauen mit ins Boot zu holen. Es geht um die Zukunft ihrer Kinder. Das sind ja nicht alle „Heimchen am Herd“ und dieses Bild der zwei Welten, in der einen geben die Männer die Machos und in der anderen zieht sich Frau in die Welt der Frauen zurück, beinhaltet begrenzte Entfaltung in dieser Gesellschaft. Am Status quo wird nicht gerüttelt. Ihre Begrenzung wird auch die ihrer Kinder sein. Ist das eine Zukunftsoption?

  2. Das Tragen eines Kopftuchs ist an sich ohne Bedeutung, solange es keine Zuschreibungen aufladen. Die Kunst der Provokation lebt sogar davon, völlig bedeutungslose Gegenstände in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung zu rücken. Insbesondere in der Produktwerbung ist das ein häufig verwendetes Stilmittel („Ich trinke Jägermeister, weil mein Dealer zur Zeit in Urlaub ist!“). Analog dazu könnte auch der Satz gebildet werden: Ich trage ein Kopftuch, um meine abstehenden Ohren zu verbergen! Dass ein Kopftuch ein öffentlich sichtbares Zeichen der Liebe zu Gott sein soll, bleibt demnach eine von vornherein komplett beliebige Deutung, solange keine hinreichenden Gründe dafür angeführt werden, weswegen jene nur allein dadurch zum Ausdruck kommen kann. Deswegen muss hier noch einmal auf die Bringschuld einer kopftuchtragenden Muslima verwiesen werden, derer sie sich keineswegs in der Weise entledigen kann, indem sie auf die Freiheit der Religionsausübung abstellt. Ansonsten schließt sie sich selbst davon aus, dass unbeteiligte Dritte sie in ihrem Handeln noch ernst nehmen.

  3. @ Anna Hartl, 24. April 2018 um 10:20

    „Für mich wäre auch Nachdenkens Wert, die Frauen mit ins Boot zu holen.“

    In der Tat die entscheidende Frage, über die nicht nur nachgedacht werden soll. Sondern die im Sinne von Bronskis Einleitung zu Handlungsstrategien führen sollte, um die psychologische „Wagenburg“ aufzubrechen und „die patriarchalische Nuss zu knacken“.
    Handlungsstrategien, die aber nicht aus dem hohlen Bauch geschöpft werden können, sondern (1) historisch-soziologische, psychologische und politische Analysen voraussetzen und (2) für deren Erarbeitung zwischen zwei, ineinander verquickten, Dialogen zu unterscheiden ist: einem innerislamischen Dialog, eher auf Koranexegese ausgerichtet, und einem Dialog MIT Vertretern des „Islam“ in einer offenen demokratischen Gesellschaft, der natürlich nur mit denen sinnvoll geführt werden kann, die sich nicht in ihre „Wagenburg“ einschließen.

    Beides sehr komplexe Fragestellungen, die natürlich nicht einmal ansatzweise in einem Beitrag befriedigend zu klären sind.
    Ich beschränke mich hier zunächst auf die Fragestellungen zu Problem (1).

    Ansätze zu historisch-soziologischen Analysen gibt es durchaus auch im muslimischen Bereich, so bei Necla Kelek („Die fremde Braut“, Kapitel: „Der Prophet und die Frauen“) oder auch bei Ahmad Mansour.
    Beide bestätigen meine These, dass Patriarchat, Koranexegese und psychologische Druckmittel im Sinne fundamentalistischer Interpretation in ihrer Verquickung zu untersuchen sind. Dabei sind die Machtansprüche des Patriarchats primär, während den anderen beiden Aspekten eher absichernde Bedeutung zukommt: im Sinne eines „Status quo“ für bereits existierende muslimische Gesellschaften, im Sinne der Entfaltung einer Dynamik in Richtung auf Rückkehr zu patriarchalen Prinzipien in einer offenen demokratischen Gesellschaft.

    Necla Kelek beschreibt die Formierung des Frauenbilds bei Mohammed – der 5 mal verheiratet war und zahllose Kinder zeugte, als „Religionsstifter und Kriegsherr, Händler und Verschwörer, Liebhaber und Ehemann einer Person“ (S.164) – beim Übergang des „Matriarchats“ der vorislamischen Zeit zum Patriarchat: „Erst später wurden diese matriarchalen Strukturen diskriminiert und als ‚Prostitution‘ geächtet. Zu dieser Zeit aber konnten Frauen noch ihre Ehemänner ‚entlassen‘, und zwar mit einer schlichten Geste. (…)’Du bist entlassen‘.“ (S.168)
    Die Wende trat mit dem Aufblühen des Handels in Mekka und dem Kontakt mit „Juden, Christen und Manichäern“ ein, der die „Suche nach einem eigenen Weltbild“ einleitete:
    „In dieses geistige und machtpolitische Vakuum stieß Mohammed mit seinen Offenbarungen und leitete die entscheidende Wende ein. Er schenkte den Arabern eine neue Religion, ein Rechtssystem und eine Vision: Seine Politik zielte auf Überwindung der Stammesgrenzen, auf Schaffung eines Staates, der durch Sprache und Religion etwas Größeres, die UMMA, entstehen ließ. Religion und Politik waren eins. Die Unterwerfung unter Gott war stets nicht nur Bekenntnis, sondern zugleich auch Machtdemonstration. Der Sieg des Islam bedeutete nicht nur die Unterwerfung des Menschen unter den einen, männlichen Gott, sondern auch die sexuelle Unterwerfung der Frau unter den Mann.“ (S.169)

    Die Verdinglichung der Frau zum Handelsobjekt war nach dieser Analyse Preis des durch die „Umma“ geschaffenen neuen arabischen Selbstbewusstseins. Dieses beruhte auf dem Tausch „Jungfräulichkeit“ gegen exklusive Herrschaft des Ehemanns über die Frau.
    Die Aufspaltung des Frauenbilds in die „Jungfrau“ und die „Hure“ wurde scheinbar aufgehoben durch die Transposition des Mutterbilds in quasi religiöse Sphären:
    „Die absolute Verehrung der Mutter ist bis heute eine Säule des islamischen Lebens, und das Verhältnis von Söhnen zu ihren Müttern grenzt in muslimischen Familien gelegentlich an Heiligenverehrung – mit entsprechenden Folgen für die Psyche der Jungen und die Institution der Ehe. (…) Mit der Hochzeit wird die Trennung zwischen Liebe und Sexualität im Leben des Mannes institutionalisiert; dadurch wird er gerade noch darin bestärkt, eine Frau zu lieben, mit der er keinen Geschlechtsverkehr haben kann: seine Mutter.“ (S.167)

    Die Freudsche Analyse des „Ödipus-Komplexes“ ist hier völlig eindeutig erkennbar. Wobei die psychische Determinierung weitreichende gesellschaftliche und politische Folgen nach sich zieht:
    „Die Liebe ist der Mutter und Allah vorbehalten. Liebe zwischen Mann und Frau ist nicht vorgesehen. Da der Sohn aber nicht mit der Mutter schlafen kann, besorgt die ihm eine Sexualpartnerin, die ihn befriedigen und mit der er Kinder zeugen soll. Diese Zweiteilung zieht sich wie ein Band durch Mohammeds Denken und durch die islamische Lehre. Die Welt ist zweigeteilt: in Innen und Außen, in Ehre und Schande, in Gut und Böse.“ (S.167f.)
    Diese Dichotomisierung der Welt erfolgt aus der Aufspaltung des Frauenbilds und bedingt diese wiederum:
    Die Entsexualisierung des Mutterbilds (aufgrund des Inzestverbots) bedingt zugleich die radikale Sexualisierung der Frau, mithin ihre völlige Unterwerfung unter die sexuellen Bedürfnisse des Ehemanns und damit ihre radikale Reduktion auf den Privatbereich und den Entzug ihres Erscheinungsbilds für die übrige Welt, insbesondere die Männerwelt.

    Meines Erachtens macht diese Analyse einiges deutlich:
    – Das Ineinandergreifen von Sexualwahn und Sexualverdrängung bei islamisch geprägten Männern: Unbeherrschtheit, ungezügeltes Ausleben des Sexualtriebs an Frauen, die der Kategorie „Huren“ zugeordnet werden einerseits (Kölner Silvesternacht), Verdrängung durch Transposition der Sexualität ins Jenseits andererseits („72 Jungfrauen“).
    – Die Funktion der „Religion“ als Mechanismus, der vorhandene patriarchale Herrschaftsstrukturen einerseits verinnerlicht, andererseits jegliches Ausbrechen verhindern und diese damit (für ewige Zeiten) absichern soll.
    – Den Mechanismus der „freiwilligen“ Unterwerfung der Frau als Überlebensstrategie: Ihrer a priori gegebenen Seinsweise als „Opfer“ kann sie nur (scheinbar) entfliehen durch Identifikation mit der patriarchalen „Macht“ (auch: dem „Täter“).
    In diesem Zusammenhang gewinnt das Kopftuch für Islamistinnen an Bedeutung, wie etwa von Hania Ahmed im Thread „Kopftuch aus Liebe zu Gott“ ausgedrückt:
    „Dieser Aspekt zeigt doch gerade, dass die Frauen nicht etwa den Männern dieser Welt untergeben sind, sondern nur allein ihrem Gott.“
    Psychoanalytisch gesprochen: Mit der Unterwerfung unter „Gott“ entzieht sich die Frau in ihrer psychischen Selbstwahrnehmung der Macht „des Mannes“ und transponiert sich selbst in höhere Sphären. Insofern ist es Protest und Unterwerfungsgeste in einem. Es ist psychischer Ausdruck ihrer Zwangssituation. Mit „freier Selbstbestimmung“ nach unserem Verständnis hat das natürlich nicht das Geringste zu tun.

    So pathologische dieses System erscheinen mag (was es wohl auch ist): Es wäre dennoch zu kurz gegriffen, dies allein auf die „Religion“ des „Islam“ zu projizieren und mit bloßer Koranexegese zu antworten.
    Ähnliche Vorstellungen sind bzw. waren auch im Christentum vorhanden: Sowohl im Katholizismus (Marienbild und „Jungfräulichkeits“-Wahn) als auch im Protestantismus (Askese, Sexualfeindlichkeit, z.B. gezeigt im Film von Haneke: „Das weiße Band“).
    Interessant ist z.B., dass die gleiche Aufspaltung des Frauenbilds sich in bürgerlichen, besonders pietistischen Vorstellungen des frühen 18. Jahrhunderts wieder findet. Hier ist die „Jungfräulichkeit“ der Tochter das einzige Pfund, das ein machtlos erscheinendes Bürgertum einem mächtigen, in seiner Sexualmoral verkommenen Adel entgegen zu setzen hat: Standeskämpfe werden auf „moralischer“ Ebene ausgefochten und „Jungfräulichkeit“ wird zum Politikum. „Erfolge“ des ohnmächtigen Bürgertums zeigen sich freilich zunächst nur in Form von Selbstaufgabe: durch Selbstmord, das dem moralisch verkommenen Adel sein Lustobjekt entzieht. So noch in Lessings „Emilia Galotti“.

    Man kann wohl davon ausgehen, dass die islamistische Sicht auf unsere offene Gesellschaft der Sicht des Bürgertums im frühen 18.Jahrhundert auf Adelswillkür durchaus ähnelt. Und natürlich ist ein Kopftuch auch Ausdruck des Protests – aus ihrer Sicht – gegen eine moralisch „verkommene“ westliche Welt.
    Ein Beleg für diese Einschätzung steht mir auch zur Verfügung:
    Auf meinem Programm der 8. Klasse während meiner Kreuzberger Zeit der 80er Jahre (muslimischer Anteil der Schüler bis zu 50 %) stand regelmäßig Schillers „Kabale und Liebe“ (mit ähnlichem Ausgang wie bei „Emilia Galotti“, aber einem mehr kämpferischen Bürgertum). Die intensivste Mitarbeit zeigten dabei regelmäßig türkische Mädchen (freilich ohne Kopftuch).
    Einmal ein türkisches Mädchen zu mir: „Herr Engelmann, das ist genau unsere Situation!“

  4. Zu diesem Thema empfehle ich auch das Buch der Islamwissenschaftlerin und Ethnologin Susanne Schröter (Uni Frankfurt): „Gott näher als der eigenen Halsschlagader“. Fromme Muslime in Deutschland, 2016.
    Die Autorin vermittelt sowohl Einblicke in die Denkweise von Muslimen und Musliminnen, die in den verschiedenen muslimischen Kulturvereinen Wiesbadens engagiert sind, als auch in die städtische und kirchliche Integrationsarbeit.

  5. @ Brigitte Ernst, 25. April 2018 um 7:21

    Danke für die Buchempfehlung!
    Was die Informationen über Susanne Schröter bei Wikipedia betrifft, kann ich deren Positionen klar teilen.
    In der Tat scheint mir das Hauptproblem bei der Diskussion zu sein, dass eigene Vorstellungen und Denkweisen auf Menschen muslimischer Herkunft projiziert werden (z.B. religiöse „Selbstbestimmung“ durch Kopftuch), ohne die notwendiger Weise sehr unterschiedlichen Denkweisen überhaupt zu kennen. Produktive Strategien können aber nur aus der genauen Kenntnis eben dieser Bedingungen entwickelt werden.

    Hier ein Link zu einem weiteren interessanten Interview zu Susanne Schröter:
    http://www.fnp.de/lokales/frankfurt/Muslime-sind-in-einer-schwierigen-Situation;art675,1236950

  6. @ Werner Engelmann

    Am 24. April, 17:09, sprechen Sie von der „Verdinglichung der Frau zum Handelsobjekt“ in der islamischen Kultur.
    Und wie sieht es bei uns aus?
    Prostitution und Pornoindustrie haben sich zu blühenden Wirtschaftszweigen entwickelt, die mithilfe von – freiwilligen oder durch die Armut gezwungenen – vorwiegend weiblichen Nachwuchskräften aus aller Welt stetig expandieren. Hier kommt doch die auch in unserer Kultur beheimatete Dichotomie von Heiliger und Hure zum Tragen, nur dass hier die Ehefrau den Part der Heiligen übernimmt. „Ich liebe meine Frau“, behauptet der Mann, um sich dann auf der Geschäftsreise – möglichst noch vom Arbeitgeber gesponsert – mit käuflichen Damen zu vergnügen oder, wenn er sich das nicht traut, sich heimlich an einschlägigen Bildern und Filmchen zu delektieren. Schattenaktivitäten in einer Schattenwirtschaft. Muss man sich darüber wundern, dass sich aufrechte Muslime von dieser „Leitkultur“ abgestoßen fühlen und ihre Töchter davor bewahren wollen?

    Und was die Sexualisierung kleiner Mädchen anbetrifft: Bei uns werden Ihnen sexy Role Models à la Barbie ins Kinderzimmer geliefert, und statt sich mit kindgerechten Spielen zu beschäftigen, äffen sie bereits im Grundschulalter Stars und Sternchen nach, die darin wettweifern, ihre weiblichen Reize so hüllenarm wie möglich in die Welt hinauszusenden. Und wir erheben uns über kleine Musliminnen, die ihre Vorbilder – in diesem Fall „sittsame“ Gläubige – nachahmen wollen und/oder sich von der ausufernden Freizügigkeit in unserer modernen Gesellschaft abgetörnt fühlen.

    Ich denke, zum gegenseitigen Verständis sollte man sich bisweilen in die Haut des/der anderen versetzen. Nur so gerät der Dialog von der einseitigen Belehrung zum Austausch auf Augenhöhe.

  7. @ Brigitte Ernst, 26. April 2018 um 18:27

    „Hier kommt doch die auch in unserer Kultur beheimatete Dichotomie von Heiliger und Hure zum Tragen…“

    Dass in bestimmten „christlichen“, vor allem katholischen Vorstellungen auch eine ähnliche Dichotomie Eingang gefunden hat, darauf habe ich mit Bezug auf das Mariendogma der „unbefleckten Empfängnis“ ja ausdrücklich hingewiesen.
    Näheres dazu findet man u.a. bei Hans Küng („Credo“), der nachweist, dass diese dem Christentum fremde Vorstellung aus dem ägyptischen Pharaonenkult „entliehen“ wurde, welcher den göttlichen Pharao von Menschlichem abgrenzte:
    „Ja, der Pharao Ägyptens wird als Gottkönig wunderbar gezeugt aus dem Geistgott Amon-Re in der Gestalt des regierenden Königs und der jungfräulichen Königin. (…) Etwas exklusiv Christliches ist gerade die Jungfrauengeburt aus sich selbst heraus nicht! (…) Jedenfalls findet sich im Neuen Testament noch nicht jene Hochstilisierung der Jungfräulichkeit Mariens zum großen Ideal, die für Zeitgenossen symptomatisch geworden ist für die ’sexuelle Verklemmtheit‘ der Kirche.“ (S.63f.)

    Hier wird klargestellt, dass dieses abwegige Dogma weder im Christentum noch „in unserer Kultur beheimatet“ ist, sondern in dogmatischen Hirnen einer Kirchenhierarchie, die (bei einem ausschließlich männlichen katholischen Klerus sicher nicht zufällig) von Sexualfeindlichkeit geprägt sind. Ziel dieses „Dogmas“ ist die Überhöhung der Mariengestalt, die besonders fundamentalistische Ausprägungen wie den polnischen Katholizismus kennzeichnet.
    Dass dies das Frauenbild „unserer Kultur“ generell präge und damit für sie typisch sei, wird man nicht einmal für das erzkatholische, aber durchaus sinnenfrohe Bayern behaupten können (wo ich einen Großteil meiner Kindheit zugebracht habe).
    Und was den Umgang mit Frauen betrifft, trennen ihn (auch nach eigner Anschauung) noch Welten zu den Entsprechungen im Islam, wo nach islamistischer Auslegung das Frauenbild zur unveränderlichen „göttlichen Offenbarung“ mit – angeblich ebenso unveränderbaren – Auswirkungen auf gesellschaftliches Leben avanciert.

    Ebenso wenig kann ein von der Pornoindustrie kräftig befeuerter Sexualwahn auf solche Dogmen zurückgeführt werden. Er steht gerade in krassem Widerspruch zu katholischen Vorstellungen – wie ja die Rektionen des katholischen Milieus gegen etwas freiere Filmdarstellungen in den 50er und 60er Jahren zuhauf belegen.
    Fortschreitende „Sexualisierung“ ist auch nicht Ergebnis „der 68er“, wie Reaktionäre behaupten, sondern einer kapitalistischen Manipulationsindustrie, welche aus der Ausbeutung verdrängter Triebhaftigkeit Profit schlägt – was ja gerade von den 68ern aufgedeckt und massiv bekämpft wurde.
    Die Gleichsetzung „unserer Kultur“ mit entarteten Auswüchsen entfesselter kapitalistischer Besitzverhältnisse, die ja permanent im Zentrum unserer Diskussionen stehen, gehört erkennbar zum Konstrukt von Ideologen, denen es vor allem um Beseitigung während zweier Jahrhunderter errungener menschenrechtlicher Standards geht, mit dem Gleichheitsgebot an der Spitze.

    Zugleich ist das verbreitete Klischee von „moralischer Verderbtheit“ westlicher Kulturen Ausdruck der im paternalistischen Denken angelegten sexuellen Verklemmtheit, die mit unterdrücktem Sexualwahn einhergeht (auf den Westen projiziert). Beides beflügelt in dialektischer Weise unbeherrschte „Männerphantasien“, die sich immer dann Luft verschaffen, wenn sich Gelegenheit dazu ergibt: Wehe, wenn sie losgelassen! – Weshalb eine auf solchen Perversionen aufbauende Männergesellschaft, die ihrer Triebe nicht Herr wird, auch der – möglichst totalen – Verschleierung der Frauen bedarf.
    „Perversion“ verstehe ich dabei sowohl in psychologischer Hinsicht als „Regression“ wie auch in gesellschaftlicher Hinsicht als eine die menschlichen Anlagen deformierende Verirrung, insbesondere in Hinblick auf die Fähigkeit zu Selbstkritik und Selbstbestimmung.

    Klarer Widerspruch zu Ihrem letzten Absatz:
    Zunächst wüsste ich schon gerne, wie denn ein auf „gegenseitigem Verständnis“ beruhender „Dialog“ mit Vertretern einer Ideologie aussehen soll, die sich diesem gezielt und systematisch entziehen.
    Zweck dieses Threads ist gerade herauszufinden, mit wem von den in ihrem Einflussbereich Befindlichen ein solcher Dialog überhaupt denkbar ist und wie er zu führen wäre.
    Die Auseinandersetzung mit einer historischen und soziologischen Analyse wie der von Necla Kelek in „Die fremde Braut“ (auf die, klar markiert, sich meine Ausführungen beziehen) ist gerade Voraussetzung hierfür. Diese Analyse baut nicht nur auf eigenem Erleben und genauester Kenntnis der geschilderten gesellschaftlichen Zusammenhänge von innen heraus auf, sie erfolgt auch aus dem Erleben unendlichen Leids, erkennbar besonders im Miterleben einer Beschneidung und den Kapiteln über türkische Hochzeit („Die Hochzeitsnacht und ein Fluch“ sowie „Als der Himmel weinte“): „Die Hochzeitsnacht war ein Bad der Tränen, das darauf folgende Leben ein Meer der Demütigungen“ (S.201).
    Ich glaube nicht, dass sie es nötig hat, von unsereins darüber belehrt zu werden, dass man „sich bisweilen in die Haut des/der anderen versetzen“ sollte. Sie steckt in dieser „Haut“.
    Und was die Bereitschaft betrifft, sich auch emotional, also durch „Empathie“, „auf Augenhöhe“ zu begeben: Der Beleg für Empathiefähigkeit erfolgt nicht in verbalen Bekundungen des „Verständnisses“, sondern in konkretem Engagement, z. B. für Flüchtlinge und Menschen anderen Glaubens, in Hilfsangeboten ohne Ansehen der Person oder ihres „Glaubens“.

  8. @Brigitte Ernst
    Das ist ein ziemlich krasser Gegensatz den Sie hier aufmachen.
    Wenn Sie sich den Alltag ansehen, dann sind die, wie Sie es nennen hüllenarmen, doch in sehr geringer Zahl unterwegs. Der sog. Westen wird weder von leichtbekleideten Stars und Sternchen noch von Prostituierten dominiert.

    Außerdem ist die Verhüllung der Frau im Islam schon um ein paar tausend Jährchen älter, als dass man es als eine Reaktion auf die Freizügigkeit z.B. hierzulande bezeichnen könnte.

    Ich erhebe mich nicht über die Musliminnen. Was ich mir wünsche ist eine Aufhebung des Zwanges. Die Möglichkeit der freien Kleiderwahl ohne der Abkehr von ihrem Gott bezichtigt zu werden. Die Kerle laufen doch auch rum wie sie wollen. Wir arbeiten hier immer noch an der Gleichberechtigung von Frau und Mann. Warum soll der einen verboten sein was dem anderen erlaubt wird?

    Es kann doch nicht Ihr Ernst sein diese Gegenüberstellung und von welchem Austausch sprechen Sie denn? Er findet doch faktisch gar nicht statt.

    Das Kopftuch und die immer mehr zunehmenden bodenlangen Mäntel drücken ja nicht nur das Verbergen der Weiblichkeit aus. Ist mir auch recht, wenn’s denn Spaß macht. Es wirkt nur leider wie eine Kontaktsperre. Wie soll daraus ein miteinander werden? Vielmehr ist das die Ausrichtung für eine Parallelgesellschaft. Da frage ich mich dann, wo lebe ich?

  9. @ Werner Engelmann
    Anna Hartl

    Es ging mir bei meinem letzten Kommentar weniger um die Frage, ob die wirtschaftliche Ausbeutung von Frauenkörpern in unserer heutigen Gesellschaft auf urchristliches Gedankengut zurückzuführen oder von woher auch immer importiert worden sei, sondern um die Feststellung, dass sie – der in unserem Grundgesetz verankerten Gleichberechtigung zum Trotz – in unvermindertem Maße existiert. Bereits Brecht kritisiert in einigen seiner Werke die in der kapitalistisch geprägten Gesellschaft herrschende Vermarktung der „Ware Liebe“, d.h. vorwiegend (nicht nur) von weiblicher Sexualität.
    Diese „Verdinglichkeit der Frau zum Handelsobjekt“ zeigt sich ja nicht nur in der Porno- und Rotlichtindustrie, sondern auch in der Ausbeutung von Frauenkörpern in der Werbung, in der Model-Branche, wo sich junge Mädchen halb zu Tode hungern, und in der Film- und Fernsehindustrie, wo Karrieren gegen Sex getauscht werden – oder nicht wenige Männer solche Geschäfte zumindest anstreben. Die einen zahlen für die Verwertung der weiblichen Körper, die anderen sehen sie als Freiwild an, dem sie ungefragt zu Leibe rücken können. Wer das bisher nicht begriffen hatte, dem dürfte die #MeToo-Outings doch die Augen geöffnet haben.

    Dass man diesem bedauerlichen Phänomen nicht mit Koptüchern beikommt, ist klar, ich wehre mich nur gegen die mir teilweise recht arrogant erscheinende Gegenüberstellung von unserer ach so frauenfreundlichen Alltagskultur und dem angeblich so unaufgeklärten und rückständigen Geschlechterverhältnis in islamisch geprägten Kulturen. Bevor man sich über andere erhebt, sollte man auch mal ein bisschen vor der eigenen Tür kehren. Das betrifft zum Beispiel auch Katholiken, die den Verstoß ihrer Kirche gegen das Grundrecht auf gleiche Zugangsmöglichkeiten zu allen Berufen dulden.

    Wenn wir Muslime, deren Überzeugungen von grundgesetzwidrigen Normen geprägt sind, von der Überlegenheit demokratischer Prinzipien überzeugen wollen, gelingt das sicher nicht mit schulmeisterlicher Arroganz, indem wir ihnen ihre Rückständigkeit (meist ohne viel Ahnung vom Wortlaut des Koran und dessen Auslegungsmöglichkeiten) ständig unter die Nase reiben, sondern nur, wenn sie, etwa als SchülerInnen und Eltern – Respekt vor ihrer Religion und Kultur und Akzeptanz ihrer Individualität erfahren. Wenn das fehlt, ziehen sie sich umso mehr in die Parallelgesellschaft zurück. Wie wichtig eine solche persönliche Wertschätzung für Lernprozesse ist, sollte jedem, der sich mit Pädagogik beschäftigt hat, eigentlich klar sein.
    Unerlässlich ist hier auch die Mitarbeit fortschrittlicher Lehrkräfte und Sozialarbeiter mit Migrationshintergrund, die eigene Erfahrungen in die Begegnungen/Lernprozesse einbringen können und bei den Gesprächspartnern größeres Vertrauen genießen.
    Also Einfühlsamkeit statt besserwisserischem Holzhammer, das ist es, was ich mit „Augenhöhe“ meine.

  10. @Brigitte Ernst
    Einfühlsamkeit, verstehen wollen,sind nur keine Einbahnstraße.
    Respekt vor meiner Kultur und Religion sowie Akzeptanz meiner Individualität erwarte ich auch umgekehrt. Auch das ist keine Einbahnstraße.

    Seine Kultur behalten zu wollen, die Muttersprache pflegen zu wollen, verstehe ich auch. Die Frage die sich mir aber hier stellt, ist zumindest die Kultur kompatibel? Gibt es hier die Möglichkeit eines Miteinander oder reicht es nur zu einem Nebeneinander?
    Wenn Letzteres der Fall ist, wie soll diese Gesellschaft dann funktionieren?

    Kleines Beispiel am Rande. Da an der von meinem Sohn gewünschten Schule kein Platz mehr war, besuchte er für kurze Zeit eine Schule, an der zumindest in seiner Klasse die Muttersprache der meisten Kinder nicht deutsch war. Zunächst kein Problem. Geändert hat sich dies nach einem Elternsprechtag aus zwei Gründen. Mir wurde mitgeteilt, dass mein Sohn aufgrund „seiner Nationalität, Muttersprache deutsch, gemobbt wurde. Der zweite Grund war mein eigenes Empfinden. In der Stunde, in der ich auf mein Gespräch wartete, wurde um mich herum kein Wort in meiner Sprache gesprochen. Eine ziemlich „schräge“ Erfahrung. Als mich dann doch jemand in der landesüblichen Sprache ansprach, war es die Klage darüber, dass nicht genügend Rücksicht auf ihre Kinder genommen würde, da sie der deutschen Sprache nicht so mächtig wären. Kinder in der 3. Generation hier in Deutschland!

    Bei mir blieb der Eindruck zurück, die Erwartungen sind hoch, sich selbst bewegen steht nicht zur Debatte.

  11. @ Anna Hartl, 29. April 2018 um 10:54

    Zum Beispiel von Mobbing Ihres Sohns wegen deutscher Muttersprache:

    Eines von vielen Beispielen falsch verstandener „Toleranz“. Sollte dies neueren Datums sein, wäre das eine Form von „Multikulti“-Verständnis, das in keiner Weise vertretbar ist und nur noch als Karikatur herhalten kann.
    Dabei gibt es längst schon viele positive Beispiele, wie man mit solchen Situationen umgehen kann. Das wohl bekannteste ist das der Hoover-Realschule in Berlin-Wedding, wo von der Schulkonferenz (Lehrer, Eltern- und Schülervertreter) schon 2006 Deutschpflicht am Schulhof beschlossen wurde – mit großem Erfolg.
    Hierzu ein Link zu der Berliner Morgenpost:
    https://www.morgenpost.de/berlin/article104683929/An-der-Hoover-Schule-herrscht-Deutsch-Pflicht.html

    Dies als Vorgriff für die weit umfassendere Frage, wie denn bei der Islam-Debatte „Frauen mit ins Boot“ geholt werden können. Ich bin noch nicht dazu gekommen, mich eingehender damit zu beschäftigen.

  12. Insofern wir hiesig immer noch in einer der weltweit am höchsten entwickelten Industriegesellschaften leben, stellt sich zunächst die Frage, ob mit deren Überwindung und der Etablierung einer anderen Form der Auseinandersetzung mit der Natur das mitunter unsägliche Elend der Vergangenheit geheilt werden kann. Darauf gibt die so genannte Frankfurter Schule die eindeutige Antwort, dass in gleich welchem säkularen Gemeinwesen das jeweils vergangene Leiden niemals gutgemacht werden kann und stets als Unabgegoltenes von Bestand bleibt. Dementsprechend wohnt auch der Kritischen Theorie von Beginn an die Theologie inne, in der, zugespitzt, die Sehnsucht zum Ausdruck kommt, dass „der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge“ (Horkheimer, 1970). Theologie so verstanden, steht hier demnach keinesfalls für eine Wissenschaft vom Göttlichen oder gar eine Wissenschaft von Gott. Gemessen daran, so könnte man schlussfolgern, hängen nicht nur viele Christen, sondern nicht zuletzt auch unzählige Muslime einem längst überholten Verständnis von der Wirklichkeit nach. Womöglich äußert sich sogar im Tragen eines Kopftuchs als öffentlich sichtbarem Zeichen der Religiosität massiv ein regressives Verhalten, das hingebungsvoll überkommenen Lebens- und Produktionsweisen huldigt, anstatt in die Zukunft gerichtet zu sein und dort notwendig die Sehnsucht nach dem ganz Anderen mit besserem Wissen zu befriedigen.

  13. @ Anna Hartl

    Die Erfahrung, dass mich ein ungutes Gefühl beschlich, wenn ich mich in Frankfurt auf der Zeil in Richtung Zoo bewegte und um mich herum kaum noch Deutsch gesprochen wurde, hatte ich schon vor 20 Jahren. Wir sind ein Einwanderungsland und müssen uns an diese Situation gewöhnen. Viele finden das ja auch prima, ich beobachte das zum Teil eher mit gemischten Gefühlen.

    Mobbing in der Schule (und auch anderswo), egal aus welchem Grund, geht natürlich gar nicht. So etwas muss sofort von der Lehrerschaft aufgegriffen und bearbeitet werden. Deutschpflicht auf dem Schulhof kann helfen, aber nur, wenn die gesamte Schulgemeinde – SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern – an einem Strang zieht.
    Um die SchülerInnen frühzeitig sprachlich für die Schule fit zu machen, würde mir eine Kindergartenpflicht ab etwa vier Jahren vorschweben, und um bessere Bildungschancen für alle zu erreichen, wäre es an der Zeit, in Deutschland endlich flächendeckend die Ganztagsschule, ausgestattet mit ausreichend SozialarbeiterInnen und PsychologInnen, einzuführen. Dann können sich auch Eltern mit Migrationshintergrund nicht mehr über mangelnde Rücksichtnahme auf ihre Kinder beschweren, und eventuelle Unstimmigkeiten zwischen verschiedenen Ethnien könnten gleich an der Wurzel gepackt werden, ohne dass der Unterricht darunter leidet.
    Ich habe bis 2012 29 Jahre lang an einem Frankfurter Innenstadtgymnasium unterrichtet, wo bereits vor 20 Jahren der Anteil rein deutschstämmiger SchülerInnen in einigen Klassen unter 50% lag. Mangelnde Sprachkenntnisse bei Eltern habe ich durchaus erlebt (in den 90er Jahren waren das v.a. Flüchtlinge aus dem Jugoslawienkrieg, aber auch sogenannte Importbräute), aber wir hatten auch unter den Muslimen sehr offene, moderne Elternhäuser. Dass ein Kind sich gegen ein Weihnachtssingen oder eine Adventsfeier gewehrt hätte, habe ich nie erlebt. Diesbezüglich waren Eltern und Kinder sehr offen. Deshalb finde ich es auch angemessen, dass man vonseiten der Schulen respektvoll mit anderen Religionen umgeht. Dann hat man am ehesten die Chance – auch mithilfe aufgeklärter muslimischer Lehrkräfte – in einen Dialog zu treten und Einsicht in die Überlegenheit freierer Lebensformen zu erreichen.
    Vor allem aber müssen wir als aufgeklärte Demokraten ein gesellschaftliches Modell vorleben, das auch überzeugt. Das scheint uns bisher nicht gelungen zu sein.

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