Bronskis Homeoffice-Tagebuch – Tag 38

Leben und Arbeiten in Zeiten der Pandemie

Heute gab’s Krach wegen der Leserbriefe, die sich gegen die Maskenpflicht aussprachen – eine Position, die ich persönlich vertrete und unterstreiche, die jetzt aber offenbar zu einer Art Glaubenskrieg führt. Das war nicht meine Absicht. Ich trete stets dafür ein, dass Meinungen und Positionen frei gesagt werden können. Denkkategorien wie „Anstand“, „gesunder Menschenverstand“ oder gar „gesundes Volksempfinden“ will ich in diesem Zusammenhang aber nicht hören, es sei denn als diskutables Gedankengut. Diese Begriffe haben viel Interpretationsspielraum. Man könnte auch sagen: Ich als homosexueller Mann, der in den 70ern und 80ern des vergangenen Jahrhunderts adoleszent war, habe eine, wie ich finde, gesunde Portion an Immunreaktion gegen solche Begriffe aufgebaut. Das sind für mich – ich sage es zugespitzt – Hassbegriffe. Warum, das dürfte heutzutage jedem aufgeklärten Menschen klar sein.

Bronskis Homeoffice-Tagebuch – Tag 38
Donnerstag, 23. April 2020

Selbstverständlich dürfen in Leser*innenbriefen radikale Vergleiche gezogen werden, solange niemand persönlich beleidigt wird. Darüber hinaus darf man sich natürlich aber auch gern mal wieder darüber verständigen, was Anstand und gesunder Menschenverstand heute bedeuten. (Den dritten Begriff vermeide ich bewusst.) Also bitte sehr – haben Sie dazu eine Position? Das wäre eine echt spannende Diskussion. Nehmen wir den gesunden Menschenverstand! Was ist das? Wo steckt der in Zeiten von Klimawandel, der uns alle betrifft? Ist nicht längst klar, dass wir viel, viel, viel mehr gegen den Klimawandel tun müssten? Warum tun wir es nicht? Haben wir keinen gesunden Menschenverstand?

In Offenbach wird jetzt verstärkt in Fahrradstraßen investiert.
F
oto: Thomas Vögele

Das Coronavirus Sars-CoV-2 ist eine riesige Bedrohung. die noch viele Menschenleben kosten wird. Heute aktuell in der Rundschau: ein Beitrag meiner Kollegin Pamela Dörhöfer, der darauf hindeutet, dass eine Infektion mit Sars-CoV-2 keineswegs eine banale Sache ist. Ich habe Dutzende von Mails bekommen, die sich unter anderem auf verharmlosende Videos der Professoren Wodarg und Bhakdi bezogen, in denen das behauptet wurde: banale Erkältung. Diese Videos kursieren im Netz; ich verlinke sie hier nicht, weil ich sie ganz schrecklich finde. Auch Donald Trump hat das lange behauptet.

Gegen diese Positionen scheint selbst die Expertise von Leuten wie Drosten oder Kékule nicht zu helfen. Selbst mit Information und Aufklärung ist solchen Positionen nicht beizukommen. Das erinnert mich an Berichte über Muslime in Pakistan, die sich – das war erst im Jahr 2015 – dagegen wehrten, dass die WHO bei ihnen gegen Polio impfen wollte. Impfen ist nämlich Teufelszeug.

Home sapiens? Na ja.

Naoned!

Worldometer  +++ SafetyDetectives

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7 Kommentare zu “Bronskis Homeoffice-Tagebuch – Tag 38

  1. Sehr gut, dass wir hier isoliert über diese Punkte sprechen und das von der Frage der Sinnhaftigkeit der Maskenpflicht so weit wie möglich trennen. Mir ist wie gesagt nur die Sache mit dem Judenstern übel aufgestoßen. Natürlich kann man alles drucken, was nicht strafbar ist. Wobei ich eine handfeste Beleidigung mit einem schönen Schimpfwort weitaus lieber lesen würde als den nämlichen Vergleich. Da die Maskenpflicht offensichtlich nicht den Zweck hat, den Träger aufs Perverseste zu stigmatisieren und zur Zielscheibe für den Hass der Mehrheitsgesellschaft zu machen – um nur mal einen von vielen Punkten herauszugreifen -, frage ich mich halt, was hinter dem Vergleich steckt. Es fällt mir schwer, das von einer Verzwergung der Shoah zu trennen. Und die wäre unethisch, oder?

  2. In meinen Augen ist das ein drastischer Vergleich, mit dem die Autorin unmissverständlich klarstellen wollte, dass sie sich mit Mundschutz stigmatisiert fühlt. Das bewerte ich nicht inhaltlich, obwohl es der wohl drastischste Vergleich ist, der sich denken lässt. Und es stellt sich auch nicht die Frage, ob die Autorin Recht hat. Es ist ihr Eindruck, dem sie hier Ausdruck verliehen hat. Historisch gesehen geht der Vergleich fehl, wie die allermeisten Vergleiche rund um das Nazireich. Der Autorin droht heute keine Gefahr von Staats- oder Extremnistenseite wie den Juden damals. Der Vergleich macht trotzdem auf metaphorische Weise – eben dies ist der Punkt! – spürbar, dass es für die Autorin um Ausgrenzung und Stigmatisierung geht. Ob nun zu Recht oder zu Unrecht, das lasse ich dahingestellt. Als Meinungsäußerung müssen wir das nach meinem Dafürhalten aushalten. Und warum auch nicht, wenn sich daraus Gespräche ergeben?

  3. Guten Morgen, diese Argumentation kann ich grundsätzlich nachvollziehen. Allerdings stammt der Vergleich aus dem Leserbrief von Herrn Otto, der sich nicht mit einem schlechten Gefühl
    beim Tragen der Maske befasst (wie Frau Kania mit dem, wenn man ihre Position teilt, sehr gelungenen Begriff „Virentransportbehälter“), sondern einfach nur damit, dass es auch ohne Masken geht. Drittes-Reich-Vergleiche sind so gut wie nie angemessen, da haben Sie völlig Recht. Ich sehe aber noch Unterschiede, denn wenn alle (!) ein Tuch oder eine Maske tragen müssen, um die Verbreitung einer Krankheit zu vermeiden, hat das null damit zu tun, dass wenige einen Stern tragen müssen, um massive Repressionen zu vereinfachen. Es geht also nicht wie üblich bei diesen Vergleichen darum, dass eine Greueltat mit einer anderen verglichen wird oder Stalin mit Hitler. In diesen Fällen besteht immerhin eine Vergleichbarkeit in dem Sinne, dass sich neben Unterschieden auch – nicht bloß gänzlich irrelevante und oberflächliche, wie die Beschaffenheit aus Stoff oder die Verpflichtung als solche – Gemeinsamkeiten finden. Vielen Dank übrigens für Ihre Arbeit und die angenehme und vernünftige Diskussion.

  4. Statt von gesundem Menschenverstand rede ich lieber vom geschulten Verstand. Also von jenem Grad menschlichen Bewusstseins, der die Summe der bislang erworbenen Kenntnisse darstellt und für weitere Erkenntnisse offen ist. Denn bei manchen, die den gesunden Menschenverstand proklamieren (allerdings nicht bei allen), habe ich den Eindruck, dass sie zu einem sehr frühen Zeitpunkt das Nachdenken und die Aneignung von Kenntnissen eingestellt haben.

    Bei der Atemschutzmaske habe ich hinzugelernt. Noch bis Ende März hielten die Experten sie für überflüssig, sogar für kontraproduktiv (mit Ausnahme von Professor Alexander Kekulé). Also war ich auch reserviert. Vor Ostern änderten sich die Meinungen der Experten. Seither trage ich eine selbstgebastelte in Geschäften sowie in U- und S-Bahn. Heute hat der Vizepräsident des RKI die Schutzmaske ausdrücklich empfohlen.

    Das hat bei mir Erinnerungen an Vorgänge ausgelöst, die 50 Jahre zurückliegen und die ich gedanklich abgelegt hatte. Als Zivildienstleistender in einer Unfallklinik gehörte es auch zu meinen Aufgaben, Verstorbene in die Leichenhalle zu bringen. Während die meisten Krankenschwestern und -Pfleger dabei keine Schutzmaske anlegten, war das bei den koreanischen Schwestern völlig anders. Deswegen fragte ich einen Oberarzt. Sinngemäß antwortete er mir:
    Die Opfer sind wegen Arbeits- und Verkehrsunfällen eingeliefert worden; über Vorerkrankungen, die in keinem direkten Verhältnis zu den Verletzungen stehen, wissen wir wenig. Deswegen legen wir keine Schutzkleidung an. In Korea und Japan ist man vorsichtiger. Ihnen als Ersatzdienstleistendem rate ich, eine OP-Maske zu verwenden. Denn falls Sie sich an einer unentdeckten Erkrankung infizieren, wird Sie das Vaterland im Regen stehen lassen. Ärzte und Pflegepersonal sind gegen Berufskrankheiten versichert, Sie nicht.
    Wenn man so will, kann man diesen Ratschlag als Äußerung des gesunden Menschenverstands verstehen.

  5. Das Thema gesunder Menschenverstand habe ich beim Thema Energie schon lange zu den Akten gelegt. Es geht immer nur um Macht und Geld, oder wie lässt sich beim Thema Corona erklären das Söder der beliebte Wortführer ist den viele schon Kanzler zutrauen und Bayern die mit Abstand schlechtesten Zahlen in D. hat. Söder sagt dazu immer das Bayern dicht an Österreich liegt und hofft das niemand merkt das Österreich wesentlich bessere Zahlen als Bayern hat. Wo ist denn da irgendwo Verstand zu erkennen.

  6. Ich finde, das ist eine spannende Frage. Gesunder Menschenverstand kann doch eigentlich nur etwas sein, was in den Dimensionen von Gemeinwohl angesiedelt ist. Über gesunden Menschenverstand zu reden, heißt also, über Gemeinwohl zu reden. Ich weiß nicht, ob „geschulter Verstand“, lieber Herr Mertens, das erfasst. Das hat mir zu viel mit Bildung zu tun. Wo bleibt da die frühkindliche Prägung? Es geht doch um Moral und Ethik dabei, also um etwas, was einem die Eltern von klein auf vermittelt haben sollten.

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