Von und über Gott ist im Lauf der Jahrtausende viel geredet worden, mit ihm nur in seltenen behaupteten Einzelfällen. Das Nachdenken über ihn füllt ganze Bibliotheken, und obwohl wir hier im Westen die Aufklärung durchlaufen haben, hält es an. Auch in Ländern wie Deutschland, in denen Staat und Religion weitgehend voneinander getrennt sind, erleben wir wieder, dass Debatten über Religion und Gott Hochkonjunktur haben.

Warum ist das so? Weil die Muslime, die bei uns leben und hier ihre Religion leben, so viel gottesfürchtiger sind als die modernen Christen? Weil wir uns unserer selbst vergewissern müssen? Oder vielleicht einfach nur, weil die Religion nützlich sein kann, wenn man sich abgrenzen will? Tatsächlich wird Religion benutzt, um die eigenen Besonderheiten identitätsstiftend in den Vordergrund zu stellen, etwa wenn konservative Politiker von christlich-jüdischer Leitkultur schwadronieren – da kommt der Islam nämlich nicht drin vor. Oder wenn konservative Muslime die Debatte über ein Kopftuchverbot für Mädchen bis 14 Jahren, die in NRW läuft, dazu nutzen, um ihr „Wir-gegen-die!“-Gefühl zu stärken.

Da tut es ganz gut, mal über ein verbindendes Thema zu sprechen, bei dem selbst Atheisten mitreden können: Gott. Denn jede und jeder von uns, egal woran er/sie glaubt, ist ihm schon begegnet – dem Begriff, den andere Menschen, die eine/-n prägten wie Eltern, Freunde, Priester, von Gott haben. Es ist natürlich erwünscht, ihn zu übernehmen, diesen Gottesbegriff. Bei Muslimen klappt das gut, bei Christen zumindest in Deutschland zunehmend schlecht. Dabei gibt es doch nur einen Gott für alle Menschen, nicht wahr?

Diese Debatte ist eine Abzweigung aus dem Kopftuch-Thread und nahm ihren Ausgang von dem langen Leserbrief von Klaus Philipp Mertens aus Frankfurt, den ich hier nicht noch einmal veröffentliche; um den Anfang der Debatte zu erfahren, bitte ich Sie, auf „Der Islam muss zu den Menschen finden“ zu klicken, ein bisschen nach unten zu scrollen und nach dem Lesen hierher zurückzukehren. Der erste der nun folgenden Leserbriefe ist eine Reaktion auf die Zuschrift von Herrn Mertens. Los geht’s!

fr-debatteJede Vorstellung von Gott ist falsch

„Herr Mertens war angeblich und ist noch immer erschüttert, weil er erkannte, dass Frau Hania Ahmed überzeugt ist von dem, was sie geschrieben hat. Er selbst ist wahrscheinlich überzeugt von dem, was er geschrieben hat. Damit muss er aber nicht richtig liegen. Selbst die „Erkenntnisse“ der Aufklärung sind nicht in allem ernst zu nehmen. In dem Artikel „Im historischen Kontext“ wird ein „Streifzug“ durch die Entwicklung des Gottesbegriffs gemacht, der mit der Aussage endet, dass der „gestaltlose“ Gott nichts zu tun hat mit unserem menschlichen Verhalten z.B. mit der Nächstenliebe.

Jede Vorstellung von Gott, die wir Menschen versuchen, ist falsch. Da gibt es bei Rilke ein Gedicht, das in diesen Zusammenhang gehört: „Gott, du bist groß. Du bist so groß, dass ich schon nicht mehr bin, wenn ich mich nur in deine Nähe stelle. Du bist so dunkel, meine kleine Helle an deinem Saum hat keinen Sinn. . . . Nur meine Sehnsucht ragt dir bis ans Kinn und steht vor dir als aller Engel größter, ein großer, bleicher und noch unerlöster und hält dir seine weißen Flügel hin.“ – Atheisten wird das allerdings nicht beeinflussen. Aber Atheismus ist unlogisch, weil da etwas verneint wird, zu dem wir keinen Zugang haben. Die Auffassung des Agnostikers wäre vertretbar, aber eigentlich unbefriedigend. – Wenn ich vor einem verschlossenen Raum stehe, kann ich nicht erkennen, ob jenseits der Tür jemand ist. Das ändert sich, wenn jemand „Herein!“ ruft oder selbst herauskommt. Die modernen Agnostiker wagen also gar nicht zu behaupten, dass es Gott nicht gibt. Juden und Christen sind davon überzeugt, dass da jemand „Herein!“ gerufen hat. Und die Christen sind davon überzeugt, dass „jemand aus dem Unzugänglichen“ herausgekommen ist, nämlich Jesus aus Nazareth, der vor uns Christen der Christus ist. Und was er gesagt und getan hat, das ist der Grund, warum wir Ostern feiern.

Walter Deutsch, Bessenbach

fr-debatteEin total aufgeklärtes Land des Fortschritts

Gerne würde ich Herrn Mertens zu seiner Erwiderung auf Frau Hania Ahmeds Leserbrief zurufen „Vorsicht!“
Kenntnisreich und beseelt beschreibt er die Überwindung eines archaischen und hierarchischen Gottesbildes, die uns die Aufklärung vor 300 Jahren beschert hat. Als kluge und fortschrittliche Europäer sind wir seither von unserer naiven, „schlichten Anschauung der Dinge“ befreit und werden entsprechend ernst genommen. Und nun wird uns zugemutet, uns an den Anblick von Frauen zu gewöhnen, die sich noch eine Vorstellung von einer Autorität machen können, die möglicherweise größer ist als sie selbst und zu der sie aufschauen möchten. Und sie machen das durch eine symbolisch getragene Kopfbedeckung auch noch deutlich sichtbar! Haben sie etwa nicht ihren Kant, Leibniz, usw. gelesen, ist ihnen etwa schon Luther total entgangen? Sind ihnen in unserem endgültig aufgeklärten Land nicht reichlich Menschen begegnet, die zu ihrer Vollkommenheit gefunden haben, allein durch ihre Verehrung Gottes im Gebot der Nächstenliebe?
Diese Damen sollten also schnellstens die 300 Jahre der Erleuchtung quasi im Schnelldurchlauf nachholen und sich mit der entsprechenden Geisteshaltung vertraut machen – aber, und hier begeben wir uns auf recht glitschiges Terrain: bei Luther könnten sie auf Lukas 18, 9-14 stoßen, wo Jesus im Gleichnis spricht, vom armen Sünder, der mit niedergeschlagenen Augen Gott um Vergebung für sein schwaches Bemühen bittet, während sich der Pharisäer im Bewusstsein seiner wohlerarbeiteten Gerechtigkeit seiner Taten rühmt und Gott für sein privilegiertes Dasein dankt. Wehe, woher kommt mir Hilfe?
Der FR sei Dank – in der gleichen Ausgabe der Zeitung kommt im Interview mit Herrn Frank  10 Seiten später Herr Hans Joas zu Wort („Die Erfahrung des Heiligen...“).  Dieser versucht, Religion über die Ebene persönlicher Erfahrungen zu definieren und nennt  im letzten gedruckten Abschnitt das Problem beim Namen: Dieses steckt in „Weltbildern – ob säkular oder religiös-, die nicht zum Respekt vor den Überzeugungen und Weltanschauungen anderer anhalten.“ Er führt dazu positive Beispiele zu Lernprozessen an, die dazu führen, dass „jedermann zugestanden wird, einen anderen Glauben oder gar keinen Glauben zu haben“.
Dieses Interview würde ich Herrn Mertens gerne zur Lektüre empfehlen. Mir fallen dabei gleich noch Frau Katja Thorwarth und Herr Michael Herl ein, beide sehr geschätzte Mitglieder der FR-Redaktion, die eine Empfehlung zum Lesen der genannten Stelle vielleicht als positiven Schubs zur Erweiterung ihres Horizontes empfinden könnten.
Ich räume ein, dass Predigen leicht ist, Tun ungleich schwerer.“

Karin Unruh, Wehrheim

fr-debatteDer barmherzige Vater aller Völker

 

Klaus Philipp Mertens ist grundsätzlich zuzustimmen, wenn er Gottesvorstellungen in ihren historischen Kontext einordnen will. Wenn er jedoch behauptet, die Gottesvorstellung aus 2. Mose 3,14 (etwa ab 900 v. Chr. in Abgrenzung zu den gestalthaften „Götzen“ im israelischen Umfeld) sei das Ende einer Entwicklung, die„ in der jüdischen und christlichen Religionsgeschichte nicht mehr umkehrbar“ sei, wirkt dies wenig historisch reflektiert. Um etwa 750 v. Chr. tritt in Israel in Konkurrenz zur Erwählungstradition, die Israel als privilegiertes Volk Gottes sieht, die Vorstellung auf, dass der Gott Israels der Gott aller Völker ist (Amos 9,7; Jes 2,1-5). Dies hat erhebliche politische Konsequenzen, was die heutige Regierung in Israel nicht daran hindert, in die Erwählungstradition zurück zufallen. Auch christliche Theologen im nationalsozialistischen Deutschland, selbst die der „Bekennenden Kirche“, fielen dahin zurück, als sie am Erntedankfest 1939 einem nationalen Kriegsgott für den schnellen Sieg in Polen dankten und beteten: „Wir loben dich droben, du Lenker der Schlachten, mögst stehen uns fernerhin bei.“

Aus der „gestaltlosen“ Gottesvorstellung, entstanden im historischen Kontext der Abgrenzung von goldenen Kälbern (2. Mose 32), zu schließen, jede menschliche Gottesvorstellung sei falsch, wie Walter Deutsch unter Berufung auf Rilke meint, verkennt, dass die Gottesvorstellung Jesu ausgesprochen gestalthaft ist. Jesus verkündet den barmherzigen Gott in der plastischen Gestalt des barmherzigen Vaters (Lk 15,11-32), was zwangsläufig politische Konsequenzen hat (Mt 20, 1-15). In Mt 5,43-48 wird deutlich, dass Jesus die Gottesvorstellung von Amos und Jesaja übernimmt, den barmherzigen Vater aller Völker, auch der feindlichen. Aus diesem Blickwinkel ist nicht nachvollziehbar, wenn behauptet wird, Atheismus sei „unlogisch“. Atheisten sehen sich mit Gottesvorstellungen konfrontiert, die sie ablehnen. Auch wer an den barmherzigen Gott Jesu glaubt, muss gegensätzliche Gottesbilder zurück weisen, etwa die Vorstellung vom nationalen Kriegsgott. Logisch und vernünftig erscheint, Gottesvorstellungen im Zusammenhang ihrer politischen Motivation wahrzunehmen und im Rahmen der politischen Auseinandersetzung zu bewerten. Wenn zum Beispiel muslimische oder christliche Frauen mit oder ohne Kopftuch einem Gott des Patriarchats dienen, müssen Alternativen bewusst gemacht werden, etwa 1. Mose 3,16 (um ca. 900 v. Chr.) und 1. Mose 1, 26-28 (um ca. 500 v. Chr.).

Friedrich Gehring, Backnang

fr-debatteAnsätze für Reformen des Islam werden unterdrückt

Friedrich Gehring hat in seinem Leserbrief an theologische Fragestellungen wie die Gültigkeit jüdischer (alttestamentlicher) Glaubenszeugnisse für die gesamte Menschheit erinnert.
Solche Überlegungen sind für mich zunächst nachrangig, was ich auch in meinen Blog-Beiträgen am 2. und 6. April zum Ausdruck zu bringen versuchte (die Diskussion in Blog und Print überschneidet sich teilweise). Denn mir geht es vor dem Hintergrund einer (aus meiner Sicht) unreflektierten Frömmigkeit, die ich am Beispiel der Zuschrift von Hania Ahmed (24. März) kritisierte, zunächst um die Entwicklung von Gottesvorstellungen im Sinn einer Projektion des Menschen auf sich selbst (in Anlehnung an die philosophischen Überlegungen Ludwig Feuerbachs).
Diese manifestieren sich vor allem in den Namen, welche die Menschen ihren Göttern oder einem alleinigen Gott geben. Erinnert dieser Name an einen Menschen, an einen zu erwartenden Übermenschen oder gar an einen Herrscher oder ein Herrschergeschlecht, denen man sich unterwerfen muss?
Rund 500 Jahre bevor Jesus predigte (im Zeitabschnitt nach dem Ende des babylonischen Exils und der Einweihung des zweiten Tempels), formulierten die Redakteure des Fünfbuchs (des Pentateuchs / der Tora) im 2. Buch Mose (Exodus / Schemot), Kapitel 3, Vers 14, ein Gottesbild, hinter dessen Qualität eigentlich kein Zurück mehr möglich war (Ehje ascher ehje / Ich bin der Ich-bin-da / Ich bin der, der ich sein werde). Dass dies trotzdem versucht wurde, vor allem im Christentum und im Islam, ist ja eben die Ursache theologischer und nicht zuletzt politischer Konflikte.
Auch die Christen haben sich nicht an diese Quintessenz des jüdischen Glaubens gehalten, obwohl einige der Jesus zugerechneten Äußerungen sich im Kontext der (geglaubten, nicht historisch gemeinten!) Begegnung Moses mit Gott auf dem Sinai bewegen. Beim „Vater unser-Gebet“ hingegen sieht das völlig anders aus (Matthäus 6, Verse 9 – 13). Allerdings hat sich die protestantische Theologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend die Frage gestellt, ob ein Christ an Jesus oder wie Jesus glauben soll.
Ähnliche Überlegungen spielten und spielen im Islam keine Rolle. Dies liegt nach meiner Ansicht daran, dass sich in diesem Glauben nach wie vor die Herrschaftsverhältnisse des siebten Jahrhunderts nach der Zeitenwende spiegeln und sämtliche Ansätze für eine Reform durch ein Bündnis aus Politik und Geistlichkeit systematisch unterdrückt werden.
Der Hamburger Pfarrer Paul Schulz wies in seinem Buch „Ist Gott eine mathematische Formel?“ (Hamburg 1979), das zunächst in mehreren Beiträgen in der ZEIT (Februar/März 1975) erschienen war, auf das Generalproblem hin: „Immer bedrohlicher stellt sich die Frage, ob wir den Begriff „Gott“ überhaupt noch gebrauchen dürfen…Die Feststellung eines Theologieprofessors „Es gibt einen Bodensee, es gibt einen Himalaja, Gott gibt es nicht“ stellt uns an die Wand…Vom theologischen Laien werden tiefere Zusammenhänge derartiger Aussagen kaum durchschaut…So tritt bei ihm an die Stelle einer sachlichen Auseinandersetzung oft ein Entsetzen, das in kompromissloses Bekennen umschlägt.“ Für Schulz war das Wissen über Gott bzw. dessen Entwicklung im menschlichen Denken Voraussetzung für den Glauben. Seine Kirche, die Evangelisch-lutherische Landeskirche in Nordelbien, hat diesen Denkprozess nicht ausgehalten und entzog Paul Schulz 1979 sämtliche Ordinationsrechte.
Der Herleitung des Humanitätsgedankens („Barmherziger Vater aller Völker“), den Friedrich Gehring aus jüdischen und christlichen Zeugnissen ableitet, ist möglicherweise bei Gotthold Ephraim Lessing, Ludwig Feuerbach, Paul Tillich, Herbert Braun oder Erich Fromm mit stringenterer Logik vorhanden.

Klaus Philipp Mertens, Frankfurt

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9 Kommentare zu “Der barmherzige Vater aller Völker

  1. Es ist schon erstaunlich, welche Faszination theologische Dispute über Gott statt über die Welt auszuüben scheinen.
    In der deutschen Romantik des beginnenden 19. Jahrhunderts, als Gegenbewegung zur Religionskritik der „Aufklärung“, war eine ähnliche Faszination zu erkennen. Die dann aber bald in immer mehr sich steigernden Nationalismus mündete, bis zu den bekannten Folgen des 1. Weltkriegs.
    Heutzutage scheinen Wiedererweckung von „Religion“ – auch und gerade in Form doktrinärer Ideologie – und Hingabe an rückwärtsgewandte nationalistische Sehnsüchte Hand in Hand zu gehen.

    „Aber Atheismus ist unlogisch, weil da etwas verneint wird, zu dem wir keinen Zugang haben. (…) Die modernen Agnostiker wagen also gar nicht zu behaupten, dass es Gott nicht gibt.“
    So meint Walter Deutsch im Einleitungstext Religiosität als einzig „logisches“ Verhalten „beweisen“ zu können, indem er Alternativen dazu diskreditiert. Und merkt offensichtlich nicht einmal, wie er damit in die Tradition indirekter „Gottesbeweise“ zurückfällt, nachdem alle direkten Vernunft-„Beweise“ von Thomas von Aquin bis Pascal kläglich gescheitert waren.
    Schlimmer noch: Er offenbart sich als Apologet dummdreister Schwadronierer vom „christlich-jüdischen Abendland“: „Juden und Christen sind davon überzeugt, dass da jemand ‚Herein!‘ gerufen hat.“
    Wohlweisend verschweigend, dass dieses „Herein“ für Millionen jüdischen Glaubens in den Gaskammern von Auschwitz endete, ebenso wie den alles andere als „christlichen“ Geist, der dem vorausging. Und welche Formen der glaubensdurchflutete „Mut“ von Islamisten annimmt, die wie die auferstandenen Wiedergänger historisch überwunden geglaubter Kreuzzugs-Mentalität erscheinen, bedarf hier keiner Erörterung mehr.

    Bei so viel Geschichtsklitterung versteht es sich schon von selbst, dass Agnostizisten und Atheisten als dümmliche Feiglinge erscheinen müssen. Würde doch sonst unweigerlich die Frage auftauchen, in welchem Zustand sich dieses Christentum befände, wäre es nicht durch grundlegende Infrage-Stellung durch die Aufklärung zu einer Rückbesinnung gezwungen worden, wodurch der Vorstellung von einem „barmherzigen Vater“ überhaupt erst wieder eine Chance gegeben wurde.

    Und was die „Feigheit“ von Religionskritikern betrifft: Inmitten dieses „aufgeklärten Jahrhunderts“ (wie Franzosen das 18.Jahrhundert zu bezeichnen pflegen) saß ein Denis Diderot noch in Festungshaft – nicht ganz zu Unrecht des Atheismus verdächtigt wegen seiner philosophischen Schrift „Lettre sur les Aveugles à l’Usage de ceux qui voient“ („Brief über die Blinden zum Gebrauch der Sehenden“).
    Eine Erfahrung, die ihn kluger Weise veranlasste, seine weiteren Schriften (die Encyclopédie ausgenommen) geheim zu halten und der „Nachwelt“ zu widmen.
    Es scheint nicht, dass diese „Nachwelt“ – die in großen Teilen weit hinter solche Erkenntnisse zurückfällt – sich des Erbes bewusst ist, das sie übernommen hat.

  2. Insofern das Beste nicht von Menschenhand gemacht ist, wie der Philosoph Robert Spaemann seit längerem reklamiert, frage ich mich als ehemaliger Wissenschaftler, der in der anwendungsorientierten Grundlagenforschung tätig war, schon auch, wessen Ursprungs die Gegenstände sind, die von mir untersucht wurden. Zwar kann man es sich einfach machen und sie positiv als natürliche Gegebenheiten auffassen. Die inzwischen gewonnene Erkenntnis aber, dass sämtliche Versuche Dritter von vornherein zum Scheitern verurteilt sind, anstelle der bestehenden Gesellschaft um den Preis ihrer Zerstörung etwas anderes zu setzen, dessen Gesetzgeber und Machthaber sie selbst sind, führt einem sehr eindrücklich vor Augen, wie unzulänglich solch eine Deutung der Wirklichkeit ist. Unabhängig von der Konfession ist somit zumindest ein Glaube, der nach Einsicht sucht (lat.: fides quaerens intellectum), dazu angehalten, sich schleunigst von Praktiken zu verabschieden, welche die Natur dem Selbst unterjochen. Vielmehr wird jeder Gläubige sich, um nicht als zutiefst einfältig zu gelten, in seinem Tun notwendig der Natur unterwerfen und seinen politisch dadurch gefallenen Entscheid allseitig verteidigen. Ein realitätstauglicher Gottesbegriff ist also bereits im Ansatz völlig anders angelegt, als gemeinhin angenommen.

  3. Korrektur: Es muss in meinem am 20. April um 8:55 Uhr hier im Thread geposteten Leserkommentar „… wessen Urspungs die Gegenstände sind …“ heißen. Leider stören die laut eines Berichts der Frankfurter Rundschau von Jürgen Habermas so bezeichneten und kritisierten „Umfälschungen“ der Wirklichkeit durch Dritte mittlerweile meine Wortfindung über das auch für mich erträgliche Maß hinaus. Insofern bitte ich alle Nutzer des Blogs um Verzeihung für den Schreibfehler.

  4. Aus für mich unerfindlichen Gründen ist der Halbsatz „… wessen Ursprungs die Gegenstände sind …“ schon wieder falsch geschrieben. Offenbar entwickelt sich das Problem zu einer Endlosschleife.

  5. Auch dank meines „quälbaren Leibs“ (B. Brecht) muss insbesondere das Internet im Zuge seiner rasanten Ausbreitung inzwischen ein Eldorado für alle Sadisten sein. Die ewig gültige Frage „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ angesichts dessen erübrigt sich jedoch, sobald die Programmierer gleichsam einen hippokratischen Eid leisten und sich in ihrem Handeln auch daran orientieren. Aller Voraussicht nach ist solch eine grundlegende Verhaltensänderung allerdings nicht zu erwarten. Es könnte daher vermessener nicht sein, wenn die Bundesforschungsministerin Karliczek anlässlich des Zukunftsgipfels 2018 vor wenigen Tagen den Term der „Sprunginnovation“ im Mund führt, den die öffentliche Hand fördern will und sogar erwägt, mithilfe der verfügbaren Technologien eine tödlich verlaufende Erkrankung wie Krebs in eine chronische zu verwandeln.

  6. Der Vorwurf von Klaus Philipp Mertens, der Islam sei reformunfähig, weil er immer noch die Herrschaftsverhältnisse des siebten Jahrhunderts n. Chr. spiegle, muss meines Erachtens gerechter Weise auch dem Christentum gemacht werden. Gerade was die in Rede stehende patriarchalische Religiosität angeht, ist der Weltkatholizismus mit seiner Ablehnung von Priesterinnen ähnlich reformresistent. Auch in den lutherischen Kirchen hat es bis 1972 gedauert, dass verheiratete Frauen Pfarrerinnen sein konnten, Jahrzehnte nach dem Frauenwahlrecht von 1918 und der Verfassung von 1949. Schon die Vorstellung von der Geschlechtergleichberechtigung in 1. Mose 1,26-28 entstand erst nach Jahrzehnte langer Auseinandersetzung mit der babylonischen Kultur nach Jahrhunderten des unangefochtenen Patriarchats. Nachdem diese Idee in der Geschichte der christlichen Kirchen kaum wirksam geworden ist, sollten wir als Christen der islamischen Theologie auch noch ein wenig Zeit einräumen.

    Diese Geduld sollten wir umso mehr aufbringen, als es tatsächlich auch im Islam Bestrebungen der Aufklärung und der Überwindung des Fundamentalismus gibt, etwa bei Said Nursi,(1876-1960). Umgekehrt ist im Christentum der Fundamentalismus noch keineswegs überwunden, nicht nur im US-Biblebelt. Die Lehrpläne für das Fach Ev. Religion in Baden-Württemberg fordern, „das biblische Gottesbild“ zu vermitteln. Mit meiner historisch-kritischen Differenzierung gegensätzlicher Gottesbilder in der Bibel und der Kirchengeschichte bin ich krasser Außenseiter in meiner Kirche und konnte mich 1973 nach vorübergehendem Berufsverbot nur im kirchlichen Dienst halten, weil meine Kirchenleitung fürchtete, ich würde durch eine Normenkontrollklage die Freiheit der Schriftauslegung von der Kanzel beim Bundesverfassungsgericht erstreiten. Das unterdrückende „Bündnis aus Politik und Geistlichkeit“ ist keine Spezialität des Islam. Wir sollten als aufgeklärte Christen solidarisch der aufgeklärten muslimischen Theologie eine Chance zugestehen.

  7. Erwiesenermaßen kann die Lebenswelt des einzelnen Menschen von außen nicht kolonisiert werden (Habermas, 1995: 522). So wenig wie deshalb historisch eine Christianisierung oder gar, wie jüngst, eine Digitalisierung ermöglicht ist, bleibt die Rede von einer in der nahen Zukunft anstehenden Islamisierung des Abendlandes ein reines Hirngespinst, weil sich ihre Protagonisten jeweils schlicht an der Realität ihren Hals brechen. So kopflos also nicht zuletzt PEGIDA ist, so komplett ohne Verstand sind die Versuche von Internetfirmen mit den ihnen eigenen Heilsversprechen dort Fuß zu fassen. Beidem gemeinsam ist demnach die völlige Sinnlosigkeit ihres Handelns. Dennoch finden sich zunehmend mehr unter der Bevölkerung, die bereit sind, sich für solch pure Fiktionen einspannen zu lassen. Die Folge solch eines falschen Bewusstseins ist ein circulus vitiosus, aus dem es immer weniger ein entrinnen gibt. Der Irrtum besteht darin, dass belanglose Verausgabungen menschlicher Arbeitskraft als nutzbringende, kontinuierliche, ganztägige und insofern mühvolle Tätigkeiten erscheinen, die sich in einer ebenso unaufhörlichen Kette von Erledigungen konkretisieren. Was des Teufels ist, entzieht sich infolge der verschwimmenden Grenzen im Verhältnis zu dem, was Gottes Werk ist, rasch einer näheren Bestimmung. Das gesamte Terrain wird auf diese Weise unübersichtlich bis zur nahezu vollständigen Orientierungslosigkeit. Notwendig wäre somit, die besagten Umtriebe in die vom Souverän ohnehin gebotenen Schranken zu weisen, wenn nicht die unbegründete Scheu vor Konsequenzen die Lage noch mehr verschlimmern soll.

  8. @ Friedrich Gehring:

    Ja, eine aufgeklärte und politisch unabhängige islamische Theologie hätte eine Chance verdient. Doch ich befürchte, dass sich die zarten Pflänzchen, die sich nach meiner Wahrnehmung überwiegend außerhalb der muslimischen Community finden lassen, nicht entwickeln können (ich denke beispielsweise an den Liberal-islamischen Bund). Und möglicherweise sind die Bedingungen in Deutschland dafür besonders schlecht, weil sich die mit Abstand größte Gruppe von Menschen islamischen Glaubens unter dem direkten Einfluss des türkischen Staatsapparats befindet (Ditib).

    Und ja, man muss auch den christlichen Kirchen zwangsläufig Reformunfähigkeit attestieren. Denn so ziemlich alle kritischen Anfragen an ihr Selbstverständnis wurden und werden seit Lessing („Wolfenbütteler Fragmente“) allenfalls in den überschaubaren Kreisen der akademischen Theologie wahrgenommen und dann so beantwortet, dass garantiert kein Mitglied ohne entsprechende Vorkenntnisse solche Stellungnahmen verstehen konnte und kann.
    Selbst vom ehrenwerten Dietrich Bonhoeffer werden in konservativen (protestantischen) Gruppen überwiegend nur seine „frommen“ Sprüche zitiert („Von guten Mächten wunderbar geborgen…“). Hingegen sind seine Gedanken über ein Leben in dem Bewusstsein, dass es Gott nicht geben könnte („etsi deus non daretur“), in den mir zugänglichen Predigttexten der letzten 40 Jahre eher ausnahmsweise vertreten.

    Ich erinnere mich noch gut an die ersten Monate nach der Wahl von Johannes Paul II. Da konnte man in den evangelikalen Kreisen Württembergs das Aufatmen geradezu hören: Endlich Schluss mit der historisch-kritischen Erforschung der Bibel!
    Doch letztere war und ist die Voraussetzung dafür, dass jedem Glauben unverzichtbar ein Wissen vorangehen muss. „Meiner“ Kirche (ich bin tatsächlich Mitglied der Evangelischen Kirche!) traue ich diesen offenen Umgang mit ihrer eigenen Theologie- und Glaubensgeschichte längst nicht mehr zu. Ich hege sogar die Befürchtung, dass der islamische Fundamentalismus zum Anlass genommen wird, das Menschenwerk Bibel samt seiner Einbettung in unterschiedliche historische Rahmenbedingungen erneut vor dem Glauben zu rechtfertigen, aber nicht vor dem Verstand.
    Die Frage nach Gott wird von der Mehrheit jener, die ihn für existent halten, immer noch entweder gutgläubig (ohne Wissen) oder wider besseres Wissen beantwortet.

  9. Mein Gott will, dass ich ein Kopftuch trage.

    ° Mein Gott mag es lieber barhäuptig, wenn wir vor ihn treten.
    ° Mein Gott legt wert auf Kopfbedeckung, bei Männern und Frauen.
    ° Meiner nur bei Frauen.
    ° Meiner nur bei Männern.
    ° Meiner mag Spitzbögen.
    ° Meiner mag Rundbögen.
    ° Meiner hat seinen Geschmack geändert.
    ° Meiner ändert ihn ständig.
    ° Meiner hat gar keinen.
    ° Meiner steht über dem Zeitgeist.
    ° Meiner steht über der Kultur.
    ° Meiner steht für die Natur.
    ° Meiner hat Priester.
    ° Meiner wurde unbedeutend.
    ° Und, ist er wieder im Kommen?
    ° Er heißt jetzt anders. Nein, man nennt ihn anders.
    ° Meiner ist nicht personal.
    ° Meiner ist nicht als Person erfassbar.
    ° Meiner wird jeden Tag wieder als Mensch in einem anderen Folterkeller ermordet.
    ° Meiner hat einen Vater.
    ° Meiner hat einen Sohn.
    ° Meiner war früher weiblich.
    ° Meiner hat kein Geschlecht.
    ° Ja, denn ein Geschlecht brauchen nur Menschen.
    ° Meiner bekennt sich zu seinem Vater, redet aber nicht wie er.
    ° Zu meinem Gott spreche ich ohne die Vermittlung durch einen Priester.
    ° Mein Gott liebt mich.
    ° Liebt er auch andere?
    ° Ich liebe Gott.
    ° Mein Gott ist immer auf meiner Seite.
    ° Auch im Krieg?
    ° Mein Gott interessiert sich nicht für mich.
    ° Du wolltest sagen, du interessierst dich nicht für ihn.
    ° Nein, er interessiert sich für nichts.
    ° Woher weißt du das?
    ° Weil er Alles weiß.
    ° Mein Gott ist eine Göttin.
    ° Mein Gott ist in jedem Wesen der Natur.
    ° Mein Gott hat sich als Mensch geopfert.
    ° Mein Gott war niemals ein Gott bis ihn Menschen dazu erklärten.
    ° Mein Gott ist ein Prinzip.
    ° Mein Gott ist kein Prinzip.
    ° Mein Gott ist ewig.
    ° Mein Gott ist zeitlos.
    ° Ich denke, also ist Gott.
    ° Ich denke, also bin ich – Gott.
    ° Gott ist nicht. Also ist er.

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