Es ist vielleicht noch zu früh, von einer Krise der Demokratie in Europa zu sprechen, aber die Vorgänge in Polen machen misstrauisch. Wir erleben ein Déjà-Vu: Nach Ungarn wurde nun auch in Polen eine Instanz ausgehebelt, das Verfassungsgericht, die für das Funktionieren einer rechtsstaatlichen Ordnung unabdingbar ist. Diese rechtsstaatliche Ordnung ist die Voraussetzung für das Funktionieren von Demokratie schlechthin. Eine handlungsfähige Justiz muss in der Lage sein, Regierungen in ihre Schranken zu verweisen. Man mag ja über den Zustand der Demokratie in Deutschland klagen — aber hier wäre ein Vorgang wie der, der kürzlich in Polen das Verfassungsgericht entmachtete, zweifellos undenkbar. Das deutsche Verfassungsgericht ist vorbildlich darin, die Politik in ihre Schranken zu verweisen.
Was ist geschehen? Das polnische Parlament, der Sejm, verabschiedete mit der absoluten Mehrheit der „Partei für Gerechtigkeit“ (PiS) ein Gesetz, das dem polnischen Verfassungsgericht vor allem zwei Punkte vorschreibt:
- Urteile müssen mit Zweidrittelmehrheit der Richter gefällt werden
- 13 von 15 Richtern müssen beteiligt sein
- Es entfällt ein Paragraf über die Unabhängigkeit des Gerichts
Ein wunderbares Beispiel dafür, dass absolute Mehrheiten schädlich sind, insbesondere in Händen von Leuten wie Victor Orban (Ungarn) oder Jaroslav Kazcinsky von der PiS, der mehr oder weniger grauen Eminenz hinter der polnischen Ministerpräsidentin Szydlo. Da die PiS bereits mehrere Parteigänger unter den Richtern des Verfassungsgerichts hat, ist sie nun in der Lage, Verfahren zu verschleppen. Damit kann sie Urteile verhindern, die ihr möglicherweise zuwiderlaufen. Als nächstes, darf man vermuten, werden die Medien dran sein, und womöglich haben wir bald eine Art Ungarn hoch zwei in der Europäischen Union; immerhin ist Polen ein Schwergewicht in der EU, im Gegensatz zu Ungarn, was, wie man mutmaßen könnte, auch der Grund dafür gewesen sein dürfte, dass die EU nicht entschieden genug auf Orbans Exzesse reagiert hat: Ungarn ist ein kleines Land, ein Leichtgewicht. Polen nicht. Und wer ist als nächstes dran, von nationalistischen Kräften übernommen zu werden? Dänemark? Schon passiert. Die Niederlande? Dicht davor.
In Polen regt sich Widerstand in der Zivilgesellschaft. Aber wir sollten unseren Blick vielleicht doch auch auf die Ursachen dieser Entwicklung richten. Gerade hier im FR-Blog wurde immer wieder — meist eher pauschal — ein Zusammenhang zwischen einer neoliberalen Politik auf Kosten der Armen und dem Erstarken rechtskonservativer und nationalistischer Kräfte behauptet. Eine neoliberale Politik auf Kosten der Armen ist genau das, was die in Polen abgewählte Partei PO betrieben hat. Das Pendel scheint zurückzuschlagen. Davon berichtet Artur Becker in seinem Artikel „Der durchsichtige Populismus der PiS„. In einer Demokratie hat eben auch jeder arme Mensch eine Stimme, die genauso viel wert ist wie die eines reichen Menschen, und dieser arme Mensch könnte versucht sein, seine Stimme beim nächsten Mal einer Partei zu schenken, die ihm das Blaue vom Himmel verspricht.
Es ist unbestreitbar, dass die vorige polnische PO-Regierung für eine Vielzahl von Menschen keine Verbesserungen bewirkt hat. Insofern sollte das polnische Beispiel auch für Deutschland eine Mahnung sein. Das Funktionieren der Demokratie ist auch, aber nicht nur vom Funktionieren der Institutionen abhängig. Mehr noch ist es davon abhängig, dass die Regierenden jenen Interessenausgleich hinbekommen, den man ein wenig verkürzt auch als Gemeinwohl bezeichnen könnte. In Deutschland war das lange „common sense“, doch dieser Konsens wurde in den Achtzigerjahren durch das Lambsdorff-Papier aufgekündigt. Am Beispiel Polen zeigt sich, wie der Neoliberalismus die Demokratie gefährdet.
Christian Karsten aus Andernach meint zur FR-Berichterstattung über die Entwicklung in Polen:
„Die Überschrift „Die Polen wachen auf“ bedarf einer Korrektur. Die Polen wachen nicht auf, sie waren immer schon hellwach. Von ihnen ging die Abschaffung des Kommunismus aus, und sie wählten eine extrem neoliberale Regierung ab, die dem einfachen Bürger nur geschadet hat. Die Bezeichnung rechtsnational für die PiS ist unkorrekt, als sozial ausgerichtete Partei wird sie eine linkere Politik betreiben als die PO. Mit der kostenlosen Abgabe von Medikamenten an Rentner ist schon ein Anfang gemacht, schade, dass Sie darüber nicht berichtet haben. Interessant ist das Ergebnis einer aktuellen Meinungsumfrage, die die PO nur noch bei 17 und die PiS bei 42 Prozent sieht.
Die Aufregung von Herrn Asselborn wäre leichter nachzuvollziehen, hätte er sich vorher ebenso erregt, als die abgewählte Regierung ihre Gefolgsleute im Verfassungsgericht, den Medien und der Exekutive unterbrachte. Angesichts einer nicht wegzudiskutierenden Neigung einiger PiS-Politiker zu schrillen Tönen stimme ich mit Herrn Asselborn überein, dass man sehr genau auf Übertreibungen achten muss.
Um die Glaubwürdigkeit der EU ist es zurzeit nicht gut bestellt. Europäischen Regierungen autokratische Tendenzen vorzuwerfen und andrerseits dem Autokraten Erdogan den roten Teppich auszurollen, damit er uns die Flüchtlinge vom Halse hält, passt nicht zusammen. Hier muss man dem EU-Ratspräsidenten und PO-Mitglied Tusk danken, dass er dieses Vorgehen kritisiert hat.“
Jürgen Malyssek aus Wiesbaden:
„Die Analyse von Artur Becker zum Zustand der polnischen Gesellschaft, sehr deutlich mit der wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Spaltung der Bevölkerung aufgezeigt, hat mir sehr geholfen, diesen für mich überraschend schnellen Aufstieg der nationalkonservativen PiS-Partei besser zu verstehen. Hatte ich zeitweise während der letzten Regierungszeit von Donald Tusk (Bürgerplattform) den Eindruck, dass Polen sowohl wirtschaftlich als auch in seiner pro-europäisch und liberal rüberkommenden Haltung, zum leuchtenden Vorbild für eine gelingende Integration des Ostens Europas mit dem Westen werden könnte. Dieses Gesamtbild ist jetzt gehörig getrübt. Enttäuschend auch zu erfahren, wie „hoch der Preis der Bürgerplattform in den acht Jahren ihrer Regierung für die imposante europäische Karriere von Donald Tusk“ (Becker) war und ist. Dass diese fortschrittlich daherkommende Politik (wieder einmal) auf dem Rücken der sozial schwachen Schichten ausgetragen wurde, sie also zu einer fortschreitenden Verarmung auf der „grünen Insel“ geführt hat. Das hat beim Lesen der herkömmlichen Presse so nicht erkennen konnte. Demnach muss man noch nicht einmal Jaroslaw Kaczynski als den großen Bösewicht für das aktuelle polnische Desaster attackieren. Haben Tusk und seine Gefolgschaft bis dato mehr Schaden im Land angerichtet als man es vielleicht bisher vermutet hatte. Ich bin jedenfalls auf diesen Mann hereingefallen, der mit seiner Arroganz der Macht und der Vorspiegelung einer wiederaufgebauten Liberalität im Lande, den Boden bereitet hat, für das, was wir zurzeit an Negativ-Schlagzeilen aus unserem östlichen Nachbarstaat hören und lesen können. Vielen Dank, Artur Becker, für die aktuellen zeitnahen Einsichten!“
Christian Schauer aus Alzenau:
„Rechtsradikale Sprüche von führenden Politikern nationalkonservativer Provenienz vergiften nicht nur in Polen, sondern auch in Ungarn das Klima.. Mit der pauschalen Ablehnung von Flüchtlingen gewinnt man heute schon Wahlen in Europa. So meinte der Chef der polnischen Nationalkonservativen Jaroslaw Kaczynski Mitte Oktober 2015 auf einer Wahlveranstaltung zum Thema Migration: „Cholera auf den griechischen Inseln, Ruhr in Wien, alle Arten von Parasiten und Bakterien, die in den Organismen dieser Menschen harmlos sind, können hier gefährlich werden“. Es ist skandalös, dass eine Partei „Recht und Gerechtigkeit“ eine Wahl gewinnt, die sich weigert, bei einer Bevölkerungszahl von etwa 38,5 Millionen 7.000 Flüchtlinge aufzunehmen. Auf diese lächerlich geringe Zahl ließ sich die Vorgängerregierung zumindest ein.
Den würdigen Abschluss bietet der ungarische Ministerpräsident Ende November „Natürlich gibt man es nicht gerne zu, aber es ist eine Tatsache, dass alle Terroristen letztlich Migranten sind“, sagt Viktor Orbán. „Die Frage ist nur, wann sie in die Europäische Union eingewandert sind.“
In Ungarn gab es eine rechtsradikale Partei mit dem Namen „Die Pfeilkreuzler“, die massiv in den Holocaust verwickelt war und vom Oktober 1944 bis zum Weltkriegsende 1945 die ungarische Politik bestimmte. Führer war Ferenc Szálasi. Folgende Ungarn waren prominente Mitglieder dieser Partei: Károly Beregfy, Verteidigungsminister dieses Regimes, Gábor Vajna, Innenminister und József Gera war ein Vertrauter des Ministerpräsidenten Szálasi. Alle diese Faschisten waren Ungarn Herr Orbán! Aber nicht alle Ungarn sind Faschisten!
Der völkische Nationalismus mit seinen grobschlächtigen Ressentiments ist auf dem Vormarsch. Es wird Zeit, ihn zu stoppen.“
Hallo Bronski,
können Sie bitte den Wortlaut des entfallenen Paragraphs wiedergeben.
Er würde mich sehr interessieren!
Hallo Frau Wolf,
für diese Recherche habe ich momentan keine Zeit. Zudem kann ich kein Polnisch. Ich muss Sie bitten, den Wortlaut selbst zu recherchieren.
Beste Grüße, Bronski
Polen scheint vom Regen in die Traufe geraten zu sein. Die von Donald Tusk und seiner „Bürgerplattform“ geführten Regierungen waren neoliberal im negativsten Sinn des Begriffs. Der Arbeitsmarkt ist seither geprägt von befristeten Arbeitsverträgen, Teilzeitbeschäftigung, Leiharbeit und Scheinselbstständigkeit. Die jeweiligen Quoten liegen deutlich über dem EU-Durchschnitt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen besteht lediglich ein minimaler Kündigungsschutz. Der größte Teil der polnischen Arbeitnehmer ist in Betrieben tätig, die nicht an Tarifverträge gebunden sind. Lediglich in Staatsbetrieben sieht das anders aus; allerdings wurden viele davon in der Tusk-Ära privatisiert. All das führte in kaum mehr als einem Jahrzehnt zu einer Spaltung der Gesellschaft.
Vor diesem Hintergrund ist der Wahlerfolg von PIS ein verständlicher Linksrutsch. Allerdings wird Links-sein in Polen, bedingt durch den aufgezwungenen Sowjet-Kommunismus nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht als Summe von Emanzipation, säkularem Staatsverständnis, umfassender sozialer Gerechtigkeit und bürgerlicher Freiheit definiert. Die polnische Alternative sowohl zum neoliberalen Kapitalismus als auch zum demokratischen Sozialismus heißt dogmatischer Katholizismus plus Nationalismus. Davon zeugen die Maßnahmen der PIS-Regierung, die mit totalitärer Intensität, aber formal legal, durchgepeitscht werden: Beschneidung der richterlichen Gewalt und Änderungen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Unterhalb der Gesetzesebene werden den traditionellen katholischen und faschistischen Vorurteilen sämtliche Wege geebnet.
Polen scheint verloren, obwohl in der Nationalhymne inbrünstig das Gegenteil beteuert wird. Denn Polen ist dabei, seine noch junge Demokratie zu verlieren. Allerdings könnte dieser Trend abrupt gestoppt werden. Die Europäische Union könnte sich an die Seite der demokratischen und antikapitalistischen Opposition stellen und dem Blindflug nach Rückwärts ein Ende bereiten. Nämlich den mit Polen vereinbarten Finanzrahmen für die Jahre 2014 bis 2020 über mindestens 72 Milliarden Euro Fördergelder (mutmaßlich würden es schließlich über 100 Milliarden sein) mit sofortiger Wirkung zu annullieren.
Hingegen wird die Androhung einer Beaufsichtigung des Landes durch ein EU-Gremium, was theoretisch zu einer Beschneidung der Abstimmungsrechte führen könnte, keinen Erfolg bringen.
Der Seite
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kann entnommen werden, dass das von der PiS dominierte Parlament eine Gesetzesänderung beschlossen, die die gerade erst erfolgte Bestellung von fünf Verfassungsrichtern für ungültig erklärt und der Regierungspartei die Möglichkeit gibt, die Stellen neu zu besetzen.
Leider erfährt man nichts darüber, ob die Bestellung der fünf Verfassungsrichter auch im Eiltempo beschlossen wurde, um vor der Wahl noch die Weichen nach eigenem Gusto zu stellen.
Im Oktober wurde der Darsteller der Kunstfigur Dr. Alfons Proebstl enttarnt. Daraufhin wurde seine Frau von einem TV-Sender entlassen (Sippenhaft (?)).
Nicolaus Fest verließ „auf eigenen Wunsch“ die Bildzeitung.
Gerhard Wisnewski muss sich für sein aktuelles Jahrbuch „verheimlicht – vertuscht – vergessen 2016“ einen neuen Verlag suchen (die SPD forderte den Kopp-Verlag auf, sich von Wisnewski zu distanzieren).
Friedhelm Nonte lud im Oktober 2015 zum öffentlichen Schreddern der Bücher von Akif Pirinçci ein, er sagte die Scheiterhaufenaktion jedoch noch ab.
Die Buchgroßhändler KNV, Umbreit und Libri sowie die Einzelhändler Amazon, Mayersche Buchhandlung und Thalia nahmen alle Titel Pirinçcis (auch die unpolitischen, hochgelobten Katzenkrimis) aus dem Programm (siehe in Wikipedia).
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Man komme mir nicht mit der Graugans (äh, der vielgepriesenen Meinungsfreiheit in Deutschland), während man sich über polnische Verhältnisse mokiert.
@ Klaus Philipp Mertens, #3
Das mit der Kategorisierung „links“ für die PiS verstehe ich nicht, doch dem anderen stimme ich zu.
Auch, wenn das mit dem Neoliberalismus einer Regierung Tusk richtig ist: Was die PiS jetzt macht, liegt auf einer völlig anderen Ebene und ist dadurch nicht gerechtfertigt. Das Bild, das der neue polnische Außenminister – nach zwei unbeantworteten Anfragen aus Brüssel – gebraucht hat, spricht Bände über den geistigen Hintergrund dieser Regierung: Er sei ja nur darum gegangen, eine „Krankheit“ zu beseitigen. Unabhängige Medien als „Krankheit“! Wie groß ist da der Schritt, dieses Bild auf unabhängige Journalisten anzuwenden? Mit ähnlicher Begründung sind bekanntlich schon Menschen in Psychiatrien verschwunden oder liquidiert worden.
Entscheidend – auch da stimme ich zu – dürfte wohl sein, wie die EU reagiert.
Klar dürfte inzwischen sein, dass es „EU-Kritikern“ dieser Couleur um etwas ganz anderes geht als um Duschköpfe. Und ebenso klar ist, was vom Nationalismus, der durch Europa wabert, zu erwarten ist: Mit Sicherheit nicht eine Rückkehr zu friedlichem Nebeneinander in einer prosperierenden Wirtschaftsunion. Die sich rasant entwickelnde Fremdenfeindlichkeit dürfte hier nur einen kleinen Vorgeschmack geben.
Ich meine auch, dass sicherzustellen ist, dass EU-Fördertöpfe ohne Respektierung der Wertegemeinschaft und entsprechende Partizipation nicht zu haben sind. Der Fall der EU-Reaktion auf die Regierungsbeteiligung Haider/FPÖ in Österreich ist mit Ungarn und Polen nicht vergleichbar. Damals waren noch keine Maßnahmen zum Demokratieabbau ergriffen worden.
Darüberhinaus erscheint mir ein Mechanismus notwendig, der bei dauerhaftem Verstoß gegen demokratische Prinzipien auch den Ausschluss von Ländern ermöglicht. Etwa so, dass, wenn die Unvereinbarkeit von gesetzgebereischen Beschlüssen mit essentiellen Werten der EU vom EuGH festgestellt wird, die Bestätigung dieser Verstöße bei den darauf folgenden Wahlen mit dem Ausschluss aus der EU verbunden ist.
@ deutscher Michel, #5
Bitte bleiben Sie beim Thema: Polen im europäischen Kontext.
Ja, Polen hat seine Hausaufgaben gemacht. Das ist eine Aussage unserer geschätzten und allseits beliebten Frau Kanzlerin. Griechenland wurde gerade ebenso „vergewaltigt“. Man nehme Ertrag bringende Flughäfen weg, und belasse die die Verluste bringen, usw. Doch noch einmal zurück was Polen betrifft. Dort wurden nur wenige sehr reich, während der Großteil der Bevölkerung diesen neuen Reichtum zu bezahlen hat. Und die PiS hat da eben die richtigen Versprechungen gemacht. Inwieweit sie diese einhalten kann/will das wird sich mit der Zeit zeigen.
@Werner Engelmann:
Um was geht es denn – Ihrer Meinung nach – den EU-Kritikern einer gewissen (welcher (?)) Couleur?