Helmut Kohl – Übervater und mächtiger Führer

Über Tote soll man nicht schlecht reden. Also, dann legen wir mal los. Denn Helmut Kohl, der 16 Jahre lang Deutschland als Bundeskanzler regiert hat, wurde am vergangenen Samstag zu Grabe getragen. Zuvor wurde ihm im Europäischen Parlament in Straßburg als erstem Staatsmann überhaupt die Ehre eines offiziellen Trauerakts der Europäischen Union zuteil. Hinterher wurde sein Leichnam per Rheinfahrt nach Speyer gebracht. Ich war ganz in der Nähe, denn ich war zu einer Lesung in Schifferstadt eingeladen, was zehn, zwölf Kilometer von Speyer entfernt liegt. Die Verkehrsbeeinträchtigungen, ausgelöst durch das Großereignis, waren deutlich zu merken, und im Himmel kreisten die Helikopter. Vorher hatte ich jahrelang fast nichts mehr von Helmut Kohl gehört und mich damit eigentlich auch ganz gut gefühlt. Mein politisches Denken wurde nämlich in der Kohl-Ära geprägt. Die endete im Oktober 1998. Ich erinnere mich noch, dass ich am Abend des 27. September 1998 ziemlich glücklich war: Kohl war abgewählt.

Kohl und HoneckerWenn ich also die historischen Leistungen des Altkanzlers und seine Person würdigen soll, dann steht diese für mich an erster Stelle kommt: Er hat sich abwählen lassen. Das war ein historischer Moment. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gab es einen vollständigen Regierungswechsel per Wahl. Dem, der das geschafft, nämlich Altkanzler Gerhard Schröder (SPD), ging es sieben Jahre später genauso. Die politisch-demokratische Kultur Deutschlands hat 1998 also viel gewonnen. Vorher wurden die Bundeskanzler, die man loswerden wollte, zum Beispiel mit einem konstruktiven Misstrauensvotum (Helmut Schmidt) beseitigt. Sie traten auch mal zurück, was der politisch-demokratischen Kultur besonders im Fall Willy Brandts gut getan hat; beim ganz anders gelagerten Fall Adenauer ging dem Rücktritt ein Gezerre voraus, an das sich heute kaum noch jemand erinnert, und auch sein Nachfolger Ludwig Erhard hatte einen glanzlosen Abgang. Höre ich Widerspruch? Auch 1969 ist eine Regierung (Kiesinger) schon einmal abgewählt worden. Schon richtig, aber vorher war die SPD mit CDU/CSU in der Großen Koalition, d.h. sie hat den Wahlsieg aus der Regierung heraus geschafft, nicht aus der Opposition heraus wie 1998 Gerhard Schröder. Das ist dann doch noch mal etwas anderes.

Eine weitere der großen historischen Leistungen Helmut Kohls ist, dass er die „geistig-moralische Wende“, von der er häufig sprach, nicht umgesetzt hat. Dass er sie so gern gefordert hat, lag vermutlich daran, dass er seinen eigenen Parteigenossen Angst machen wollte. Damit war er so erfolgreich, dass aus der CDU damals kaum noch jemals Widerspruch zu ihm und seiner Politik kam, geschweige denn Kritik. Er führte als Patriarch und war menschlich schwierig, wie Wolfgang Thierse im FR-Interview berichtete und wie es sich für einen großen Staatsmann gehört. Atmosphärisch erinnert dieses Wortungetüm, gemeint ist die „geistig-moralische Wende“, natürlich an die „Leitkultur“, die heute noch gern bemüht wird, wenn keiner weiß, wovon eigentlich die Rede ist, wenn man aber etwas braucht, was man gegen Ausländer, vor allem gegen Muslime, ins Feld führen kann. Insofern war Kohl auch ein Vordenker.

Kohl ist — dritte Großleistung aus meiner Sicht — auch mit dafür verantwortlich, dass die Grünen zur veritablen Oppositionspartei heranreiften, die letztlich gar als Koalitionspartner taugten. Die FDP verlor damit ihre jahrzehntelang geübte Rolle als Mehrheitsbeschafferin. Die Jahre der Ära Kohl, besonders die letzten, die vielfach als Jahre der Stagnation beschrieben wurden, haben letztlich viel zur Entschlossenheit seiner politischen Gegner beigetragen: So konnte es nicht weitergehen. Heute schauen politische Beobachter, auch links gerichtete, teilweise in nostalgischer Stimmung auf diese Jahre, weil Kohl den Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer nur einmal angetastet hat, nämlich 1990, als der Satz von 56 auf 53 Prozent gesenkt wurde. Heute liegt er bei 42 bzw. 45 Prozent. Das waren noch Zeiten damals!

Und viertens wollen wir nicht vergessen, dass durch Helmut Kohl der Begriff Ehrenwort rehabilitiert wurde. Er war im Jahre 1987 in der Barschel-Affäre nämlich beschmutzt worden. Mit seinem Ehrenwort bekundet jemand, so wird der Begriff gemeinhin verstanden, dass er mit seiner Ehre für die Richtigkeit seiner Angaben einsteht. Mit seinem Ehrenwort hatte der damalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel (CDU) versucht, den Druck abzustreifen, der auf ihm lag, weil er angeblich den Gegenkandidaten von der SPD, Björn Engholm, habe beschatten und manipulieren lassen. Er bestritt dies mit seinem Ehrenwort, aber so richtig geglaubt hat ihm wohl niemand. Kohl hingegen hat sein Ehrenwort Unbekannten gegeben, deren Namen zu verschweigen. Von diesen Unbekannten soll Kohl Spendengelder angenommen haben. Der Vorgang, der sich 1991 ereignet und 1999 herauskam, ist bekannt als CDU-Spendenaffäre und wäre ganz anders abgelaufen, wenn Kohl geredet hätte. Doch er hat das einst gegebene Ehrenwort gehalten, und so kam der Begriff wieder zu Ehren, zumal Kohl dann auf den Ehrenvorsitz der CDU verzichtete. Ein leuchtendes Vorbild! War das vielleicht ein leiser Vorgeschmack auf die „geistig-moralische Wende“, die Kohl einzuleiten am Ende ganz vergessen hat?

Ich muss zugeben, dass ich selbst doch ziemlich erstaunt darüber bin, wie viel Gutes, angenehm Berichtenswertes ich über diesen Mann zu schreiben finde, wenn ich mich nur richtig anstrenge. Das ist natürlich völlig in seinem Sinn, dass ich mich richtig anstrenge. Fleiß und Disziplin waren hohe Werte für ihn. Über die anderen Leistungen, etwa die deutsche Einheit und die Europapolitik, haben Andere an anderer Stelle schon alles geschrieben; das muss an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Und so ist es Zeit, zu den letzten Worten zu kommen: Helmut Kohl, ruhe in Frieden!

fr-balkenLeserbriefe

Alfred Kastner aus Weiden:

„Mein Interesse am tagespolitischen Geschehen wurde als Teenager bzw. junger Erwachsener mit den Kanzlerschaften Helmut Schmidts und Helmut Kohls geweckt. Vor allem aus Enttäuschung über das Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt stand ich den ersten Jahren der Kanzlerschaft von Helmut Kohl eher skeptisch gegenüber. Kohls anfänglicher Reformhunger erlahmte relativ schnell. Reformstau und das Aussitzen von Problemen wurden zu Merkmalen seiner Innenpolitik.
Schlagwörter, die in mir auf die heutige Innenpolitik bezogen ein Deja-vu-Erlebnis auslösen. Kohl forderte die „geistig moralische Wende“ in einer Zeit, in der es noch keine (a)sozialen Medien und das kontinuierliche Absinken von Gewalthemmschwellen gab. Er wurde in den ersten Jahren seiner Kanzlerschaft sogar im eigenen Lager als tumber Provinzler verspottet. Kein deutscher Politiker wurde so oft und so böse karikiert wie er. Dies lag auch daran, dass sein Verhältnis zu weiten Teilen der Medien stets angespannt war. Er hätte es sich einfacher machen können, indem er mit den Medien lieb Kind gemacht hätte. Aber gerade dies war ein Charakterzug, den ich an Helmut Kohl zunehmend zu schätzen lernte. Seine Aufrichtigkeit und dass er sich nicht verbiegen ließ. Bei ihm wusste man, woran man war.
Kohl war bis 1989 der unbeliebteste Kanzler in der bundesdeutschen Geschichte. Seine Popularitätswerte lagen durchweg unter denen seiner eigenen Partei. Die Dolche in seiner damals noch mutigen Partei waren gewetzt. Nach zwei gewonnenen Wahlen schien Kohls Zeit vorbei zu sein. Der Aufstand der DDR-Bürger rettete jedoch seine Kanzlerschaft, die erst danach ihre Blütezeit erfuhr. Helmut Kohl ergriff entschlossen und zupackend die Gunst der Stunde. Er war zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle.
Kohl war die Schlüsselfigur der europäischen Integration. In Zeiten der Auflösungserscheinungen der Europäischen Union hinterlässt er den Menschen in Europa ein wichtiges Vermächtnis. Der CDU-Spendenskandal hat seine politische Karriere auf eine unrühmliche Art beendet. Kohl war zweifelsohne ein politischer Machtmensch, aber einer, der dem Land und seiner Partei dienen wollte und seine Machtfülle nicht ausschließlich als Selbstzweck betrachtete. Er hat gegen das Parteiengesetz verstoßen, daran gibt es nichts zu beschönigen. Aber wer von uns ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.
Angela Merkel hat damals die Gunst ihrer Stunde erkannt und Helmut Kohl, ihren langjährigen „Ziehvater“, weggeputscht. Ohne die Parteispendenaffäre wäre Merkel heute mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht Bundeskanzlerin dieses Landes. Auch dies gehört leider zur Wahrheit der bundesdeutschen Politik.
?Wieder ist eine Epoche unwiderruflich vorbei. Als einfacher Bürger dieses Staates verneige ich mich im Gedenken an einen großen Europäer. Helmut Kohl war kein Spalter, sondern ein Zusammenführer, der auf eine gleichberechtigte Partnerschaft innerhalb der EU setzte. Europa bräuchte ihn heute dringender denn je.“

Conrad Fink aus Freiberg a. N.:

„Neben dem Gerangel um die Besitzrechte an Helmut Kohl und seinem politischen Erbe zwischen Maike Kohl-Richter und den Söhnen des Exkanzlers geht ein noch nie dagewesener Ehrungs- und Nachrufwirbel durch unser Land. Im Vergleich dazu nahm in anderen Ländern, etwa in den USA vom Tod des Politikers kaum jemand Notiz. In unsicheren Zeiten sehnen sich viele Deutsche wieder nach einem Übervater und nach mächtigen Führern. Da kommt der Tod von Helmut Kohl gerade recht.
Die FAZ nannte Kohl etwa in ihrem Nachruf einen Pater patriae übersetzt: „Vater des Vaterlandes“. Das erinnert mich etwas an Atatürk – heißt übersetzt „Vater der Türken“. Im Umkehrschluss hieße Kohl dann Ata Alman „Vater der Deutschen“. Ich persönlich würde auf eine solche Vaterschaft gerne verzichten.
Zweifelsfrei war Helmut Kohl ein bedeutender Politiker und sicher ein bekennender Europäer. Er hat sich um EUROPA verdient gemacht. Aber das haben andere große Europäer auch. Denken wir an De Gaulle, Mitterrand, Giscard d’Estaing oder an andere deutsche Kanzler wie Konrad Adenauer, Helmut Schmidt oder Willy Brandt welche sich für den Frieden und den Ausgleich der Völker Europas einsetzten. Für den einen oder anderen wäre sicher auch eine Europäische Ehrung angebracht gewesen. Es kommt bei unseren französischen Nachbarn und anderen europäischen Staaten sicher nicht gut an, wenn hier wieder ein Deutscher über Gebühr hervor-und auf den Schild gehoben wird und das mit europäischen Steuermitteln.
Das Gerangel um die Deutungshoheit von Kohls Lebenswerk und eine angemessene Ehrung zwischen den verschiedenen Lagern (Witwe, Familie, Politikern, Medien, etc.) ist unsäglich. Man kann nur vermuten, dass hier verschiedene Interessen ihr Spielchen mit dem Toten spielen wie etwa die Witwe, die Politik (immerhin ist Wahlkampf), Jean-Claude Juncker (PR –Coup) oder der Verstorbene via Testament selbst.
Auf jeden Fall haben wir es mit einer überbordende Geschichtssymbolik zu tun, bei welchem nicht der Verstorbene im Mittelpunkt steht sondern der Kampf um den Nutzen, den man aus dem Leben des Politikers ziehen kann. Heraus kommt dabei wahrscheinlich nur Geschichtsklitterung.
Für mich steht fest, die Wiedervereinigung ist Kohl in den Schoß gefallen. Der Preis gehört m. E. Gobatschow. Von einem Erfolg würde ich nicht sprechen wenn ich an die immensen Kosten (Soli) oder an „Dunkeldeutschland“ denke. Auch die Machenschaften Kohls um den „Bimbes“ oder seine Liaisonen mit dem rechten Ultra und Undemokraten Orban werfen große Schatten auf den Verstorbenen.“

Sigurd Schmidt aus Bad Homburg:

FR-Autor Wilhelm von Sternburg ist anlässlich des Ablebens von Altkanzler Helmut Kohl eine sehr objektive Würdigung dieses zweifellos großen Staatsmannes gelungen. Dass Kohl ein Willensmensch war – dem Ausdruck Machtmensch haftet aufgrund genuin autoritärer Politiker leider ein „Geschmäckle an – steht außer Zweifel. Die Überhöhung der Figur von Helmut Kanzler als „Kanzler der Einheit“ ist insofern deutlich zu relativieren, als – wie von Sternburg ja auch heraus hebt – die Revolte in der seinerzeitigen DDR vom Volk auf den Straßen in Leipzig und anderen DDR-Städten entschieden wurde. Dass aber Kohl im November 1989 mit einem Memorandum – das er unabgestimmt mit den vier Alliierten gegen das Deutsche Reich 39-45 in die Welt setzte – die Courage hatte, den Wiedervereinigungsprozess anzustoßen, kann Kohls Verdienst an der Wiedervereinigung allerdings nur unterstreichen.
Ohne jeden Zweifel war Helmut Kohl ein großer Europäer. Ob er den Vertrag von Maastricht – wie von Sternburg schreibt – auch durch Fixierung einer gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik durchsetzte, muss angesichts des Zustandes der heutigen EU aber eher bezweifelt werden. Man kann andererseits aber Kohl nicht unbedingt anlasten, dass im Zuge der Wiedervereinigung die DDR-Wirtschaft ent-industrialisiert wurde. Im Kontext des 2-plus-4-Vertrages der Wiedervereinigung war nun einmal der Beitritt der DDR zur BRD nach Artikel 23 des GG gewählt worden, was implizit die sofortige Übernahme der gesamten bundesrepublikanischen Rechts- und Wirtschaftsordnung implizierte.“

Winfried Wingert aus Bad Nenndorf:

„Helmut Kohl – Kanzler der Einheit: Entzweit mit seiner Familie, entzweit mit seinen ehemaligen Weggefährten, entzweit mit seiner Partei, entzweit mit seinem Land. Helmut Kohl – Kanzler der Einheit?“

Dietmut Thilenius aus Bad Soden:

„Wem verdanke ich die Einheit? Geschichtlich waren die ersten Wegbahner die Danziger Werftarbeiter, die sich gegen sowjetische Diktatur auflehnten. Nachdem Polen sich wesentliche politische Rechte gewaltlos erkämpft hatten, bekamen die Ostdeutschen Mut, gegen ihre Diktatur in der Öffentlichkeit zu protestieren. Sie begannen in mehreren Kirchen, vor allem in Leipzig mit Pfarrer Führer, Friedensgebete zu halten, politische Wünsche auszusprechen. Kirchliche und Nichtkirchliche vereinten sich und lösten gewaltlos mit Kerzen und Gebeten die Revolution aus, die von Gorbatschow geduldet wurde. Die Mauer fiel durch das gewaltlos bleibende Volk. Ohne einen Schuss. Kohl wurde davon überrascht. Er brauchte nur noch für Unterschriften der anderen Politiker sorgen. Also bitte keine propagandistische Umwandlung der Einheitsgeschichte! Es waren ostdeutsche Bürger und Gorbatschow und nicht der Bundeskanzler aus Ludwigshafen, die die Einheit erwirkten. Öffentliche Plätze sollten nicht aus CDU-Partei-Politik umbenannt werden.“

Oliver Pokorny aus Frankfurt:

„Der Ehrenbürger Europas, Altkanzler Helmut Kohl, hat das Friedensprojekt Europa forciert wie kein anderer seiner Zeit. Eine Benennung des Rhein-Main-Airports nach ihm, ist ein sehr begrüßenswerter Vorschlag und eine ihm gebührende Ehrung. Die Europametropole Frankfurt am Main, in der Helmut Kohl einst studierte, hat ihm viel zu verdanken. Sein Verdienst ist es, dass die Europäische Zentralbank hier angesiedelt wurde. Frankfurts Stadtverordnetenversammlung würde gut daran tun, die Europaallee im Europaviertel nach ihm zu benennen. Entsprechende Anregungen, Straßen und Plätze nach Helmut Kohl zu benennen, liegen vor.
Welche Straße -respektive Allee- wäre dazu besser geeignet und könnte sonst den großen Leistungen europäischer Integration des verstorbenen Europapolitikers Helmut Kohl gerecht werden?“

 

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13 Kommentare zu “Helmut Kohl – Übervater und mächtiger Führer

  1. Ich weiß ja, dass nicht alles ganz ernst gemeint ist, was hier steht, aber trotzdem ….

    „Atmosphärisch erinnert dieses Wortungetüm, gemeint ist die „geistig-moralische Wende“, natürlich an die „Leitkultur“, die heute noch gern bemüht wird, wenn keiner weiß, wovon eigentlich die Rede ist, wenn man aber etwas braucht, was man gegen Ausländer, vor allem gegen Muslime, ins Feld führen kann.“ (Bronski)
    Hier tun Sie Bassam Tibi, von dem der Begriff Leitkultur stammt, bitter Unrecht. (Für die, denen dieser Name nichts sagt: Bassam Tibi ist selbst Muslim und der Erfinder und Apologet des „Euro-Islam“. Allerdings ist er, seit ihn die Wahrheit eingeholt und er sie ausgesprochen hat, bei einigen Journalisten relativ unbeliebt – wie einige andere Muslime auch, die medientechnisch nur überleben, weil sie im Minderheiten-Poker die besseren Karten zu haben.)

    In den Kohl-Mief hat das Wort Leitkultur erst Friedrich Merz gebracht.

    „Und viertens wollen wir nicht vergessen, dass durch Helmut Kohl der Begriff Ehrenwort rehabilitiert wurde.“ (Bronski)
    Nein. Es wurde, wie damals auch von Barschel, in angemessener Weise benutzt. Das Wort Ehre nehmen traditionell vor allem die in den Mund, die andere glauben machen wollen, sie hätten eine. Hochkonjunktur hatte es in patriarchalischen und weitgehend parasitären Sub-Gesellschaften wie dem Adel, abgeleitet davon dem Militär des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, oder in klar kriminellen Strukturen wie der „ehrenwerten Gesellschaft“. Hierzu passt auch die besondere Bedeutung des Begriffs Ehre im Nationalsozialismus. Und in einer Romantisierung von Rittern und Indianern gibt es die Ehre außerdem noch im Sandkasten bzw. bei Kinderspielen. Als ich Barschels berühmte Pressekonferenz am Bildschirm verfolgte, habe ich ihn spontan via Bildschirm angefleht, er möge sein Ehrenwort doch bitte zum großen Indianer-Ehrenwort erweitern. Er hat es dann aber leider nur wiederholt.

    Uns ist das Wort Ehre heute in der Verbindung Ehren-Mord geläufig.

    „Frankfurts Stadtverordnetenversammlung würde gut daran tun, die Europaallee im Europaviertel nach ihm zu benennen.“ (Oliver Pokorny)
    Eine nette Idee, aber Kohl wirklich gerecht würde sie nur, wenn man die Europaallee in Bimbesgasse umtaufte.

  2. Ich hatte ursprünglich vor, in der Blattkritik lobend zu erwähnen, dass die FR sich nicht wochenlang mit Lobhudeleien über Kohl ausgelassen hat, bis ich heute morgen über die Doppelseite erstaunt war.

    Geradezu peinlich in diesem Zusammenhang ist die Internetseite des SWR, auf der nunmehr seit Wochen tagtäglich an erster Stelle über Kohl geschrieben wird. Ein Kommentator meinte, er freue sich, wenn der 01.Juli vorbei wäre, aber er hatte sich getäuscht, die Lobhudeleien werden fortgesetzt, als wären drei Päpste gestorben.

    Dazu fällt mir eine Geschichte aus meiner Schulzeit ein: Vor 50 Jahren hat Kohl in seiner Eigenschaft als Fraktionsvors. im rheinland-pfälzischen Landtag das Städtchen Prüm in der Eifel besucht und u.a. sich am dortigen Gymnasium mit den Schülern und Lehrern diskutiert (meine Frage hat er nicht konkret beantwortet), danach hörte ich ein Gespräch zwischen zwei Lehrern, von denen der eine seinem Kollegen mit den Worten berichtete: „Es war Kohl.“

    Ist denn vergessen worden, wie er seinen Vorgänger Altmeier, seine Kritiker Geißler, Blüm oder Späth abgesägt hat? Zum Glück haben viele Leser hingewiesen, dass die Einheit ihm dank der Bevölkerung in der DDR, dank Gorbatschow und auch dank der Bemühungen von Brandt und Bahr in den Schoß gefallen ist und somit sein Beitrag zur Einheit nicht der Rede bedarf. Abgesehen davon hat er für die blühenden Landschaften die Rentenkasse veruntreut.

    Seine „geistig-moralische Erneuerung“ zu Beginn seiner Amtszeit, die ihm durch die Untreue der FDP zugefallen ist, war die Einleitung einer neoliberalen Politik mit Lohnkürzungen, Verschlechterungen des Arbeitsrechts etc. Von Bimbes ganz zu schweigen.

    Der Gerechtigkeit halber möchte ich als Positivum erwähnen, dass er den Kalten Krieg Merkels nicht mitgetragen, sondern sich weiter für eine Entspannungspolitik mit dem Osten eingesetzt hat.

  3. ach, peter boettel, es tut gut zu lesen, dass sie mir zuvorgekommen sind…abgesehen davon, dass ich das thema nicht so knapp und klar kommentiert haben koennte. danke?
    ich habe mich den alles ueberschwemmenden beitraegen in allen vermeintlich kritischen medien durch ausschalten entzogen…und dann (naiv) die arte-nachrichten angeschaut… iggiddigiddigidd…
    alle sind sie auf den saeuselzug aufgesprungen.

  4. Was haben Jaques Chiraque, Michail Gorbatschow, George Bush sen., Boris Jelzin, Václav Havel, Édouard Balladur, Margaret Thatcher, John Major, König Juan Carlos und Königin Sophia oder José María Aznar gemeinsam? Sie alle besuchten Speyer, waren Gast von Bundeskanzler Helmut Kohl. Er brachte sie alle in die Provinz, in eine Stadt mit damals rund 40.000 Einwohnern. Nach dem Dombesuch fuhr der Gastgeber mit dem jeweiligen Staatsoberen zum Essen in den 30 Kilometer entfernten Deidesheimer Hof, dem Stammrestaurant des Kanzlers. Dass er seinen Gästen immer wieder Saumagen servieren ließ, ist eine Geschichte, die sich selbst vervielfältigte, schließlich ist dieses Lokal seit vielen Jahren im Gault Millau, Michelin oder Aral-Schlemmer-Atlas immer wieder gelistet. Das pfälzische Alltagsgericht wurde, wenn es in diesem Restaurant auf den Tisch kam, in einer der Sterneküche entsprechender Zubereitung kulinarisch aufgewertet kredenzt. Danach ging’s oft zu Kaffee und von der Gattin selbstgebackenem Kuchen ins Privathaus Kohls nach Oggersheim. Das trifft die Pfälzer Vorstellung guten Daseins.

    Kohl lebte – von außen betrachtet – seine Provinzialität aus. Die einheimische Bevölkerung nahm das anders wahr. Für sie brachte er das Pfälzer Lebensgefühl, die damit verbundene Geselligkeit und Jovialität, zum Ausdruck. Kohl versteckte die vor Ort gelebte Mentalität nicht vor der großen Welt. Dass der Kanzler stets verspottet wurde (Rudolf Augstein 1984: „bräsig“, „tölpelhaft leichtfertig“, „trotziges Kind“, „pfälzische Selbstherrlichkeit“), steckte man als Pfälzer nicht immer leicht weg. Schließlich war es ihre Art zu reden und auch zu denken. Getröstet wurden die Einheimischen, wenn Kohl mit seiner Herkunft kokettierte, wenn er sagte, es mache ihm nichts aus, wegen seines Idioms verspottet zu werden. Dann neige man dazu, ihn zu unterschätzen. Das richtete so manchen sich verhöhnt Fühlenden wieder auf.

    Kohl schrieb in seiner Dissertation: „Die Pfalz beheimatet – soweit sich solche allgemeinen Feststellungen treffen lassen – einen fröhlichen und weltoffenen Menschenschlag, der viel Sinn für gesellschaftliches Zusammenleben und die Freuden der Zeit hat und dem dogmatischen Denken abgeneigt ist.“ Darauf einen Riesling aus’m Dubbeglas.

  5. @ Peter Boettel

    Dass Kohl seinen Vorgänger Altmeier „abgesägt“ hat, war wohl ein normaler politischer Vorgang. Er soll nämlich als junger Politiker – ich selbst habe das als Hessin damals nicht so hautnah mitbekommen – ein aufmüpfiger, für CDU-Verhältnisse fortschrittlicher Reformer gewesen sein. Altmeier war damals schon sehr alt, und wenn Kohl ihn abgelöste hat, ist das per se ja noch nichts Negatives. Dass er später seinerseits auf den konservativen Weg eingeschwenkt ist, steht auf einem anderen Blatt.

  6. @ Rudi:

    Ich erinnere mich, dass Kohls Doktorarbeit von Interessierten – gegen Widerstand – aufgefunden und untersucht wurde. Es soll ein besserer Schulaufsatz gewesen sein, mehr nicht.

  7. Vorweg: mein Bild von Helmut Kohl stammt natürlich aus den Medien und ist vielleicht falsch.
    Ich hatte bei Helmut Kohl, der ja aus kleinen Verhältnissen kam, immer das Gefühl, dass er zu den ganz «Großen» gehören wollte. Das war das Ziel seines Lebensplans, das er auch erreicht hat, aber zu welchem Preis? Wenn er unter den Regierungschefs war, wirkte er glücklich. Für dieses Ziel musste alles zurückstehen, auch die Familie. Kritik kam für ihn nur von Leuten, die ihm seinen wohlverdienten Erfolg nicht gönnten und waren damit keine Gegner, sondern Feinde.
    Ein Mensch, der noch im Angesicht des Todes, statt sich seiner Enkelkinder zu erfreuen, seine Gegner mit Schadensersatzforderungen zu ruinieren versucht, kann kein glücklicher Mensch gewesen sein.
    Verehrung kann ich für ihn nicht empfinden, nur Mitleid.

  8. Wer mir leid tut, ist Hannelore Kohl. Ich habe ihre Biografie gelesen, weil mich die möglichen Hintergründe ihres Selbstmords interessierten. Ihr Mann hat als Ehemann und Vater wohl völlig versagt, und sie musste ihr gesamtes Leben total auf ihn einstellen. Selbst wenn er zu Hause bei seiner Familie war, soll er sich in sein Arbeitszimmer verzogen haben und weder für seine Frau noch für die Kinder zu sprechen gewesen sein. Die Fotos der heilen Familie aus dem Urlaub in Österreich wurden nur aus PR-Gründen angefertigt und zeigten ein völlig verfälschtes Bild von einer heilen Familie, die nie existierte.
    Hannelore Kohl gehörte einer Generation an, in der eine Ehescheidung als Schande angesehen wurde. Das war wohl der Grund dafür, dass sie es nicht geschafft hat, sich von diesem Egozentriker von Mann zu trennen.
    Man kann vermuten, dass ihre Lichtallergie auch psychosomatische Gründe hatte, aber, wie das zu ihrer Zeit üblich war, hat sie sich gegen eine Psychotherapie gesträubt. Und Gatte Helmut hat sie zum Schluss im wahrsten Sinne des Wortes allein im Dunkeln sitzen lassen.
    Ich vermute, in seiner Egozentrik hat er ihren Selbstmord als Affront aufgefasst, weil er sich schädlich auf seinen Nachruhm ausgewirkt hat.

    Das sind tatsächlich arme Menschen, auf deren Macht und Platz in den Geschichtsbüchern ich gerne verzichte.

  9. @ Bronski:
    „Ich muss zugeben, dass ich selbst doch ziemlich erstaunt darüber bin, wie viel Gutes, angenehm Berichtenswertes ich über diesen Mann zu schreiben finde, wenn ich mich nur richtig anstrenge.“

    Es gehört wohl zu den Paradoxen, dass Instinktpolitiker, die menschlich ziemlich unausstehlich sind, bisweilen auch mal was Gutes bewirken. Wobei damit nicht bewiesen ist, dass ein anderer als Kohl nicht auch die Chance der Einheit („Wiederveinigung“ trifft ja nicht zu) ergriffen hätte – z.B. Helmut Schmidt.
    Im Übrigen stimme ich, was die „geistig-moralische Wende“ und das „Ehrenwort“ betrifft, voll mit Frank Wohlgemuth (3. Juli 2017 ,12:16) überein.

  10. Mit konstruktiven Misstrauensvotum 1982 an die Macht gekommen, nachdem Kohl Franz Josef Strauß die Kanzlerkandidatur gegen Helmut Schmidt überlassen hatte. So waren später Beide durch Kohl ausgebootet, sowohl Strauß als auch Schmidt.
    Danach kam der Mauerfall zu einer günstigen Zeit, denn die Wiederwahl gesamtdeutsch war 1990 keineswegs sicher.Dabei wurde sich auch unsauberer Mittel bedient, um die Wiederwahl gesamtdeutsch nicht zu gefährden. In den letzten Regierungsjahren während der Balkankrise, dem Bürgerkrieg in Jugoslawien, streikten die hochgelobten Instinkte von Kohl.Nach seiner Abwahl zeigte er sich ebenfalls wieder nicht staatsmännisch, eher sehr nachtragend gegen seine Partei und seine Kritiker.

  11. @ Srefan Vollmershausen

    Solange die Gesetze die Möglichkeit des Regierungswechsels durch konstruktives Misstrauensvotum zulassen, ist dies ein legales und legitimes Vorgehen, das man Kohl nicht zum Vorwurf machen sollte.
    Kohls Umgang mit dem „Bimbes“ dagegen verstieß gegen Gesetze und muss verurteilt werden.

  12. Wenn der Kanzlerberater Horst Teltschik sich an die Rolle seines Chefs bei der deutschen Vereinigung erinnert, steht ihm eine Dampfwalze vor Augen: er walzte die räteähnlichen Bewegungen zahlloser den Wandel wollender DDR-Bürger nieder, auch gegen die Resolution „Es ist Zeit für eine grundlegende Kritik des Kapitalismus“ der theologischen Fakultät der Universität Tübingens. Gegen klare Mehrheiten in Ost und West für ein maßvolles Tempo der Einigung im Rahmen Europas mit einer „allmählichen Konvertierbarkeit ihrer Währungen“ (Bundesbankpräsident Pöhl) finanzierte er die Kosten der Einheit lieber durch Belastung der Sozialsysteme und der kommenden Generationen. Die Tendenz westlicher Unternehmen, Betriebe in der DDR plattzumachen, konterte er nicht. Aus dieser Demütigung und aus der Überforderung der DDR-Unternehmen mit internationaler Konkurrenz infolge der Währungsumstellung mit dem Kurs eine D-Mark für zwei DDR-Mark entspross der „neue Nationalismus der Deklassierten“, also Pegida und AfD, wie er von namhaften Wirtschaftswissenschaftlern aus beiden Staaten in ihrem „Warnruf der ökonomischen Vernunft“ vom Februar 1990 vorausgesagt wurde.

    Auch im Euro-Raum stiftete Kohl mit seinem Primat der Politik vor der Wirtschaft Unheil, kümmerte sich nicht um den Gleichschritt der Lohnstückkosten, also der Wettbewerbsfähigkeit, sondern legte das Fundament für die arrogante Zuchtmeister-Politik deutscher Leistungsbilanzüberschüsse und der Überschuldung Südeuropas. Kohl ist einer der Hauptverantwortlichen für die heutige Bedrohung der Europäischen Union.

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