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Lokführer: „Debatte über Streikrecht“ und „Genug gezankt“, FR-Wirtschaft vom 27. Januar und FR-Meinung vom 23 Januar
Eine ganze Gesellschaft in „Geiselhaft“
Der Mega-Streik der GDL ist ein klarer Beweis dafür, dass ein Streik in Bereichen der Daseinsvorsorge dringend eine neue und klarere gesetzliche Regelung erfordert. Denn es muss künftig verhindert werden, dass Arbeitskämpfe in diesen Bereichen die gesamte Gesellschaft in „Geiselhaft“ nehmen und beträchtliche Schäden in der Wirtschaft verursachen. Minderheiten in exponierten Positionen im Wirtschaftsprozess dürfen mit ihren überzogenen Forderungen und langfristigen Kampfmassnahmen nicht durch Schäden in anderen Bereichen zusätzliche Schäden verursachen. Diese gesetzliche Regelung muss folgende Festlegungen mindestens enthalten:
- kein Warnstreik bevor nicht wenigsten 2 bis 3 mal verhandelt wurde,
- Ankündigung von Warnstreiks mit Fristen, die eine sinnvolle Vorbereitung für die Bereiche ermöglichen, die nicht bestreikt werden,
- Zwang zur Moderation von Tarifgesprächen nach einer bestimmten Anzahl von gescheiterten Tarifrunden oder der Zwang zur Schlichtung.
Es ist das „Verdienst“ der aggressiven Aktivität von Herrn Weselsky, dass nun auch Wirtschaftsverbände und Politiker die Notwendigkeit eines Regelungssystems für diese Bereiche erkannt haben. Das Streikrecht für die Arbeitnehmer in der Demokratie ist ein hohes Gut und muss verteidigt werden. Das darf aber nicht auf Kosten der anderen Arbeitnehmer und der anderen Wirtschaftszweige erfolgen. Diese Regelung muss zügig erfolgen, bevor andere Bereiche der Daseinsvorsorge auch zu diesen Mitteln der GDL greifen und ihre exponierten Positionen in der Wirtschaft zur Durchsetzung unrealer Ziele nutzen.
Klaus-Dieter Busche, Offenbach
Ich kann nicht verstehen, dass sich die FR nicht klar und solidarisch auf die Seite der Arbeitnehmer, der Lokführer, stellt. Deren Forderungen nach Verkürzung der Arbeitszeit für diesen verantwortungsvollen und aufreibenden Beruf sind mehr als berechtigt. Die Angebote der Bahn sind einfach lächerlich. Und sie sind zynisch, denn sie kommen von Vorständen, die für ihr jahrelanges Missmanagment – auf dem Rücken der Beschäftigten und zu Lasten der Bahnkunden – ungehindert Millionen kassieren, Millionen – wohlgemerkt – an Steuergeldern! Es ist schlicht daneben, wenn FR-Redakteur Steffen Herrmann scheinbar unparteisch den Kontrahenten zuruft „Genug gezankt“ und die Gewerkschaft der Lokführer mahnt „Die GDL muss aufpassen, dass sie nicht überzieht“ und ihr eine „Verweigerungshaltung“ vorwirft. Ich möchte, dass meine Zeitung sehr wohl Partei ergreift, Partei für die berechtigte Sache, Partei für die Arbeitnehmer, zu denen ich auch gehöre. Und vor allem möchte ich eines: dass meine Zeitung der Sache auf den Grund geht, d.h. einmal genau untersucht, was sind die Forderungen der Gewerkschaft, wie ist die Arbeitssituation der in ihrem Bereich Beschäftigten, was leisten die Vorstände, was verdienen sie – und dass meine Zeitung dann einmal vergleicht. Ich möchte keine oberflächlichen Betrachtungen, sondern eine handfeste, mit Fakten gestützte Analyse. Immerhin zeigt die Tatsache, dass die GDL mit 18 Bahnunternehmen bereits zufriedenstellende Tarifabschlüsse erzielt hat, dass ihre Forderungen so unberechtigt nicht sein können. Nur es gibt einen Unterschied: Die DB darf Steuergelder grenzenlos und unkontrolliert verschwenden, egal wofür – auch für den Kampf gegen einen legitimen Streik.Jetzt höre ich zu allem Überfluss auch noch: „Kanzler Scholz wendet sich in einem Appell an die streikenden Lokführer.“ Warum wendet er sich nicht an die Bahn? Und da braucht er nicht nur zu appellieren – da kann er sogar handeln, denn die Bahn ist Bundeseigentum!
Manfred Bonson, Lüdinghausen
Sehr geehrter Herr Busche,
dass „der Megastreik der GDL“ „die gesamte Gesellschaft in ‚Geiselhaft‘ nehmen“ kann, geht auf die neoliberale Privatisierung der Bahn zurück. Es braucht keine „neue und klarere gesetzliche Regelung“, sondern die Rückkehr zur staatlichen Verantwortung „in Bereichen der Daseinsvorsorge“, wie wir sie hatten, als Lokführer noch Beamte waren und nicht streiken konnten bzw. mussten. Es erscheint mir als typisch deutsche Unart, die Kleinen zu schelten statt die großen Übeltäter zu brandmarken.
Leserbrief zu dem Kommentar von Stefan Winter „Streiks – Die Nerven behalten“ in der FR vom 03.04.2024.
In der Tat, wie Herr Winter zutreffend beschreibt, kommt aufgrund der vielen Arbeitskämpfe bei Bürgern und Unternehmen der Eindruck auf, „dass in diesem Land nichts mehr funktioniert“ und durch die Vielzahl von Streiks, insbes. im Bereich der Daseinsvorsorge „Chaos herrscht“. Die Bundesrepublik ist, zumindest im Transportwesen, vom Weltmeister im Nichtstreiken mit der geringsten Zahl an streikbedingten Arbeitsausfällen zum Weltmeister im Streiken geworden. Reisen sind langfristig kaum noch planbar. Es hat den Anschein, als ob relativ kleine Gruppen von Arbeitnehmern im Kampf um materielle Vorteile nicht davor zurückschrecken, das (Wirtschafts-) Leben lahmzulegen. Aus diesem Grund ertönt zurecht von verschiedenen Seiten der Ruf nach einer Reaktion des Gesetzgebers.
1. Nicht richtig ist die Aussage in dem Kommentar von Stefan Winter, wonach das Arbeitskampfrecht „nur in einem Gesetz geregelt“ sei, nämlich „der Verfassung“. Richtig ist, dass es in der einschlägigen Regelung des Art. 9 Abs. 3 GG keinerlei Regelung gibt, die das Ob und Wie von Arbeitskämpfen regelt.
2. Aufgrund des Fehlens einer Regelung im GG ist die Rechtsprechung notgedrungen in die Bresche gesprungen und insbes. der frühere Präsident des BAG, Kissel, hat, beginnend ab Ende der 50er Jahre, das Arbeitskampfrecht konzipiert, das später vom BAG ergänzt und fortgeführt wurde. Auch wenn die Grundsätze der Rechtsprechung über die Jahre im Großen und Ganzen vernünftig waren, ist diese Praxis verfassungsrechtlich sehr bedenklich, denn die Rechtsprechung hat die Aufgabe, Gesetze anzuwenden und nicht, rechtliche Regelungen zu erlassen. Die beschriebene Praxis verstößt gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung, den Wesenlichkeits-grundsatz und das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 GG). Das wird auch aus der Tatsache ersichtlich, dass hier einige wenige Personen faktisch Recht setzen, ohne dass irgendeine demokratische Kontrolle durch die in der Verfassung vorgesehenen Organe stattfindet.
3. Ferner hat die Rechtsprechung ihre Grundsätze in erster Linie anhand der großen Streiks in den 80er Jahren in Produktionsbetrieben (Metall, Chemie usw.) entwickelt. Die Sachlage hat sich seitdem erheblich geändert. Zum einen durch das Aufkommen der Berufsspartengewerkschaften, die abweichend vom Industrieeinheitsprinzip des DGB nur einen bestimmten Berufsstand vertreten. Dabei geht es zumeist um gut qualifizierte Arbeitnehmer, die in den Betrieben an den „Schaltstellen“ sitzen („Funktionseliten“) und somit in der Lage sind, mit einer vergleichsweise kleinen Zahl von Streikenden einen Betrieb „lahmzulegen“, wie man insbesondere an Piloten und Lokführern sieht. Dabei geht es zumeist auch um den besonders sensiblen Bereich der Daseinsvorsorge, zu dem neben der Gesundheit und dem Bildungsbereich auch das Transportwesen gehört. Streiks in der Daseinsvorsorge zeichnen sich regelmäßig durch eine höhere Drittbetroffenheit von Bürgern und Unternehmen aus. Während bei Streiks in Produktionsbetrieben den Kunden des Arbeitgebers zumeist Alternativen zur Verfügung stehen, ist die Drittbetroffenheit von nicht am Arbeitskampf beteiligten Bürgern und Unternehmen in der Daseinsvorsorge viel größer. Wenn im Transportbereich Flüge oder Züge ausfallen, gibt es häufig nur wenige Alternativen für die Betroffenen. Das Gleiche gilt für Streiks in Kitas usw. Hinzukommt, dass die Rechtsprechung hier ihre eigenen Grundsätze zur Rechtmäßigkeit von Streiks und Warnstreiks nur noch eingeschränkt anwendet. Eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit von Streiks und insbes. Warnstreiks ist die Beachtung des Ultima Ratio Prinzips, d. h. des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Ein Warnstreik von Lokführern, der 80 % des Bahnverkehrs erfasst, ist sicherlich nicht mit dem Ultima Ratio Prinzip vereinbar.
4. Aus diesen Gründen wurde von der Rechtswissenschaft im Jahr 2012 ein Entwurf zur Regelung von Arbeitskämpfen im Bereich der Daseinsvorsorge vorgelegt, der leider, wie schon ein früherer Entwurf zur Regelung des gesamten Arbeitskampfrechts aus dem Jahr 1988, von der Politik unbeachtet blieb und auch von den Arbeitsgerichten faktisch nicht angewendet wird. Es ist herrschende Meinung, dass auch Arbeitnehmer, die in der Daseinsvorsorge tätig sind, ein Recht zum Streik haben. Gleichzeitig wird jedoch in der Literatur die Auffassung vertreten, dass Arbeitskämpfe in diesem sensiblen Bereich, die zu großen Problemen bei Bürgern und Unternehmen führen, besonderer Regelugen bedürfen, wie z. B. einer Pflicht zur vorherigen Durchführung von Schlichtungsverfahren und Notfallmaßnahmen, die dem Anspruch der Bürger auf die Daseinsvorsorge durch den Staat gerecht werden.
5. Leider haben sich bislang alle regierenden Parteien seit Gründung der BRD geweigert, ein Gesetz zur Regelung von Arbeitskämpfen zu verabschieden, trotz Vorliegens von brauchbaren Gesetzesvorlagen aus der Rechtswissenschaft (s. o.). Diese gesetzgeberische Untätigkeit stellt einen Skandal dar. Leider steht dieser Punkt trotz der Entwicklungen in den letzten Jahren, soweit ersichtlich, auch heute auf keiner Agenda der Parteien. Stattdessen hat die damalige Bundesarbeitsministerin Nahles im Jahr 2015 den untauglichen Versuch unternommen, durch Einfügung des § 4a („Tarifeinheitsgesetz“) das Problem an anderer Stelle, nämlich im Tarifvertragsgesetz zu lösen, um dem Unmut der Bürger über die vielen Streiks zu begegnen. Durch diese Regelung wurde bezweckt, die Streiks und das besondere „Erpressungspotential“ der Berufsspartengewerkschaften zu bändigen. In der juristischen Literatur wird dieser Versuch zu Recht überwiegend als verfassungswidrig angesehen, weil Art. 9 Abs. 3 GG eine schrankenlose Regelung darstellt und die Beschränkung der Berufsspartengewerkschaften in ihren Rechten somit verfassungswidrig ist. Die Regelung wird in der Praxis auch kaum angewendet, sonst wären die Streiks dieser Gewerkschaften (Cockpit, GdL) von den Arbeitsgerichten als unzulässig zu verbieten, weil diese Gewerkschaften in den Betrieben nahezu nie die Mehrheit der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer darstellen.
Fazit:
Die zunehmenden Probleme von Bürgern und Unternehmen mit Streiks sind in erster Linie auf die Untätigkeit der Politik zurückzuführen, die sich seit nun ca. 76 Jahren weigert, diese Materie zu regeln. Gerade weil Streiks ein hohes und verfassungsrechtlich garantiertes Rechtsgut der Arbeitnehmer sind, wäre es nun wirklich höchste Zeit, dass sich Politik und Gesetzgeber dieser Materie zuwenden. Leider scheint es diesbezüglich wenig Hoffnung zu geben. Streiks und die hierdurch verursachten Probleme werden also weiter den Alltag von unbeteiligten Bürgern und Unternehmen erschweren.
Dr. Stephan Moll
Friedrich Gehring:
Ihrem Kommentar kann ich nur beipflichten., wenn Sie schreiben:
„Es braucht keine „neue und klarere gesetzliche Regelung“, sondern die Rückkehr zur staatlichen Verantwortung „in Bereichen der Daseinsvorsorge“, wie wir sie hatten.“
Die Problematik besteht m.E. nur darin, dass einerseits ein Großteil der Medien eine Anti-Streik-Stimmung in der Bevölkerung verursacht und so eine Einschränkung des Streikrechts herbeiführen will. Dabei spielt natürlich die Lobby der Großunternehmen hierbei eine führende Rolle , obwohl diese selbst alle ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten wahrnehmen, ob Zeitverträge, Tarifausstieg, Hintergehung der Mindestlöhne, unbezahlte Überstunden, kurzfristige Entlassungen etc. etc., während die Arbeitnehmer ausschließlich nur das Streikrecht haben.
Andererseits überzieht natürlich Weselsky mit seinen längeren Streiks ohne vorher kaum verhandelt zu haben und ohne eine Schlichtung zu akzeptieren, wodurch er gleichfalls eine Anti-Streik-Stimmung provoziert, so dass dadurch andere völlig gerechtfertigte Streiks in Misskredit geraten.
Mag ja sein, dass Claus Weselsky in der Tarifauseinandersetzung etwas überzogen hat. Trotzdem kann das kein Grund dafür sein, das Streikrecht generell in Frage zu stellen. Dies wird jedoch insbesondere von interessierter neoliberaler Seite und bestimmten Medien getan. Das Koalitionsrecht und das Streikrecht sind bedeutende soziale Errungenschaften, die es zu verteidigen gilt, insbesondere von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern- Deshalb muss man hellhörig werden, wenn darüber schwadroniert wird, ob das Streikrecht noch „zeitgemäß“ sei. Tatsache ist, dass diese Republik ohne den Kampf der Gewerkschaften heute anders, nämlich viel kälter,, aussehen würde. Wer die Axt an das Streikrecht legt, der legt sie auch an die Demokratie und die bürgerlichen Freiheitsrechte sowie an die Staatsfundamentalnorm „die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Deshalb gilt es immer wieder wachsam zu sein gegenüber denjenigen, die diese liberale Demokratie auch von innen heraus aushöhlen wollen. Wer das Streikrecht in Frage stellt stellt den demokratischen Rechts- und Sozialstaat in Frage und muss mit dem Widerstand aller Demokraten rechnen.