Der entzauberte Messias

Die Abwicklung und Auflösung des US-Militärgefängnisses Guantánamo gestaltet sich schwieriger, als viele das wohl zunächst erwartet haben. Denn was geschieht mit den Häftlingen, die dort gegen jedes internationale und gegen jedes Menschenrecht gefangen gehalten werden? Einige sind mutmaßliche Terroristen, andere sind unschuldig – doch selbst Terroristen stehen ordentliche Prozesse zu. In diesen würden vermutlich etliche der „Beweise“, die in Guantánamo unter Folter gewonnen wurden, nicht zugelassen werden, so dass die Anklage es schwer hätte, die mutmaßlichen Verbrecher hinter Gitter zu bringen. Sie kämen wahrscheinlich frei. Also doch lieber die Militärtribunale mit ihren intransparenten Strukturen und den für die Angeklagten eingeschränkten Rechte aus der Mottenkiste holen?  Eines von Barack Obamas Wahlversprechen war, diese Tribunale einzustellen. Nun ist der US-Präsident in den Niederungen der Realopolitik angekommen, und es erweist sich, wie groß der Flurschaden wirklich ist, den sein Vorgänger in diesen Niederungen angerichtet hat. Verzichtet Obama wie versprochen auf Militärtribunale, geht er ein Risiko für die Sicherheit der USA – und anderer Staaten – ein und legt sich außerdem mit den Republikanern an; dies war jedoch ein anderes Wahlversprechen: Miteinander reden, auch mit dem politischen Gegner. Seit kürzlich ein republikanischer Senator zu den Demokraten gewechselt ist und ihnen eine 60-Stimmen-Mehrheit im Senat verschafft hat, braucht Obama die Republikaner zwar nicht mehr unbedingt, um seine Politik durchzusetzen, wohl aber, wenn er ein anderes politisches Klima schaffen will. Und im anderen Fall – er ließe die Tribunale arbeiten -, bricht er womöglich das Recht, auf jeden Fall aber seine Wahlversprechen.

Dazu meint Jutta Rydzewski aus Bochum:

„Es brauchte lediglich 100 Tage, um den „Messias“ zu entzaubern. Guantánamo, den zivilisatorischen Schandfleck der Neuzeit zu schließen, war nicht nur eines der Versprechen Obamas, diese Ankündigung hatte auch die größte Symbolkraft. Geschlossen ist noch gar nichts. Im Gegenteil, der Schandfleck wird sogar weiter ausgebaut. Ob es überhaupt zur Schließung kommt, ist mehr als zweifelhaft. Zweifelhaft auch deshalb, weil die umstrittenen Militärtribunale des Folterlagers auch bald ihre ‚Arbeit‘ wieder aufnehmen werden. Das Motto scheint immer mehr zu sein: So schlimm ist das doch alles gar nicht.
Robert Gates, der alte Bush-Kämpfer, auch unter Obama Verteidigungsminister, machte, wie die Radiosendung ‚Democracy Now‘ berichtete, weitere ‚Ankündigungen‘, die wohl endgültig den Obama-Traum platzen lassen: ‚Bis zu 100 Gefangene könnten nach einer Guantánamo-Schließung ohne Prozess auf unbestimmte Zeit festgehalten werden – und zwar auf dem Boden der USA.‘ Damit ist der Rückfall in die Bush-Zeit offenkundig. Ohne Prozess, aber dennoch einsperren, das ist eine Schande für jeden Rechtsstaat. Doch damit noch nicht genug, Herr Gates legte nach: Viele Guantánamo-Häftlinge seien zu gefährlich, um sie freizulassen. Mangels Beweisen könne man sie aber auch nicht verurteilen. Äußerungen, die schlicht und ergreifend unglaublich sind. Offenbar macht Obama da weiter, wo Bush aufgehört hat, zumal davon auszugehen ist, dass Gates seine Äußerungen mit Obama abgestimmt hat, bevor er an die Öffentlichkeit ging.
Nach all dem stellt sich die Frage, ob es Obama mit seinen Ankündigungen überhaupt je ernst gemeint hat, oder ob ihm zwischenzeitlich klar gemacht wurde, wo es gefälligst langzugehen hat. Vielleicht ist es eine Mischung aus beiden Möglichkeiten. Doch wie auch immer, für die Welt und die großen Hoffnungen, die mit Obama verbunden waren, reiht sich mit jeder neuen ‚Ankündigung‘ eine Katastrophe an die nächste. Glaubwürdigkeit wollten die USA mit und durch Obama zurückgewinnen. Wenn nach Bush überhaupt noch etwas davon übrig war, so droht das jetzt auch noch verloren zu gehen.“

Manfred Kirsch aus Neuwied:

„Sie mag vielleicht richtig sein, die Feststellung Dietmar Ostermanns, wonach Barack Obama in den so genannten Zwängen der Realpolitik angekommen ist. Doch so richtig sie sein mag, sie ist vor allem grausam. Grausam deshalb, weil, wäre diese Feststellung wirklich richtig, jeder US-Präsident sozusagen dazu verurteilt wäre, die positiven Werte der USA wie Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenwürde zu missachten. George W. Bush, der die Menschenrechte mit Füßen trat, hätte einen späten Triumph, ebenso wie die rechten Hardliner bei den Republikanern.
Nein, es kann für Barack Obama nur einen sauberen Weg geben. Und der heißt rechtstaatlich einwandfreie Verfahren vor ordentlichen Gerichten und Abschaffung der Militärtribunale. Obama wird dies um seiner eigenen moralischen Identität und Glaubwürdigkeit willen tun müssen. War schon die Straffreiheit für CIA-Folterer ein riesiger Fehler, so würde der Präsident mit Aufrechterhaltung der Militärtribunale zu einer gewaltigen Enttäuschung für viele seiner Anhänger.
Die Europäer indes müssen die USA unbedingt bei der Aufnahme von Häftlingen aus dem Gefangenenlager unterstützen, egal, welche Gründe die Vereinigten Staaten dafür haben werden, Menschen aus Guantánamo nicht aufzunehmen. Regierungen haben auch in Zeiten komplexer Bedrohungen die rechtliche und moralische Pflicht zu humanitärem Handeln.

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4 Kommentare zu “Der entzauberte Messias

  1. Die Welt und die Amerikaner selbst sollten sich aus dem Wahn entlassen, die USA hätten in irgendeiner Weise eine besondere Rolle in der Welt.

  2. Rückblickend muss ich leider feststellen:
    Obama hat sich nach seiner Nominierung nicht anders verhalten als jeder Kandidat vor ihm.
    Sein erster Weg führte ihn zur AIPAC (American Israel Public Affairs Committee) wo er die obligate Unterwerfungsrede hielt.
    Das geschah am 9.06.08.
    Damit hatte er seine künftige Nahostpolitik festgelegt.

    Eine weitere Unterwerfungserklärung erfolgte
    kürzlich gegenüber der CIA.
    Danach ist die Verfolgung der Verbrechen aus der Ära Bush jun. ausgeschlossen.

    Finanziell sind ihm die Hände durch den Crash
    gebunden.

    Wer ist heute noch naiv genug, an den versprochenen Wechsel zu glauben.

  3. Guantanamo und die transatlantische Scheinheiligkeit

    Muss sich Deutschland zur Aufnahme von in Guantanamo Inhaftierten bereit erklären, weil die USA dazu aus innenpolitischen Gründen nicht in der Lage sind?
    Zwar hat die Obama-Administration mit ihrer Ankündigung, das viel kritisierte Gefangenenlager zu schließen, den aus humanitärer Sicht einzig richtigen Schritt im Umgang mit diesem Relikt der Ära Bush getan. Aus ihrer Verantwortung für die Zukunft der dort zu Unrecht Festgehaltenen kann sie sich mit diesem fragwürdigen Argument jedoch nicht entziehen. Denn: Eine faire Lösung, wie sie US-Justizminister Eric Holder fordert, kann nicht darin bestehen, Europa in dieser Frage den schwarzen Peter zuzuschieben. Auch der bemühte Verweis auf einen Neuanfang in den transatlantischen Beziehungen befreit die USA nicht von der Pflicht, unangenehme Konsequenzen aus der bis dato nur indirekt eingestandenen Schuld zu ziehen: Von der selbst eingebrockten Suppe müssen sie zumindest einige Happen selbst auslöffeln.
    Allerdings bleibt zu betonen, dass das „Problem Guantamo“ kein rein amerikanisches ist. Die dort praktizierte Folter „illegaler Kämpfer“ greift zum Einen das moralische Fundament der gesamten westlichen Welt an. Zum Anderen hat insbesondere Deutschland durch seine aktive Beteiligung am „Kampf gegen den Terror“ – z. B. durch die Gewährung von Überflugsrechten für dubiose CIA-Gefangenentransporte – sich seine vermeintlich weiße Weste selbst beschmutzt. Daher ist die seit Langem von der Bundesregierung nachdrücklich aufgestellte Forderung, Guantanamo zu schließen, unweigerlich mit der Pflicht zur Aufnahme dort Inhaftierter verbunden. Auch die von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ins Feld geführten Sicherheitsbedenken befreien in dieser Frage nicht von der humanitären Verantwortung: Die Bundesrepublik muss sich nun ebenfalls den unangenehmen Konsequenzen stellen.
    Die „faire Lösung“ verlangt einen angemessenen Beitrag aller Beteiligter. Ein langwieriges Hickhack auf den Schultern der nach wie vor in Guantanamo Einsässigen wäre in jedem Fall inakzeptabel.

  4. Obama mag ein Schwätzer sein, aber würde man die US Bürger nach einer Lösung des Problems Guantanamo fragen würden diese auch nicht jubbelnd für die Schließung sein wenn daraus eine Verlegung der Gefangenen auf das amerikanische Festland folgen würde.

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