Wir begrüßen heute und in den kommenden Tagen den Autor John Wyttmark im FR-Blogtalk und wollen mit ihm über seinen zweiteiligen Roman „Der Vernichter“ sprechen.
Darin geht es um Leben und Person von Christian Wirth, der sich in der Nazi-Zeit vom Polizisten zum Massenmörder entwickelt hat.
Also um eine historische Figur. Wirth (1885 bis 1944) war maßgeblich an der „Aktion T4“ beteiligt, war erster Kommandant des Vernichtungslagers Belzec und Inspekteur der Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“. Diese Aufzählung ist nicht vollständig. Auf Wikipedia gibt es einen umfangreichen, informativen Artikel zu Christian Wirth.
Wirth wurde 1944 bei einem Überfall von Partisanen in Slowenien getötet. Sein umgebetteter Leichnam liegt auf dem deutschen Soldatenfriedhof Costermano bei Verona, zusammen mit weiteren hochrangigen Nazis. Sein Name (und die der anderen) wurde im „Ehrenbuch“ des Friedhofs geführt, bis die Weigerung des deutschen Generalkonsuls Manfred Steinkühler, jenen Friedhof zum Volkstrauertag zu besuchen, „wenn nicht die Gebeine der drei genannten SS-Leute aus dem Friedhof entfernt würden“ (Wikipedia), zu einem Kompromiss führte: Wirth und die beiden anderen wurden nicht erneut umgebettet; man beschränkte sich darauf, ihre Namen aus dem „Ehrenbuch“ und ihre Dienstgrade von den betroffenen Grabsteinen zu tilgen. Dieser Eklat trug sich im Jahr 1988 zu.
Doch „Christian der Grausame“, wie seine Untergebenen ihn auch nannten, sorgt noch lange nach seinem Tod für Aufmerken. Jetzt hat John Wyttmark, Jahrgang 1962, sich der Geschichte Wirths angenommen und zeichnet sie minutiös in seinen zwei Bänden des Romans „Der Vernichter“ nach. Wyttmark bezeichnet sich selbst als „dokumentarischen Romanschriftsteller“. Er hat aufwendig für dieses Werk recherchiert. Eben darüber wollen wir mit ihm reden: übers Recherchieren, übers Schreiben, aber auch darüber, wie viel professionelle Distanz man braucht, um sich mit einem Menschen wie Wirth zu befassen, der als besonders brutal gefürchtet war. Dies wollen wir von Montag, dem 21. Juli 2025, bis einschließlich Mittwoch, 23. Juli, im FR-Blogtalk tun.
Für alle, die das Format Blogtalk nicht kennen, hier ein wenig Grundsätzliches:
- Ein Blogtalk ist ein schriftlich geführter, langsamer Talk via Blog.
- Alle Beteiligten nutzen die Kommentarfunktion am Fuß des Gesprächsverlaufs. Eine Registrierung ist nicht nötig.
- Alle können mitreden, die das wollen. Aber:
- Erstens: Der Blogtalk wird moderiert, d.h. es kann passieren, dass hereingegebene Fragen von Menschen, die mitreden wollen, auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden, etwa falls sie dann thematisch besser passen.
- Zweitens: Es gelten die Blog-Regeln. Vor allem Regel 4: Bleiben Sie sachlich, freundlich – und beim Thema. Das FR-Blog ist ein Ort des Austausches!
- Zur Illustration: Es hat im FR-Blog im Lauf der Jahre viele Blogtalks gegeben. Schauen Sie einfach nach. Vieles davon ist immer noch aktuell.
Transparenzhinweis: Wir sind mit John Wyttmark persönlich bekannt. Diesen Blogtalk führen wir zu zweit mit ihm. Einer von uns (Lutz Büge, Ihnen auch als Bronski bekannt, Bild links, Vita hier) hat im gleichen Verlag wie John Wyttmark zwei Romane veröffentlicht („Noah schläft“, erschienen 2023, und den Offenbach-Krimi „Die kalte Erika“, erschienen 2024), bei Sparkys Edition. Seit 1996 hat Lutz „Bronski“ Büge 14 Romane veröffentlicht. Zurzeit sind zwei weitere fertig und unveröffentlicht und zwei im Entstehen. Lutz ist seit 2016 Redakteur der Frankfurter Rundschau und seit 2007 (zunächst freiberuflich) für das Forum der FR zuständig (Zuschriften von Leserinnen und Lesern).
Der andere von uns (Journalist und Verleger Thomas Vögele, siehe rechts) ist ehemaliger Ressortleiter der Frankfurter Rundschau (Sportredaktion) mit literarischem Interesse. Er ist Inhaber des Ybersinn-Verlags.
Der Talk geht los am 21.7. gegen 10 Uhr.
Wir freuen uns auf Sie!
Guten Morgen und willkommen zum Blogtalk – und vielen Dank dafür, dass Sie zu dieser Unterhaltung bereit sind. Wollen wir loslegen?
Herr Wyttmark, wenn man Menschen fragt, was sie über Christian Wirth denken, ist die Reaktion meistens: Wer ist das? Auch mir/uns ging es so – bis zu Ihrem Buch „Der Vernichter“. Wie sind Sie auf Christian Wirth gestoßen?
Ich hatte zuerst nicht vor, über Christian Wirth zu schreiben. Es ging mir wie Vielen, ich kannte ihn nicht. An sich hatte ich vor, eine Fortsetzung meines Romans „Die Reise der Marta Gundlach“ zu schreiben. Marta hat zwei Schwestern, eine davon ist taubstumm. Sie sucht sie und findet ihre taubstumme Schwester 1985 mehr durch Zufall in der geschlossenen Psychiatrie in Altscherbitz bei Leipzig. Ich wollte den Leidensweg des Mädchens bzw. der späteren Frau in der DDR-Psychiatrie beschreiben. Die erste Frage, die ich hatte, war: „Wer hat dort im April 1945 gearbeitet?“ Und so wurde ich mit der Euthanasie konfrontiert. Bei ersten vorsichtigen Recherchen stolperte ich mehr über den Namen Christian Wirth.
Der Wikipedia-Artikel zu Wirth ist ellenlang und macht sprachlos. Der Mann ist also (heute?) kein Unbekannter mehr – und gewiss auch kein schlichter Mitläufer der Nazis. Über seine Rolle für das Nazi-Regime würde ich gern später noch reden. Bleiben wir erst noch bei der Außenwirkung: Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass Christian Wirth der Öffentlichkeit trotzdem weitgehend unbekannt geblieben ist?
Diese Frage hat mich bei allen Recherchen sehr beschäftigt. Ein Erklärungsversuch ist die strikte Einhaltung der Geheimhaltung durch ihn selbst in der Euthanasie und später in Polen. Es gibt zur Euthanasie und vor allem zum Vernichtungslager Sobibor eine Bilddokumentation des Mörders Niemann, aber ansonsten keinerlei Bildmaterial. Hinzu kommt und das erscheint mir wichtiger: Schon seit August 1941 war Christian Wirth nicht mehr bei der Euthanasie. Ende 1943 waren alle Vernichtungslager der Aktion Reinhardt (Treblinka II, Sobibor und Belzec) vollkommen abgebaut, die Leichen waren den Gräbern entrissen und im Rahmen der Aktion 1005 verbrannt worden, das Gelände wurde gerodet und Bäume neu angepflanzt, und anders als in Auschwitz gab es nur sehr wenige Überlebende der Aktion Reinhardt bzw. der Aktion Erntefest.
Aufklärung und Aufarbeitung braucht Bilder. Wenn es keine – oder nur wenige – Bilder gibt und alle betroffenen Menschen entweder ermordet worden sind oder Teil des Systems waren, haben Historikerinnen und Historiker es schwer. Die Faktenlage wäre wohl besser dokumentiert, wenn es beizeiten einen Prozess gegen Christian Wirth gegeben hätte?
*off topic* und *on topic* zugleich, weil es zum Thema gehört, aber weil wir uns auf die Figur Wirth konzentrieren wollen: Zur „Aktion T4“ gibt es im Netz hier viel zu lesen. Das betrifft auch alle Menschen in Hessen, wegen Hadamar. Weitere Informationen hier:
Aktion Reinhardt
Aktion Erntefest
Sonderaktion 1005
Dies für den Hintergrund. Bitte weiter im Gespräch.
Es wäre interessant gewesen, wenn es einen Prozess gegen Wirth gegeben hätte. Aber ich glaube er hätte sich „heldenhaft“ erschossen. Am 26. Mai 1944 wird er in Koczina bei Triest im Rahmen eines Hinterhaltes erschossen. Ob durch Partisanen oder Eigene ist nicht klar. Die Kanzlei des Führers der NSDAP (KdF) und der Höhere SS- und Polizeiführer SS-Gruppenführer Odilo Globocznik werden vielleicht sogar froh gewesen sein, dass es diesen exponierten Mitwisser und tätigen Massenmörder nicht mehr gab.
Ein Prozess unter deutscher Gerichtsbarkeit wäre wohl sowieso kaum denkbar gewesen. Die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen begann in Deutschland ja erst mit den Frankfurter Auschwitz-Prozessen so richtig, also Mitte der 1960er Jahre. Bis dahin haben sich deutsche Juristen darüber gestritten, nach welcher Rechtssprechung solche Prozesse wohl geführt werden sollten. Heute erleben wir noch letzte Prozesse z.B. gegen Hundertjährige, die als Sekretärin im KZ gearbeitet haben. Ist die literarische Aufarbeitung das letzte Mittel zur Aufklärung?
*off topic* Für den Rest des Tages übergebe ich an Thomas Vögele, siehe Anmoderation.
Wahrscheinlich ja. Es gab in den 60er Jahren und auch etwas davor Prozesse in der Sowjetunion, Polen und in Deutschland. Wobei die großen Prozesse alle in der Bundesrepublik stattfanden und nicht in der DDR. Mit der Einrichtung der Zentralen Stelle der Justizverwaltungen für NS-Verbrechen in Ludwigsburg gab erst einmal eine zentrale Ermittlungsinstanz. Es gab jedoch oft keine Zeugen mehr, es war die schiere Masse des Mordens, vor dem die Justizverwaltung teilweise kapitulieren musste, es gab aufgrund des Kalten Krieges nur in wenigen Fällen den Austausch von Informationen mit den Staatsanwaltschaften der DDR, Polens und der Sowjetunion, und nicht zuletzt beriefen sich viele Mörder auf den sogenannten Putativ-Notstand. Der Belzec–Prozess endete bei 500.000 Opfern mit einer Verurteilung von Oberhauser (Adjutant von Wirth) mit 4 Jahren Haft. Dies sind 1 Stunde Haft für 12 Opfer.
Adolf Eichmann ist in Israel der Prozess gemacht worden. Welche Beziehung bestand zwischen ihm und Christian Wirth?
Es gibt tatsächlich zwei herausragende Beziehungen bzw. Begegnungen zwischen Adolf Eichmann (RSHA, Referat IVb4) und Christian Wirth. In seinem Jerusalemer Prozess erklärt Eichmann, dass er vom Chef der Gestapo, SS-Gruppenführer Müller, den Auftrag erhält, nach Lublin zu Globocznik zu fahren und sich die Vorbereitungen für die Endlösung der Judenfrage anzusehen. Der Begriff „Endlösung der Judenfrage“ geht wahrscheinlich auf Müller zurück. Eichmann trifft im Herbst 1941 in Lublin ein, meldet sich bei SS-Brigadeführer Globocznik und fährt mit SS-Hauptsturmführer Hermann Höfle, Leiter des Stabes der Aktion Reinhardt beim SS- und Polizeiführer Lublin, mit Eichmann nach Belzec. Der Ort ist ihm vollkommen fremd, aber Eichmann erklärt, dass er in der Nähe des Bugs auf einen Hauptmann der Schutzpolizei traf (PS: Wirth kam von der Kripo und trug bis zur Beförderung zum SS-Sturmbannführer immer Polizeiuniform). Dieser hatte seine Ärmel hochgekrempelt und arbeitete, schwitzend, an einem Haus aus Holz (PS: Wirth hatte eine Lehre als Säger, Forstarbeiter abgeschlossen). Wirth erklärte ihm, dass dies wohl eine Gaskammer werden würde. Eichmann meinte, Wirth sah „versoffen“ aus und sprach ein Deutsch aus dem Südwesten Deutschlands (PS: Eichmann selbst kam aus Österreich). Wirth erklärte ihm das System. Nennt Eichmann in seiner Aussage in Jerusalem noch keinen Namen, holt er dies in seinen Memoiren „Götzen“ nach und bezeichnet ihn als Christian Wirth. Das zweite Mal, Christian Wirth ist jetzt Inspekteur aller Vernichtungslager der Aktion Reinhardt, ist Wirth auch zuständig für die Transportzüge in die Vernichtungslager. Er muss sich jetzt auch mit dem Referat Eichmann im RSJHA zu Transporten abstimmen. Christian Wirth kennt die Vernichtungskapazität bspw. von Sobibor wo über 36.000 Holländer in den Seelentöterkammern sterben werden.
Was muss man sich unter einer „Seelentöterkammer“ vorstellen?
Die „Seelentöterkammer“ ist ein von mir geschaffener schriftstellerische Begriff, der die Gaskammer umschreibt. Ein Ort an dem Menschen grausam erstickten und so ihre Seelen getötet wurden. Die Idee der Gaskammer als Duschraum geht auf Reichsleiter Bouhler (KdF) zurück und wurde erstmals zielstrebig in der Euthanasie umgesetzt (siehe Testvergasung 08. Januar 1940 in Brandenburg). Gaskammern an sich gab es in den Mordzentren der Euthanasie wie Brandenburg, Bernburg, Grafeneck, Hadamar, Pirna-Sonnenstein, Hartheim bei Linz. Hier erfolgte das Morden mit CO-Gas aus Gasflaschen. Das Morden im ersten Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno nad nerem) erfolgte mit Autoabgasen durch Gas-Autos. Das Morden in Belzec, Treblinka II, und Sobibor erfolgte mit stationären Automotoren deren Abgase in die Gaskammern geleitet wurden. In Auschwitz und Majdanek mordete man mit Zyklon B.
Was Sie beschreiben, ist exemplarisch für den „Vernichter“. Die Lektüre ist oft schwer erträglich. Wie ging es Ihnen bei den Recherchen all dieser Grausamkeiten?
Recherchiert habe ich in großen Staats- und Landesarchiven, dem Bundesarchiv inklusive des Archives des MfS sowie polnischen und österreichischen Staatsarchiven. Hinzu kommt der Besuch aller Handlungsstätten von Christian Wirth, so aller Mordzentren der Euthanasie: Kulmhof, Lublin-Majdanek, Alter Flugplatz Lublin, Belzec, Sobibor und Treblinka II, Trieste.
Ein Richter im Prozess um Bergen-Belsen, in dem auch Teile der Mannschaft von Auschwitz abgeurteilt wurde, meinte später, das Schlimmste sei die Gewöhnung an gelebte Grausamkeit. Daher spreche ich auch in Anlehnung an Hannah Arendt von der Banalität des Grausamen.
Ich merkte bei mir, dass ich immer ruhiger wurde, bar der dargestellten Gewalt. Ich saß oft über Akten und schüttelte den Kopf. Da hieß es, Zeugenaussagen von Opfern auszuhalten. Offizielle von Himmler unterschriebene Dokumente musste ich lesen, aushalten und bewerten. Interessant war es Aussagen von Mördern zu lesen. Es war klar, dass diese gelogen haben, um nicht hingerichtet zu werden oder lange ins Gefängnis zu müssen. Diese sagten über Zusammenhänge, Abläufe und Hintergründe nur das aus, was für diese vermeintlich nicht schlimm war. Doch diese Aussagen waren an sich schon katastrophal. Kein Mitleid, Entmenschlichung der Opfer. Für mich bedeutete dies, diese Aussagen besonders zu bewerten. An sich müsste man noch 50 Prozent an Grausamkeit aufschlagen, um eine reale Situation in einem Vernichtungslager nachvollziehen zu können.
Ich beschreibe zwar das Leben von Christian Wirth, einem tätigen Massenmörder, aber auch das Leben der Opfer von der Ausgrenzung bis zum Mord in der Seelentöterkammer. Für mich stand die Frage „Wie beschreibt man den Tod von 75.000 Opfern der Vergasungseuthanasie oder zwei Millionen in der Aktion Reinhardt.“ Ich schaffte es nur in dem ich die kleine Familie beschreibe. Opa, Oma, Mutter, Vater, kleine Kinder und Babys aus Düsseldorf, Halle /Saale, Berlin, Lemberg, Lublin, Krakau, Warschau, Drancy, Westerborg und Trieste.
@ all
Wir machen für heute Feierabend, okay? Es gibt noch viele Fragen, und damit werden wir morgen weitermachen, ab ca. 10 Uhr. Trotzdem ist es möglich, auch heute Abend noch weitere Fragen/Kommentare hier zu posten, wenn jemand das möchte.
Guten Morgen! Zur Info: Ich mache heute wieder den Auftakt und klinke mich dann, wie gestern schon, wieder aus der Unterhaltung aus, bleibe aber im Hintergrund dabei. Vielleicht stelle ich auch mal die eine oder andere Frage zwischendrin. Ansonsten übernimmt Thomas Vögele das Gespräch.
Wir waren bei der Recherche zu Ihrem Roman „Der Vernichter“ und haben die Frage berührt, wie man Distanz bewahrt, wenn man all diese Dokumente sichtet, die von unfassbarer Gewalt gegen Menschen berichten. Vielleicht wollen Sie dazu noch etwas sagen?
Die Recherchen waren sehr umfangreich. Man musste fast selbst wie ein Kriminalist vorgehen. Hatte man vermeintlich eine Tatsache recherchiert und bewertet, gab es daraus neue Fragen. Hinzu kam, und das ist das besondere an einem dokumentarischen Roman, dass man eben nicht nur Daten aneinanderreiht, sondern auch das „normale Leben“ dazwischen beschreiben muss. So fand ich einen Beschluss des Stadtparlamentes von Heilbronn zur Entlassung von Christian Wirth aus dem Polizeidienst wegen Unfähigkeit. Jedoch einen Tag später beginnt er seinen Dienst bei der Polizei in Stuttgart. Hier war die Frage warum. Vielleicht bessere Entwicklungschancen als in Heilbronn. Er musste sich nur etwas einfallen lassen, wie er von Heilbronn wegkam.
Christian Wirth war bis 1940 kein Mörder. Er war ein harter, unerbittlicher und doch redlicher Polizist. Ein Mörder wird er bei der Euthanasie und dann später in Polen.
Schafft man Distanz? Nie ganz richtig. Allein der Bezug den Opfern lässt mich heute noch vor Entsetzen den Kopf schütteln, da ich mir genau vorstellen musste, wie geht es dem Opfer. Beispielsweise Artem der aus dem Getto Lemberg nach Belzec kommt und zu Beginn selektiert wird für den Transport der Leichen aus den Gaskammern zum Massengrab. Wie geht es ihm, als sich das Tor der Seelentöterkammer öffnet und er seine Frau und seine Tochter erstickt findet. Auf dem Weg zum Massengrab verabschiedet er sich von seiner Tochter. Alles nur schrecklich.
„Vernichter“ ist ein drastischer Titel. War er Ihre Idee? „Die Reise der Marta Gundlach“ wirkt dagegen harmlos, Ihr „Lokführer des Todes“ hingegen scheint in dieselbe Richtung zu führen. Protagonist in „Lokführer des Todes“ ist ein im Grunde durchschnittlicher Mann, der einen für die Nazis wichtigen Job macht: Er erledigt die Transporte von Menschen nach Auschwitz, in den Tod. Auch er ist gewalttätig, ohne persönlich Menschen umzubringen, aber er hilft dabei. Gibt es Abstufungen des Unmenschlichen zwischen Lokführer Hilse und Christian dem Grausamen, wie Christian Wirth auch genannt wurde?
An sich hieß der Roman zuerst nur „Costermano – das Leben des Christian Wirth“, doch je mehr ich in die Tiefe ging desto mehr musste ich den Titel „Der Vernichter“ voranstellen. Christian Wirth ist an wichtigen Stellen der Euthanasie, des Holocaust und des Porajmos verantwortlich für die Ermordung von 2 Millionen Menschen. Er ist ein tätiger Massenmörder. Er ist kein Schreibtischtäter. Hitler, Göring, Himmler, Bouhler, ja sogar Eichmann haben im II. Weltkrieg nie jemanden persönlich ermordet. Nicht so Christian Wirth. Er hatte kein Problem mit seiner Peitsche alte Frauen und Kinder durch den Schlauch in die Gaskammern zu treiben. Immer wieder der Ruf „alles vollpacken, alles vollpacken“.
Beim Lokführer des Todes geht es vorrangig um Klaus Schmidt, einen jungen Mann der Lokschlosser werden will und wird und der später Züge nach Auschwitz bringen wird. Sein erster Lokführer (er fährt zuerst nur mit, zum Anlernen) ist Lokführer Hilse. Diesen interessiert, das Elend der Menschen in den Wagons nicht. Nicht bei 35 Grad plus oder minus Außentemperatur. Hilse ist abgeklärt. Es gibt nur ein Interview mit einem Lokführer, der in der Dokumentation „Shoa“ von Lanzmann auftritt. Es ist ein Lokführer der Transporte nach Treblinka II bringt und sich ständig stark betrank, um das Schreien nicht hören zu müssen.
Es ist eine gute Frage, ob es Abstufungen der Grausamkeit gibt. Natürlich ist die politische Riege des III. Reiches grausam, natürlich sind die Teilnehmer der Wannsee-Konferenz grausam, natürlich ist Eichmann mit seinem Referat IVb4 grausam, natürlich sind Himmler und Heydrich und das RSHA grausam. Doch es braucht zum Schluss einen tätigen Mörder. Einer der es tatsächlich tut, auch strafrechtlich. Christian Wirth wurde der „Grausame“ oder auch „Stuka“ genannt. Als Inspekteur alle Vernichtungslager der Aktion Reinhardt war er maßgeblich für die Organisation, die Prozesse und Abläufe in den Lagern zuständig und hatte niemals ein Problem mit Gewalt. Mit seiner Peitsche schlug er nicht nur auf jüdische Opfer ein oder schoss auf diese, sondern schlug auch die Trawniki (Askaris, Hiwis, meist Ukrainer) und sogar seine T4-Reinhardt-Männer (Männer, die von der T4 zur Aktion Reinhardt kamen) ein, wenn etwas zu lange dauerte oder nicht funktionierte. Gut waren bei ihm nur diejenigen angesehen, die das Morden aktiv, schöpferisch und ohne Widerspruch mitmachten.
Sie haben über sich selbst gesagt, Sie seien ein „dokumentarischer Romanschriftsteller“. Da steht der Umgang mit den Fakten zur Debatte. Sie sind kein wissenschaftlich arbeitender Historiker, sondern ein Künstler und – Detektiv? Hätten Sie was dagegen, so etikettiert zu werden?
Haha, nein, auch wenn es etwas meine Arbeit und den damit zusammenhängenden Aufwand und die Akribie etwas diskreditiert. Ich war vor ca. einem Jahr mit meinem Freund Michael Tregenza (Historiker, Engländer, wohnt schon Jahre in Lublin) bei Ewa Koper, der Leiterin der Gedenkstätte Belzec. Michael Tregenza meinte, auch wenn ich, John Wyttmark, kein Historiker bin, bin ich doch ein großer Geschichtsforscher, der vieles Unbekannte gefunden hat. Mir gefällt Geschichtsforscher besser, aber der Rest hat auch seine Berechtigung.
Welche künstlerischen Freiheiten nehmen Sie sich heraus?
Ich nehme mir die künstlerische Freiheit dort, wo ich versuche das normale Leben zu beschreiben. Wirth ist kein religiöses Monster, er ist ein Mensch. Er ist verheiratet, hatte in Stuttgart einen Schäferhund, vier Kinder, zwei sterben schon früh und baut in der Kauzenhecke 22 ein Haus.
Fiktion ist die Situation Polizei Heilbronn/ Polizei Stuttgart. Ich musste einen Grund für den Wechsel finden die glaubhaft erscheint. Ich lasse ein zeitlich passendes Gespräch mit seinem Schwiegervater stattfinden, wo es um die Heirat mit Maria geht. Natürlich fragt dieser, ob Wirth genug Geld hat für eine Familie. Der Schwiegervater ist Bauunternehmer und hat gerade einen Auftrag bei der Polizei in Stuttgart und kennt da jemanden. Wie es im normalen Leben auch ist. Christian Wirth ist kein Einzelgänger er hat Beziehungen, da ist seine Frau Maria, sind seine Söhne Kurt und Eugen. Da ist sein „Freund“ Gottlieb Hering, den er vom Verband der Kriminalpolizisten kennt. Mit diesem ermittelt er im Fall des Kindermörders Strößenreuther, diesen holt er zur Euthanasie und er wird sein Nachfolger im Vernichtungslager Belzec.
Aber da sind noch andere Menschen wie Viktor Brack, Werner Blankenburg, Dietrich Allers, Friedrich Tillmann von der KdF oder T4 Geschäftsführung, da sind die Mordärzte der T4 die man nach dem Dienst zum geselligen Beisammensein trifft. Er geht fremd. Da sind die Desinfektoren und Brenner in allen Mordzentren der Euthanasie, für diese organisiert er Ausflüge nach Österreich oder Sportwettkämpfe, wenn diese nicht Gehirne im Krematorium extrahieren oder Zähne aus den Kiefern herausbrechen. Da ist der SS-Brigadeführer Odilo Globocznik und SS-Hauptsturmführer Höfle beide vom Stab des SSPF Lublin, da ist Thomalla von der SS-Zentralbauleitung Zamosc, wahrscheinlich auch der spätere im Film Schindlers Liste bekannt gewordene Amon Göth (dieser ist auch Im Stab des SSPF Lublin und zuständig für Beschaffung) und da sind all die Mörder in den Vernichtungslagern.
Bei einem derart umfangreichen und weitreichenden Thema muss man hinsichtlich des Stoffes, den man verarbeitet, eine Auswahl treffen. Wie haben Sie entschieden, welche Ereignisse sie in Ihren Roman einbringen und welche es nicht schaffen?
Tatsächlich war dies die schwierigste Entscheidung. Ich habe über 1600 Seiten recherchiertes Material. Die Entscheidung fiel dann zugunsten von Ereignissen, die wichtig waren für den Verlauf bzw. Situationen die, exemplarisch bzw. herausragend waren, um dieses System zu verstehen. Bspw. Die Frage, warum erhielt Hermann Göring von Hitler die Aufgabe zur „Endlösung der Judenfrage“ und nicht Heinrich Himmler, warum fand die Wannsee-Konferenz erst im Januar 1942 statt (man mordete schon in Kulmhof und der Aufbau von Belzec war fast abgeschlossen) oder woher kam der Name Aktion Reinhardt. Es ist nicht schön, dies einzugestehen. Aber als ich so weit war, den Prozess der Vernichtung so vieler unschuldiger Menschen tatsächlich wie Christian Wirth zu sehen, erkannte ich, dass es für ihn nur eine Aufgabe war. Die Opfer alle entmenschlicht. Er kannte dies schon von der Euthanasie.
Als das Morden freigegeben war, ging es nur noch darum, mit welcher Methode man am effizientesten so viel Menschen wie möglich umbringen konnte. Und an diesem perversen Wettbewerb nach der Suche der besten Methode nahmen viele teil und unterbreiteten Vorschläge.
Wenn menschliche Moral in einer Gesellschaft nicht mehr existiert und nicht mehr Handlungsmaxime eines Staates ist, wird jedes Verbrechen möglich und verkümmert zum technischen Problem.
Die Passagen über Christian Wirth sind faktenbasiert. Oft wechseln Sie bei der Erzählung aber in die Opfer-Perspektive, wobei über die Opfer faktisch oft nur ihre schiere Zahl bekannt ist. Damit sind wir wieder beim Spannungsverhältnis zwischen künstlerischer Freiheit und dokumentarischem Anspruch.
Ich gebe Ihnen recht. Wie schon dargestellt, gab es zum Themenkomplex Auschwitz noch verhältnismäßig viele Zeugen. Dies war in den Prozessen zur Aktion Reinhardt nicht so. Es ist richtig, dass es viele namenlose verbrannte Opfer in den Massengräbern dieser Vernichtungslager gibt. Aber es gab, wenn auch wenige, doch überlebende Zeugen. Diese waren meist bei Aufständen geflüchtete Menschen. Die größten Fluchten gab es in Treblinka II und Sobibor.
In der Bewertung der überlebenden Zeugen als Opfer, den Zeugenaussagen der Mörder aber auch den Nebenaussagen von anderen Zeugen beispielsweise der Bahnhofsmannschaft von Malkinia (Treblinka) oder dem Bahnhofsvorsteher Rudolph Göckel aus Erfurt (Belzec) oder dem SS-Gruppenführer Sporrenberg – zur Aktion Erntefest gibt es viele Aussagen, die ein Bild der grausamsten Situationen entstehen lassen. Gerade das Beschreiben der Situation aus Opfersicht ist entscheidend um sich das Grauen vorstellen zu können. Ähnlich wie Eichmann, schwadronieren die Täter später in den Prozessen und weisen jede Schuld von sich. Mir war wichtig zu einem Sachverhalt bei Möglichkeit unterschiedliche Sichten zu lesen. Die Sicht des Opfers, die Sicht des Täters und die Sicht Dritter, erst dann schien mir die Situation nah an der Wahrheit.
Für heute habe ich noch eine Frage, morgen dann zum Abschluss noch ein paar zu den Folgen.
Das Grauen ist schwer vorstellbar, Da ist Einfühlung vielleicht sogar schädlich für einen selbst, oder? Hatten Sie keine Albträume?
Ja, ich hatte gerade zu Beginn Albträume. Das Gelesene verfolgte mich. Immer wieder Kopfschütteln über zügellose vom Staat geforderte und ausdrücklich geförderte Grausamkeit. Prof. Harald Welzer hat sich mit dem Phänomen Gewalt bspw. Auch bei Einsatzgruppen oder in Polizeibatallionen beschäftigt. Kein Unrechtsbewusstsein, absolute Herrschaft über Leben und Tod. Vollkommene Rechtlosigkeit der Opfer.
Im Schlosslager Kulmhof werden Menschen gezwungen sich nackt auszuziehen, danach werden sie mit Peitschen und Bajonetten durch den Keller auf Gaswagen getrieben. Im Stand leitet man Abgase in das Innere des Aufbaus und erstickt die Opfer. Danach fährt der LKW ins Waldlager. Hier werden die Leichen in Massengräbern verscharrt. In den Zeugenaussagen im Kulmhof-Prozess in Düsseldorf findet sich die Aussage, dass Polen aus dem Dorf sich dort Geld verdienten und den Opfern halfen sich auszuziehen. Eines Tages wandten sich die Polen an den Kommandanten Bothmann. Man meinte, dass hier so viele junge Mädchen herkämen, ob man sich nicht, welche für das Wochenende aussuchen könne. Dies wurde bestätigt. Diese jungen Mädchen wurden auf grausamste Art und Weise vergewaltigt und am Montag mit auf den ersten Gaswagen getrieben
Ich habe heute leider nicht mitreden können, aber wir haben trotzdem viel Aufschlussreiches gelesen und erfahren, glaube ich. Morgen wollen wir noch ein wenig über die Folgen Ihrer Erkenntnisse reden. In der Print-FR wird auch wieder ein Hinweis auf unseren Blogtalk erscheinen. Für heute, würde ich sagen, machen wir Schluss. Es gibt einiges zu verdauen.
Vielen Dank bis hierher.
Guten Morgen. Sie haben oben geschrieben, die Vernichtung so vieler Menschen sei für Christian Wirth „nur eine Aufgabe“ gewesen. Die Opfer entmenschlicht, es ging um die Effizienz des Tötens. Für Wirth war es ein Wettbewerb, in dem er mit anderen konkurriert hat: um die Suche nach der besten Methode. Wirth war darin anscheinend besonders gut – oder würden Sie sagen, dass jeder andere Trittbrettfahrer ebenso „effizient“ hätte sein können? Wobei sich der Begriff „Trittbrettfahrer“ hier eigentlich verbietet, oder?
SS-Scharführer Suchomel wird sinngemäß sagen: „Hätte jemand den Wirth erschlagen, dann wäre der Mord an den Juden nicht so schlimm geworden.“ Die KdF (Kanzlei des Führers der NDSAP) hätte keinen andere gefunden der das so gemacht hätte.
Christian Wirth wurde im Deutschen Kaiserreich geboren und hatte die „preußischen Tugenden“ (insgesamt 15) verinnerlicht. Er wollte Karriere machen, was erst einmal nichts Schlimmes ist, und war absolut obrigkeitshörig. Im I. Weltkrieg zeichnete er sich durch Heldenmut aus. Ehemalige Mitarbeiter bezeichnen ihn auch bei der Polizei als militärisch gedrillt. Es ging ihm nicht um die moralische Frage, ob Befehle richtig, unrichtig oder strafbar wären, denn das gab es im Militärstrafgesetzbuch des deutschen Reiches auch. Als überzeugter Nationalsozialist galt für ihn der Führerbefehl zur Ermordung von behinderten Menschen und dann jüdischen Menschen, den er ohne jeden Skrupel und mit absoluter Grausamkeit erfüllte. Er wurde dafür belohnt, wurde Sturmbannführer (Major), und bekam das 10fache des Lohnes eines Arbeiters. Er hatte das Ziel, sich bei Vorgesetzten gut darzustellen, und er war auch im Morden ein „Macher“. Schon in Grafeneck beschreibt ihn Oberhauser als jemand, der sich unentbehrlich machte. Das sorgte für Aufsehen in der KdF, und so wurde er Inspekteur aller Mordzentren der Euthanasie. Dies geschah auch in der Aktion Reinhardt, wo er zum 01. August 1942 zum Inspekteur aller Vernichtungslager avancierte. Er vereinheitlichte die Mordabläufe in den Lagern drastisch und erhöhte die Mordkapazität. Dies wird besonders deutlich als Anfang August 1942 das Vernichtungslager Treblinka II kippt. Dr. Eberl wollte derjenige sein, der am meisten mordete, und so verlangte er zu Beginn (23.07.1942) immer weiter nach Transporten. Irgendwann meinte er, dass er die Transporte nicht mehr schaffen würde. Wirth, jetzt Inspekteur und auch zuständig für Transporte im Stab der Aktion Reinhardt, hörte jedoch nicht auf. Jetzt wurden auch Transporte von Sobibor umgeleitet, da die Bahnstrecke brach lag. Es hat den Anschein, dass Wirth sich bei Eberl rächen wollte. Kurtz vor dem 19. August 1942 fährt Wirth mit Globocznik nach Treblinka II, um sich über den Zustand zu informieren. Hier ist das absolute Chaos. Überall stehen Züge mit nicht entladenen Opfern auf der Strecke, daneben Leichen von Flüchtigen. Auf den Dächern Trawniki, die in die ankommenden Juden schießen, überall liegt Geld herum, verweste Leichen. Die Trawniki feiern mit Prostituierten. Eberl steht an den Massengräbern und schreit wie im Wahn herum. Eberl wird abgelöst. Wirth reorganisiert das gesamte Lager. Dann kommen Anfang September neue Transporte aus Warschau.
Was den eigentlichen Wettbewerb des Mordens angeht, meint der SS-Richter Konrad Morgen, dass Wirth zum Beispiel über Rudolf Höss von Auschwitz meinte, dieser sei ein unbelehrbarer Schüler, was den Mord mit Zyklon B betraf. Beide werden sich nie treffen.
Trotzdem hat eine Entnazifizierungskommission Wirth als „minderbelastet“ eingestuft. Da betreten wir das schwierige Terrain der Aufarbeitung von Nazi-Verbrechen. Es gab nach dem Krieg in den vier Besatzungszonen unterschiedliche Weisen, wie das Projekt „Entnazifizierung“ angefasst wurde. In der amerikanischen Besatzungszone wurden fünf Kategorien für Verantwortlichkeit benutzt: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete. In welche Kategorie gehört Christian Wirth Ihrer Einschätzung nach?
Ich beginne den Band I mit der Causa Steinkühler. Ein mutiger Generalkonsul, der von dem so vielgelobten Außenminister Genscher, wahrscheinlich auf Druck alter Machenschaften, fristlos entlassen wurde. 1988 will man wieder Kränze in Costermano niederlegen und Reden halten. Zuständig ist hier die Kriegsgräberfürsorge e.V., die dafür aus dem Bundeshaushalt Geld bekommt.
Steinkühler findet heraus, dass drei tätige Massenmörder hier liegen. Wirth, Reichleitner (Kommandant Sobibor) und Schwarz (Stellvertreter in Belzec).
Er lehnt es ab vor diesen den Kotau und die Ehrenbezeigung Deutschlands zu machen. Es gibt einen Aufschrei besonders in Italien. Wirth ist mit dem Einsatz R in der Risiera san Sabba auch für den Tod von 5.000 jüdischen Italienern verantwortlich. Man nimmt den Sturmbannführer vom Grabstein und löscht ihn aus den Ahnentafeln. Am Eingang von Costermano gibt es mehr schlecht als recht aufgestellt Tafeln. Der Antrag von Steinkühler diese drei nach Deutschland zu verlegen, wird abgelehnt.
Bis heute liegt das Grauen, einem Denkmal gleich, in Costermano.
Meine Anfragen an das Auswärtige Amt werden abgetan. Die Bundesrepublik Deutschland bezahlt für diesen tätigen Massenmörder verantwortlich für 2 Millionen Opfer die Grabstelle aus Steuermitteln. Ich finde dies absolut unmoralisch, was hier die Bundesrepublik Deutschland tut. Man will sich einfach mit dem Thema nicht beschäftigen, was sind schon 2 Millionen vergaste behinderte oder jüdische Menschen, Familien Väter, Mütter und Kinder.
Es gab tatsächlich 1948 ein Entnazifizierungsverfahren der Familie Wirth. Es gab einen Anfangsverdacht, man wusste irgendetwas, aber nicht genug, dass er wohl mit der Euthanasie zutun hätte. Polen spielte keine Rolle. Hätte man sich allein die Zeugenaussage von Viktor Brack im Ärzteprozess durchgelesen hätte man alles wissen können. Man wusste es zu dieser Zeit nicht. Aber dieser Verdacht führte dazu ihn als Hauptbelasteten einzustufen, verbunden mit dem Verlust von Vermögen (ca. 75.000 RM und 2 Häuser). Dagegen gingen die Kinder Eugen und Kurt und seine Frau Maria in Widerspruch. Ein gewiefter Rechtanwalt schaffte es Zeugen aus der Polizei heranzuholen, die als Leumundszeugen aussagten. Im Endeffekt wurde der Beschluss aufgehoben und der tätige Massenmörder Christian Wirth, verantwortlich für 2 Millionen Opfer ist als Minderbelasteter eingestuft. So sehr ich die Situation fehlenden Wissens von damals berücksichtige, kann dies heute keiner mehr sagen.
Ich habe mich mehrmals an den Ministerpräsidenten Kretschmann, Baden- Württemberg, gewandt um diesen Beschluss minderbelastet zu sein aufzuheben und als späte wenigstens politische Erklärung öffentlich zu machen, dass Christian Wirth einer der Hautbelasteten ist. Man hat es abgelehnt.
Mit welcher Begründung?
Für das Außenministerium galt, es gibt Tafeln die alles erklären. Für den Ministerpräsidenten galt, die Behörde von damals sei aufgelöst man könne da nichts machen, obwohl es schon so etwas wie Rechtsnachfolgen gibt.
Beides fadenscheinig, beides hätte man tun können.
Ich habe mal nachgesehen: Ich hätte noch vier Fragen. Das schaffen wir heute bestimmt noch. Hier kommt die erste:
In Ihren Schreiben an das Auswärtige Amt haben Sie sich für die Auflösung der Grabstätte in Costermano ausgesprochen. Vorhin haben Sie geschrieben, das Grauen liege „einem Denkmal gleich“ in Costermano. Kann so ein Grab nicht „Denkmal“ sein? Welche Formen des Gedenkens schlagen Sie vor – abgesehen von der literarischen Aufarbeitung, wie in Ihrem Fall mit dem Roman „Der Vernichter“?
Das stimmt, das Grab kann Denkmal sein, aber oft nicht in dem Sinne wie ich es meine, als Gedenken an die Opfer. Es gab schon Delegationen aus Deutschland die dorthin gepilgert sind, aber vom rechten Rand.
Fast in jeder Stadt in Deutschland, in Frankreich, der Niederlande, Polen und anderen Ländern finde ich Stolpersteine. Dies ist die richtige Erinnerung an die Opfer. Es waren keine anonymen Nachbarn, die verschwanden. Es ist sehr schwierig für mich vor der Adresse Körnerstraße 9 der in der Breite Str. 1 in meiner Heimatstadt zu stehen und zu lesen Hedwig Zeising, ermordet in Sobibor, Wolfgang Jacobsohn ermordet in Lodz (Litzmannstadt, Kulmhof). Und zu wissen was dort wirklich passierte.
Sie haben sich auch an den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge gewendet. War man dort offen für Ihr Anliegen? Immerhin ist Wirths Grab kein Soldatengrab, obwohl er einen quasi-militärischen Rang bekleidet hat.
Nein, es hat sie nicht interessiert. Natürlich hat mich zum Beispiel interessiert wieviel Geld der Verein Kriegsgräberfürsorge für Costermano bekommt. Dort liegen 20.000 Soldaten und man hätte leicht feststellen können für wieviel Geld sich die Bundesrepublik dieses Grab kosten lässt. Keiner seiner Opfer hat ein Grab, nicht die verbrannten Opfer in der Euthanasie, nicht die Opfer von den Scheiterhaufen in Belzec, Sobibor oder Treblinka II und nicht die verbrannten Opfer im Krematorium der Risiera san Sabba in Triest.
Wollte man den gefallen Soldaten der Wehrmacht gedenken, schlägt man auch diese ins Gesicht, denn Sie werden gleich gemacht mit diesem Mörder.
Vernichtung beginnt mit sprachlicher Verrohung, Menschen werden als minderwertig bezeichnet, behinderte Menschen als „unnütze Esser“, schließlich als „Tiere“ und „Abfall“. Eine Verrohung, die auch heute wieder in den Sprachgebrauch einfließt. Oder ist diese Parallele zu weit hergeholt?
Ich sehe solche Parallelen auch, und es macht mir Angst. Die Art der verrohten Sprache und Bilder erinnert an die NSDAP. Ich habe auch aus dem damaligen Sprachgebrauch Worte und Begriffe gesammelt. Diese Übersicht ist nur ein kleiner Teil. Aber ich musste bewusst schmähende und stark verletzende Begriffe in meinem Werk verwenden, um Authentizität herzustellen.
Begrifflichkeiten /Definitionen für Opfer der Euthanasie, Sprachgebrauch zur Entmenschlichung:
– Ausmerzen, Euphemismus nutzlose Esser, Tiere in Menschengestalt (Beratung RKPA, Widmann, Brack)
– Ballastexistenzen, tote Seelen, Schädlinge, (biologisch) Minderwertige, Unterwertig, lebensunwertes Leben, defekte Menschen / defekte Nachkommen (aus Vorwort 1. Auflage eines Kommentar zum Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses)
– Verlorene (Caritas, „Das Wesen der katholischen Caritas und ihr Zeitbild“)
– Erbkranke, Unkraut, verunreinigtes Saatgut,(Jahrbuch der Caritaswissenschaft 1937)
– geistig Tote, Wesen, Unheilbare, wertwidrig, Material, zersetzende Hefe im Volke, Nebenmenschen, die das furchtbare Gegenbild echter Menschen bilden, weder den Willen zu leben noch zu sterben, Kranke, Krüppel, asoziale Lebensunwerte, Verblödete, Unbrauchbare, Belastung, wertwidrig, „Sie leben ja schon nicht mehr, nur das Fleisch und Blut bewegt sich in Ihnen- wertlos für sie selbst und die Menschheit“, Gemeinschaftsunfähige, Lebensverkürzung eines Wesens, Listenkranke, Reichsausschusskinder, Material, Fälle, abgesackte Menschen, entgeistigte Gerippe, erbwidrig, Menschenruinen, Tiere, untermenschliche Wesen, später Verlegefälle, gesunkenes Leben, Geschöpfe, kümmerlicher Elendsrest, Wesen sind ärmste Kreaturen, Frischfälle (für Neueinlieferungen), vertierte Untermenschen, wirtschaftlich Unterwertige (Stumme, Geisteskranke, Blinde) , sozial Unterwertige (Gewohnheitsverbrecher), Gegenbild-Menschen, Anbrüchige, Schädling, Volksschädling, Defektmenschen
– In den Vernichtungslagern: Figuren, Schmattes (Lumpen), Holzstücke, Dreck, Puppen, Marionetten
Zum Schluss: Thomas Vögele und ich hatten eine Diskussion darüber, ob man jemanden wie Christian Wirth als Gegenstand bezeichnen darf. Zum Beispiel als Gegenstand von Recherche. Sollte man eher von Objekt des Interesses sprechen? Ein Gegenstand ist ein Ding. Unbestreitbar ist Christian Wirth jedoch ein Mensch gewesen. Trotzdem war er auch der „Gegenstand“ Ihres Interesses. Thomas vertritt die Position, dass man solche Debatten am besten von vornherein vermeiden sollte, weil man damit mehr über die Haltung des Erzählenden zum Erzählten redet als über das, was erzählt wird. Für mich – ich bin ja ebenfalls Romanautor – ist genau diese Spannung interessant, aber es kann natürlich sein, dass sie tatsächlich vom eigentlich Wichtigen ablenkt, wenn man historisch aufklärerisch unterwegs ist, so wie Sie. Vielleicht haben Sie zu diesem Punkt ein kleines Schlusswort für uns?
Ich glaube er ist/war für mich beides. Er war der „Gegenstand meines Interesses“ bei der Recherche. Wenn Sie über 200.000 Blatt an Gerichtsakten und anderen Unterlagen durchsehen, dann minimiert sich das Interesse fokussiert auf das Objekt des Christian Wirth. Es war nicht nur der Name, den ich suchte, sondern auch Begebenheiten, Aktionen, Realitäten, an denen er beteiligt war.
Zum Schluss. Es ist erstaunlich, dass es so etwas Grausames, staatlich Sanktioniertes gab. Viele Täter und auch heutige Revisionisten meinen, man hätte ja nichts dagegen tun können, man hätte dort nicht weggekonnt. Der Chef des SS-Personalamtes erklärte im Auschwitz-Prozess im Frankfurter Römer, dass man sich hätte sehr wohl versetzen lassen können. Man hatte eine Geheimhaltungserklärung mit Todesandrohung unterschrieben. Aber dann hätte man an die Front gemusst und hätte das „normale“ Leben in der Vernichtung von Menschen mit Urlaub, Kultur, genügend Essen und einer sicheren Umgebung verloren.
Deshalb mein Schlusssatz aus der Erkenntnis dieses dokumentarischen Romans.
„Wenn menschliche Moral in einer Gesellschaft nicht mehr existiert und nicht mehr Handlungsmaxime eines Staates ist, wird jedes Verbrechen möglich und verkümmert zum technischen Problem.“
Ich muss ganz kurz nachhaken, da Sie den Schlusssatz in Anführungszeichen gesetzt haben: War das ein Zitat (wen ja, von wem?), oder sind das Ihre Worte?
„Wenn menschliche Moral in einer Gesellschaft nicht mehr existiert und nicht mehr Handlungsmaxime eines Staates ist, wird jedes Verbrechen möglich und verkümmert zum technischen Problem.“
Dies ist eine Feststellung von mir selbst, als ich am Ende des Buches war. Eine Erkenntnis.
John Wyttmark
Jenseits davon: Vielen Dank für Ihre Geduld und Teilnahme. Das war interessant, und alles, was Sie hier gesagt und geschrieben haben, wird für viele Jahre im Netz auffindbar und abrufbar sein. Ich gebe Ihnen durch, sobald ein Auszug aus diesem Interview in der gedruckten Frankfurter Rundschau erscheint. Einen schönen Abend wünscht
Lutz „Bronski“ Büge
Auch von mir vielen Dank
Auch euch beiden alles Gute. Auch mir hat es gefallen, obwohl das Thema nicht leicht ist