Das Problem war erkannt: Der Bundestag, das deutsche Parlament, ist personell zu groß. Darum soll es ein neues Wahlrecht geben. Die Ampel-Koalition hat eines geliefert, das – mit gewissen Abstrichen – vor dem Verfassungsgericht bestanden hat. Vor allem die Konservativen von der CSU schäumen.
Das Verfassungsgericht hat sich in seinem Urteil für das Verhältniswahlrecht ausgesprochen. Das manifestiert sich in der Zweitstimme. Nur zur Erinnerung: Bei Wahlen zum Deutschen Bundestag haben alle Wählerinnen und Wähler zwei Stimmen. Mit der ersten wählen sie den Kandidaten oder die Kandidatin aus ihrem Wahlkreis, mit der zweiten votieren sie für die Bundesliste einer der Parteien. Diese zweite Stimme, so das Verfassungsgericht, ist ausschlaggebend für die Zusammensetzung des Parlaments. Das Direktmandat hingegen ist zwar nicht nachrangig, aber der Gesetzgeber kann festlegen, in welchem Ausmaß es berücksichtigt wird. Wenn man sieht, dass manche Abgeordnete mit einem Direktwahlergebnis von kaum 30 Prozent in ihrem Wahlkreis ein Direktmandat gewinnen, kann man durchaus Zweifel bekommen, ob diese Abgeordneten ausreichend demokratisch legitimiert sind. Bei der Direktwahl gilt die relative Mehrheit. Kandidat:innen müssen nicht die 50 Prozent der absoluten Mehrheit erreichen, sondern es genügt, wenn sie mehr Stimmen als die oder der Zweitplatzierte erringen. Das neue Wahlrecht sagt nun: Abgeordnete mit schlechter Wahlzustimmung bekommen nicht zwangsläufig ein Mandat im Bundestag. Diese Mandate gibt es nur, solange dies durch das Zweitstimmenergebnis gedeckt ist. Mit diesem Verfahren soll eine Verkleinerung des Parlaments auf 630 Sitze erreicht werden.
Das wird möglicherweise nicht ganz gelingen, denn zugleich hat das Verfassungsgericht die sogenannte Grundmandatsklausel beibehalten. Diese Regelung besagt, dass Parteien, die mindestens drei Direktmandate erringen, auch dann in den Bundestag einziehen, wenn ihre Bundesliste unter den fünf Prozent bleibt, die als Sperre im bisherigen Wahlrecht vorgesehen war. Diese Sperre wird nun vorerst beibehalten. Sie ist durchaus sinnvoll, weil sie die Zerfaserung der Parteienlandschaft im Bundestag zumindest reduziert und die Handlungsfähigkeit des Parlaments gewährleistet.
Es gehört nicht viel dazu, um zu erkennen, dass hier ein demokratisches Prinzip ausgehebelt wurde, denn alle Stimmen, die für Parteien votieren, welche unterhalb der fünf Prozent bleiben, verfallen schlicht und einfach, finden also keinen Niederschlag im Parlament. Mit diesem Mangel hat die Bundesrepublik bisher gut gelebt. Er hat vermutlich auch das Wahlverhalten geprägt, weil er die Wählerinnen und Wähler zwingt, sich gut zu überlegen, wem sie ihre Stimme geben. Trotzdem ist jetzt ein Nachdenken über die Fünf-Prozent-Hürde angesagt. Und zwar recht bald, denn es gilt die Regel, dass das Wahlrecht, zu dem der nächste Bundestag gewählt wird, ein Jahr vor der Wahl feststehen soll, damit alle Beteiligten wissen, woran sie sind. Das ist absolut nachvollziehbar. Die Ampel hat also knapp zwei Monate Zeit, sich was zu überlegen. Ich tippe mal, dass es auf den Status quo hinausläuft, auf das, was das Verfassungsgericht jetzt definiert hat: Orientierung an der Zweitstimme, Wegfallen von Überhangs- und Ausgleichsmandaten und zugleich Beibehalten der Grundmandatsklausel inklusive Fünf-Prozent-Hürde. Damit könnten alle gut leben. Und nach der Wahl wird noch mal drüber gesprochen. Oder zumindest haben die Konservativen, allen voran die von der CSU, die von der bisherigen Regelung am meisten profitiert haben, bereits massiven Redebedarf angemeldet. Was auch immer das für die weitere Entwicklung heißen mag.
Und nun kommentieren Sie die bisherige Entwicklung:
Keine Extrawurst für die kraftmeiernde CSU
Das im übrigen einstimmig gefasste Urteil des BVerfG zur Klage gegen die Wahlrechtsreform ist eindeutig: Lediglich die Grundmandatsklausel mit der Außerkraftsetzung der Fünf-Prozent-Hürde bei mindestens drei Direktmandaten muss aufrechterhalten werden, was in Ordnung geht, aber – und das ist der entscheidende Punkt: Es gilt der uneingeschränkte Primat der Zweitstimme, denn alles andere wäre eine Verfälschung ihrer für die Regierungsbildung maßgebenden Anzahlen.
Scheinheilig die CSU-Rede von der demokratisch maßgebenden Erststimme. Als ein unseriöser Politiker erweist sich wieder einmal der längst bajuwarisch kraftmeiernde Söder, wenn er von einer „Klatsche für die Ampel“ spricht – nein, das BVerfG-Urteils besagt: Es gibt namentlich für die CSU keine Extrawurst.
Dass dann ein direkt Gewählter nicht zum Zuge kommen kann, ist hinzunehmen, aber es ist immer noch möglich, dass er auf einer anderen Landesliste seiner Partei einspringen kann, die nicht so viele Kandidaten und Kandidatinnen aufstellen konnte, wie ihr nach den Zeitstimmen zustehen. Das gilt freilich nicht für die CSU, aber sie kann es leicht ändern, wenn sie ihren seit FJS-selig krachledernd zur Schau gestellten Eigensinn aufgibt und mit der CDU eine einheitliche Partei bildet.
Manfred Wetzel, Agathenburg
Zwei Systeme, ein Ergebnis
Im Bundeswahlgesetz heißt es in §1-(2) : „Von den Abgeordneten werden 299 nach Kreiswahlvorschlägen (direkt) … und 299 nach Landeswahlvorschlägen (Landeslisten) gewählt“. Mein Vorschlag: Es bleibt dabei und nur dabei. So werden zwei Systeme, Direkt- und Verhältniswahl, unabhängig voneinander umgesetzt. Weitere Regeln betreffend Ausgleichs und Überhangmandate werden gestrichen. Jeder direkt gewählte Abgeordnete kommt ins Parlament. Jede Partei wir entsprechend dem auf sie entfallenden Anteil aus allen Listenwahlstimmen vertreten (mit Rundungsregeln) – Dann kann über die Direktwahl jemand, der lokal beliebt ist, direkt gewählt wird, selbst wenn er keiner oder einer sehr kleinen Partei angehört, oder umgekehrt, dass über Landeslisten ein Kandidaten einer nur regional starker Partei kein Bundestagsmandat erhält. Die beiden Effekte gleichen sich sozusagen aus. In jedem Fall ist das Ergebnis für und über die Listenwahl unabhängig von dem der Direktwahl, und umgekehrt. Es bleibt bei zwei Abgeordneten je Wahlkreis. Steht ein direkt gewählter Abgeordneter auch auf einer Liste, wird er daraus bei deren Auswertung gestrichen. – Die Zahl der Wahlkreise kann geändert werden. Das ändert das Prinzip nicht.
Robert Seckelmann, Schwelm
Für alle ist in diesem Urteil was dabei
Erneut hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt und siehe da, irgendwie ist doch wieder für jeden etwas dabei! Die Ampel dürfte dieses Urteil trotzdem als (Teil)Sieg feiern und die für sie daraus angenehmeren Teile sofort ans Revers heften.
Ich hätte diese 5-Prozent-Hürde total gekappt, das wäre meine Lösung, wie ich finde eine demonkratische Lösung! Alle Prozentzahlen, die unterhalb dieser Hürde liegen, die verpuffen irgendwie und irgendwo im Niemandsland, die sind einfach weg; und das finde ich eben nicht ganz so super demokratisch!
Das, was Robert Seckelmann vorschlägt, ist das sogenannte Grabenwahlsystem und wird auch von der Union immer wieder ins Spiel gebracht. Warum, wird klar, wenn man das Ganze einmal genau durchrechnet, was ich anhand der Ergebnisse der BTW 2021 gemacht habe.
CDU/CSU hätten bei diesem Wahlsystem 222 Mandate im Deutschen Bundestag, obgleich sie gemeinsam nur auf 24,2 % der Zweitstimmen gekommen sind. Die SPD hingegen hätte bloß 206 Mandate, allerdings war bei ihr der bundesweite repräsentative Wählerzuspruch mit 25,7 % höher als der der Union.
Ganz krass der Unterschied zwischen CSU und FDP: Letztere hat keinen einzigen Wahlkreis gewonnen und bekäme beim Grabenwahlsystem mit 11,4 % der Zweitstimmen nur 37 Mandate. Die CSU jedoch aufgrund ihrer regionalen Stärke in Bayern mit 5,2 % der Zweitstimmen satte 62 Mandate.
Fazit: Das Grabenwahlsystem verfälscht den Wählerwillen. Und das dürfte wohl auch Robert Seckelmann nicht gefallen – es sei denn, er wäre Anhänger der Union.
Doch es gibt ein einfaches System, das die Anzahl der Abgeordneten auf 598 Mandate begrenzt und den Wählerwillen korrekt widerspiegelt: Die Wahlkreise werden ersatzlos abgeschafft. Die Wählerinnen und Wähler haben nur noch eine Stimme, die gesetzlich festgelegten 598 Mandate werden ausschließlich nach dem Verhältniswahlrecht vergeben. Total einfach und absolut gerecht.
Der Einschätzung von Klaus P. Jaworek, das Verfassungsgericht habe erneut geurteilt und irgendwie sei wieder für jeden etwas dabei, kann ich überhaupt nicht zustimmen. Während des Europawahlkampfs, der in Rheinland-Pfalz auch Kommunalwahlkampf war, hatte ich am Infostand des Öfteren Gespräche über die Wahlrechtsreform, und ich sagte die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht recht gut voraus.
Dass diejenigen, die mit dem niedrigsten Abstand zum Parteiergebnis den Wahlkreis gewonnen haben, jetzt bangen müssten, ob sie in den Deutschen Bundestag einziehen, und es im Extremfall sein könne, dass eine Region gar keinen Abgeordneten in den Deutschen Bundestag entsendet, ist nämlich weniger schlimm als der Skandal, dass bei der letzten Bundestagswahl das niedrigste Ergebnis, das für ein Direktmandat reichte, 18,6 Prozent waren. Es wurde jemand Abgeordneter, den über 80 Prozent der Wählenden nicht gewählt haben, und wenn man die Nichtwählenden mit bedenkt, hat dieser Abgeordnete vielleicht sogar nur eine Zustimmung im einstelligen Prozentbereich gehabt. Ein Wahlkreiskandidat, der mit 18,6 Prozent das Direktmandat „gewinnt“, ist ja nicht wirklich erfolgreich. Nach diesem Ansatz wäre im Übrigen auch ein Autofahrer, der bei einem Unfall nur 81,4 Prozent seines Autos schrottet, als erfolgreich zu bezeichnen. Das bisherige Wahlrecht passt also nicht mehr zum Einzug vieler Parteien in den Bundestag, wie es die neue Realität ist. Anders als früher, insbesondere noch in der alten Bundesrepublik, erreichte bei der letzten Bundestagswahl nur noch ein einziger Bewerber in seinem Wahlkreis mehr als 50 Prozent der Erststimmen. Völlig zu Recht und an der Wirklichkeit ausgerichtet sieht das Bundesverfassungsgericht das Zweitstimmendeckungsverfahren als für mit dem Grundgesetz vereinbar an.
Richtig finde ich auch, dass die Beibehaltung der Fünf-Prozent-Sperrklausel die Beibehaltung der Grundmandatsklausel erfordert, nach der eine Partei auch dann in den Deutschen Bundestag einzieht, wenn sie fünf Prozent der Wählerstimmen nicht erreicht, aber in mindestens drei Wahlkreisen das Direktmandat erzielt. Damit ist der Versuch der Ampel, mit Hilfe des Wahlrechts politische Konkurrenten zu schwächen, vor dem höchsten Gericht erwartungsgemäß gescheitert. In der Tat ist das der einzige Sündenfall der Ampel bei der Wahlrechtsreform, der zudem in unappetitlicher Weise an Tricksereien in Halbdemokratien erinnert. Um einen durch Überhang- und Ausgleichsmandate aufgeblähten Bundestag zu verhindern, bedurfte es der Streichung der Grundmandatsklausel überhaupt nicht, so dass es eindeutig ist, dass diese Streichung nur zu Lasten der Konkurrenz von CSU und Linkspartei geplant sein konnte. Um den Bundestag jedoch ernsthaft zu verkleinern, muss tatsächlich der Grundcharakter des Verhältniswahlrechts voll und ganz zur Geltung kommen, so dass die Parteistimme das Maß aller Dinge sein muss.
Beim Ansinnen der Union, die Regelung, dass ein erfolgreicher Wahlkreiskandidat nur ins Parlament kommt, wenn er die Partei im Rücken hat, nach Übernahme von Regierungsverantwortung rückgängig zu machen, kann tatsächlich nur Murks herauskommen, zumal dafür ein murksfreundlicher Koalitionspartner notwendig wäre.
Bei der Lektüre von Einschätzungen aus regionaler bayerischer Perspektive ist mir allerdings aufgefallen, dass man bei der Meinungsbildung zum Verfassungsgerichtsurteil auch nicht zu sehr an den momentanen Interessenlagen der Parteien kleben sollte. Von selbst wäre ich nicht darauf gekommen, dass die CSU bei der nächsten Bundestagswahl über die Beibehaltung der Grundmandatsklausel fluchen könnte. Der stellvertretende bayerische Ministerpräsident
Hubert Aiwanger sähe seine Freien Wähler gern im nächsten Bundestag, und um das zu erreichen, benötigt er nur drei bayerische Wahlkreise, in denen der Kandidat der Freien Wähler knapp vor dem CSU-Bewerber liegt, was mit Bayern vertraute Journalisten durchaus für realisierbar halten. Träte das ein und wäre die CSU bei der kommenden Bundestagswahl trotzdem knapp über der Fünf-Prozent-Hürde, wäre das für die Christsozialen der Super-GAU. Sie hätten somit an der falschen Stelle über die Niederlage der Ampel gelästert.
Das Problem mit der Erststimme für den/die Wahlkreiskandidaten/tin wäre schnell gelöst, wenn das Direktmandat der/die Kandidat/tin erhielte, der/die Mehrheit der Erststimmen auf sich vereinigt. Aktuell reichen die meisten Erststimmen für ein Mandat. Das hat bei der letzten Wahl zum Bundestag dazu geführt, dass selbst mit einem Stimmenanteil von nur 22% ein Dirketmandat gewonnen werden konnte. Gelingt das im ersten Wahlgang keinem/ner Bewerber/in, findet in den betreffenden Wahlkreisen eine Stichwahl um das Direktmandat statt. So ist es in allen parlamentarischen Demokratien, in denen nur das Mehrheitswahlrecht gilt. Neben dem Vorteil eines arbeitsfähigen Parlaments hätte das für die Steuerzahler auch den Vorteil, dass eine Stichwahl kostengüngstiger wäre als ein aufgeblähter Bundestag
@Hans Möller
In Großbritannien gibt es trotz Mehrheitswahlrecht nur einen einzigen Durchgang. Und selbst wenn es hierzulande in den Wahlkreisen einen zweiten Wahlgang gäbe, würde das ja trotzdem nichts an der Notwendigkeit des Zweitstimmendeckungsverfahrens ändern, weil im bestehenden Wahlsystem aus Erst- und Zweitstimme nur dadurch die Überhang- und Ausgleichsmandate und damit die Aufblähung des Bundestages verhindert werden. Und ein reines Mehrheitswahlrecht würde der Verfälschung des Wählerwillens gleichkommen. Beispiel: Die Liberaldemokraten haben bei der letzten Unterhauswahl in Großbritannien mit 12,6 % der Stimmen 72 Unterhausmandate bekommen, die Reform UK mit 14,3 % der Stimmen aber nur 5 Mandate. Gerecht ist das nicht.