Die neue CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer hatte zum Werkstattgespräch gerufen, und alle sind gekommen. Wirklich alle? Na ja, es fehlten ein paar. Die noch amtierende Bundeskanzlerin etwa, Angela Merkel. Sie hatte wohl ihre Gründe, denn bei diesem Werkstattgespräch, das war wohl vorab schon erkennbar, ging es vor allem um eine „Aufarbeitung“ der Merkelschen Flüchtlingspolitik insbesondere des Jahres 2015. Die hat der CDU schwer in ihrer Glaubwürdigkeit zu schaffen gemacht, weil die Kanzlerin, Inhaberin dieser Parteimitgliedschaft, doch tatsächlich christlich gehandelt hat. Oder mit einem anderen Wort: humanitär. Das war Wassser unter anderem auf die Mühlen der AfD und brachte die CDU in Schwierigkeiten: Wie sollte sich diese Partei nach rechts abgrenzen, ohne eigene Wählerinnen und Wähler zu verschrecken? Die Lösung zeigte sich beim Werkstattgespräch: gar nicht. Statt stolz zu sein auf dieses ungewöhnliche Agieren ihrer Kanzlerin erging sich die Partei nun wieder in Rufen nach Verschärfung von diesem und jenem. Auch die Schließung der Grenzen soll nun wieder eine Option sein. Abschiebung soll erleichtert werden. Das sind wirklich bahnbrechend neue Ideen!

Mag ja sein, dass die Seele der Partei ein paar Pflaster brauchte. Wer wird es bedauern, wenn CDU/CSU perspektivisch wieder nach rechts rücken, zurück in die klassische Rolle einer hartleibigen Law-and-order-Partei? Das kann der AfD gefährlich werden. Gut so. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass ausgerechnet das Thema Flüchtlinge bei diesem ersten Werkstattgespräch auf der Agenda stand, als wäre es das wichtigste Thema für die Zukunft des Landes. Das ist es indes nicht. Es gibt viele andere Themen, die wesentlich wichtiger sind. Also ist es wohl tatsächlich wie früher: CDU/CSU schauen eher zurück, als wären dort die Konzepte zu finden, die ihr in ihrem krampfhaften, ängstlichen Bemühen um zukunftstaugliche Antworten über die Hürden helfen.

Dazu ein Gastbeitrag von Christina Hanani aus Halberstadt, der auch als Leserbrief im Print-Leserforum der FR zu lesen ist, wenn auch leider in einer etwa um die Hälfte gekürzten Form-

Merkels Beweggründe

Von Christina Hanani

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Nach dem wenig überraschenden Ausgang des kürzlich zu Ende gegangenen Werkstattgespräch der CDU, ein an sich fortschrittliches Format der politischen Entscheidungsfindung, stellt sich für mich erneut die Frage, warum niemand im Zusammenhang mit den migrationspolitischen Entscheidungen der Kanzlerin ihre Beweggründe genauer beleuchtet? War es nicht ein zutiefst humanes, den christlichen Werten verpflichtendes Handeln? Dem innerparteilichen Dissens und Forderungen nach Grenzschließung, Abschiebungen, und Leistungskürzungen für Asylbewerber hielt sie, mit einigen Ausnahmen, ihre Standhaftigkeit, Menschlichkeit und den Glauben an Europa und die europaweite Zusammenarbeit entgegen. Grenzschließung und gewaltvolle Zurückdrängung von Hilfesuchenden lehnt sie ab. Kann man im Rückblick diese Politik nicht eher als Realisierung der christlich-demokratischen Grundwerte anstelle eines Fehlverhaltens einschätzen? Schließlich heißt es im Grundsatzprogramm der CDU „Orientierungsmaßstab ist das christliche Menschenbild und davon ausgehend die drei Grundwerte „Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit““ . Wäre dann nicht der Verlust der Wähler, die zum rechten Rand gewechselt haben, als Gewinn zu verstehen?      Nein – stattdessen wirft man weiter Perlen vor die Säue und schickt sich, Merkel wegen ihrer weltweit respektierten und geachteten Entscheidung zu kritisieren, sich rechte Polemik anzueignen und sich mehr um die zu scheren, die sich außer um die eigenen Blutsverwandten um niemanden scheren.

Um die Entscheidung der Kanzlerin 2015 zu verstehen, hätte vielleicht folgender Rückblick geholfen: Am 27. August 2015 wurde auf der Autobahn 4 Richtung Wien von der Polizei ein Kleinlaster mit 71 zum Teil schwer verwesten Leichen von Erwachsenen und Kindern entdeckt. Es waren Flüchtlinge, erstickt im Kühlladeraum eines organisierten Hähnchentransporters mit doppelten Aluminiumwänden, die weder Tritte, Schreie noch Handysignale nach außen ließen. Auf fünf Personen pro Quadratmeter wurden sie zusammengepfercht. Nach zwei Stunden Fahrt waren die meisten von ihnen bereits tot. Es herrschten zur Zeit der Entdeckung des Lasters, der an einer Pannenhaltebucht abgestellt war, circa 30 Stunden nach Beginn der Fahrt in Ungarn, 80 Grad Celsius, was den Verwesungsprozess beschleunigte und damit die Identifizierung der Toten erschwerte. Eine Person konnte bis heute nicht identifiziert werden. Dann…. Wenige Tage später am türkischen Strand, der leblose Körper eines Dreijährigen, rotes T-Shirt, Gesicht nach unten – ertrunken im Mittelmeer, auf der Flucht nach Europa. Insgesamt starben an den EU-Außengrenzen laut Aussagen von Brot für die Welt in den letzten 15 Jahren über 25.000 Menschen. Damit zählt diese Grenze zu den tödlichsten der Welt. Im Verlauf dieser Ereignisse, in der Nacht vom Freitag, 04.09.15, trifft Angela Merkel, nachdem sich tausende Flüchtlinge zu Fuß auf den Weg vom Budapester Hauptbahnhof zur österreichischen Grenze gemacht haben, eine historische Entscheidung, die die Geschichte teilt, in ein Vorher und ein Nachher. Jene drei Tage Anfang September 2015, die man schon kurze Zeit später als „Merkels Grenzöffnung“ bezeichnen wird, als „zweiten Mauerfall“ gar, markieren eine Zäsur in ihrer Kanzlerschaft.“ Der unbezwingbare Wille des Flüchtlings nach Sicherheit, versetzt Europa in das Chaos und Merkel muss reagieren. Am 05.September stimmte sie der Grenzüberschreitung tausender Flüchtlinge zu, die zuvor in anderen EU-Staaten unter teils unmenschlichen Bedingungen ausharrten. Das war die einzig mögliche Entscheidung, die man von einer wahrhaft gottesfürchtigen Politikerin erwarten konnte. „Wir schaffen das!“

Der damalige Österreichische Bundeskanzler und bekennender Katholik Faymann zeigte sich 10 Tage später auf einer weiteren Pressekonferenz in Berlin dankbar gegenüber Merkels Entscheidung. Er sagte: „In diesen Stunden vor zehn Tagen war die Frage: Diskutieren wir jetzt lang und mächtig darüber, dass Ungarn diese Leute eigentlich ordentlich zu behandeln hätte? Diskutieren wir jetzt ausführlich über Griechenland? […] oder helfen wir jenen Menschen, die schon lange nichts zu essen hatten, die losmarschiert sind, die auf ihrem Weg Angst bekommen hatten, überhaupt Freiheit und Schutz zu finden, geben wir ihnen etwas zu essen und versorgen sie medizinisch?“ freundschaftlich fügte er hinzu: „Ich bin dir sehr dankbar, dass du bei dieser Entscheidung nicht zögerlich warst. Es gibt Politiker, die dann Arbeitskreise einberufen. Sie denken viel nach und überlegen sich, wie sie die Schuld auf andere schieben. Nein, es war eine Entscheidung, zu sagen „Wir lassen diese Leute nicht im Stich“, wissentlich, dass wir wieder einen Normalbetrieb aufnehmen müssen […]“ Merkel wehrte sich im Anschluss gegen die Vorwürfe der übertriebenen Hilfsbereitschaft vor allem von Seiten der konservativen und rechtspopulistischen Parteien: „Das kam aus dem Herzen der Menschen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt noch anfangen müssen, uns dafür zu entschuldigen, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“

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4 Kommentare zu “Merkels Beweggründe

  1. Dank an Frau Hanani, hier noch einmal in einer Rückschau die humanitären Hintergründe der „Willkommenskultur“ und die Entscheidung Frau Merkels in Erinnerung zu rufen. Für die sie sich nun ebenso wenig zu schämen braucht wie alle die Menschen, die ihr spontan zustimmten und sich selbst zu großem humanitärem Einsatz bereit zeigten.
    Dies macht deutlich, welcher Zynismus mit einer rechtspopulistischen Partei in diesem Land inzwischen eingekehrt ist.

    Was die Union betrifft, so tat sich diese mit der Abgrenzung von Patriotismus zu Chauvinismus schon immer schwer. Was sich ja auch gegenüber einem Menschenrechtsverächter namens Orban zeigt, für den – wie viele Maßnahmen inzwischen erkennen lassen – Menschenrechte eine Frage der Nationalität sind.

    Nun gibt es sicherlich auch Menschen in der Union, die das „C“ im Parteinamen noch ernst nehmen. Ob die aber noch in der Mehrheit sind, wird sich bald herausstellen müssen.
    Der Kern des Konflikts hinter dem vorgeblichen „Flüchtlingsproblem“ ist wohl eher der ungeklärte Konflikt zwischen nationalistischer Ausrichtung und christlichem Weltbild.
    Zumindest für große Teile der CSU, unter Führung eines Markus Söder, dient das „C“ – wie das Kreuz in bayrischen Verwaltungsstuben – lediglich als Monstranz, mit der sich prächtig die Hinterfötzigkeit verschleiern lässt, die sich unter diesem Symbol breit macht.
    Mit Auftreten einer rechtsnationalistischen Partei, die auch auf ein solches Symbol verzichtet, ist dieser interne Konflikt lediglich offen zutage getreten.

  2. @ deutscher Michel

    Ich zitiere mal aus dem von Ihnen verlinkten Artikel über den Notruf der Vereinten Nationen:
    „Antonio Guterres, der Hochkommissar für Flüchtlinge, sagte diese Woche, dass die Kürzungen der „Auslöser“ der Flüchtlingswelle in diesem Sommer gewesen seien.“

    Zugleich senden Sie einen Link zu einem merkwürdigen Video des BAMF, über dessen Einsatz keine klaren Informationen erfolgen, und behaupten dabei indirekt, die wirklichen Gründe für die Flüchtlingsbewegung gefunden zu haben:
    „Wenn da kein Zusammenhang mit den Ereignissen von 2015 besteht.“

    Seriöse Untersuchung von „Merkels Beweggründen“ sieht meines Erachtens anders aus.

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