Der neue russische Nationalismus unter Putin ist eigentlich ein ziemlich alter. Es gab ihn so ähnlich schon im Zarenreich und ist ohne die russisch-orthodoxe Kirche nicht denkbar. Die Religion wirkt identitätsstiftend. Dieses Prinzip der Harmonie von Kirche und Staat wird Symphonia genannt. Der Streit, der innerhalb der Orthodoxie ausgebrochen ist, wirkt daher leicht anachronistisch. Es geht um Macht. Patriarch Bartholomaios I. von Konstantinopel, die höchste Autorität der Weltorthodoxie, hat Bestrebungen aus Kiew nachgegeben, die ukrainische aus der russischen Orthodoxie herauszulösen. Das Moskauer Patriarchat unter Kyrill reagiert scharf auf die Versuche, das Kiewer Patriarchat unabhängig zu machen. Diese Bestrebungen werden von der ukrainischen Regierung unterstützt. Es gibt sie seit 1992. „Der Krieg gegen die von Russland unterstützten Rebellen in der Ostukraine seit 2014 brachte viele Rechtgläubige gegen Russland auf“, schreibt FR-Korrespondent Stefan Scholl in seinem Bericht „Kampf um das Rom des Ostens„. Allein zwischen 2015 und 2016 seien bis zu 70 Gemeinden zum Kiewer Patriarchat gewechselt.
Zu diesem Thema erreichte mich der folgende Leserbrief von Torsten Waschke aus Sulzbach, der im Print-Leserforum nur in einer stark gekürzten Version Platz finden konnte. Hier kommt die vollständige Fassung.
Die neue russische Ordnung
Von Torsten Waschke
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Putin verherrlicht die Rolle der Orthodoxie seit seiner nationalkonservativen Wende 2012. Nie war die Instrumentalisierung der christlichen Orthodoxie für die geopolitische Ideologisierung Russlands so stark gewesen. Er interpretiert die Religion im Sinne einer spezifischen nationalen Identität.
Aktuell wird eine strategische Allianz in einem säkularen Land vorangetrieben, dessen Verfassung eigentlich eine formale Trennung zwischen Kirche und Staat vorsieht. Kreml und Kirche sind innigst nach byzantinischen Ideal zu einer Symphonie, der harmonischen Zusammenarbeit von Staat und Kirche, verwachsen. Der Kreml schätzt die Symbiose von Thron und Altar, die zuletzt nur im Zarenreich existierte. Die vielfach beschworene Konstruktion einer moralisch überlegenen Identität Russlands als Verteidiger traditioneller Werte, die auch Patriarch Kyrill I. zu beschwören nicht müde wird, manifestieren einen engen Schulterschluss zwischen dem russischen Staat und der Russisch Orthodoxen Kirche (ROK).
Die ROK ist ein wesentlicher Bestandteil der neuen russischen Ordnung, weil sie einige der tiefsten Überzeugungen des russischen Sonderweg zum Ausdruck bringt. Die patriarchalen Strukturen des Staates und seine Suche nach einer stabilen Identität im Bewusstsein der „Gefahren“ gegenwärtiger Revolutionen ergänzen sich mit den grundsätzlich bewahrenden und wertkonservativen Prinzipien der Kirche. „Ohne die Verbindung der geschichtlichen und religiösen Erfahrungen gibt es für uns in Russland keine nationale Identität. Die Einheit der Kirche hilft uns“, fasst Putin sein Credo zusammen.
Die Stärkung der russisch-orthodoxen Religion dient dazu, das russische Volk von Kaliningrad bis Kamtschatka zu vereinen und bei den Menschen jeglicher politischer Couleur ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen. Das Bild eines Russlands ist untrennbar verbunden mit der Orthodoxie, weil nichts das russische Identifikations- und Zusammengehörigkeitsgefühl stärker verkörpert. Das gemeinsame Dogma lautet: Die Einheit des Volkes, die ideologische Homogenisierung und Mobilisierung der Gesellschaft bzw. eine klare Trennung zwischen „Uns“ und den „Anderen“ ist die Voraussetzung beim „Abwehrkampf“ des „importierten“ liberalen Gedankenguts. Über die eigene Tradition die eigene Identität stärken, indem die Kirche als Teil der russischen Gesellschaft im kollektiven Gedächtnis wiederbelebt wird, dass ist Wladimir Putins geopolitisches Rezept. Im Ukas von 2009 „Über die nationale Sicherheitsstrategie der Russländischen Föderation bis zum Jahr 2020“ wird der „Aufbau eines Systems geistiger und patriotischer Erziehung der Bürger Russlands“ betont, um die nationale Sicherheit „in der Sphäre der Kultur“ zu gewährleisten.
Die in der Innenpolitik zur Herrschaftssicherung angewandten Mittel werden ebenfalls auf die Außenpolitik übertragen. Die ROK ist ein mächtiger und verlässlicher Grundpfeiler für Putins expansive Geopolitik im „Nahen“ und „Fernen Ausland“. Die geopolitische Doktrin der „Russischen Welt“ besagt im allgemeinen, dass es eine spezifisch große russische Zivilisation gebe. Die Rolle der Kirche als wichtiges Spezifikum der „Russischen Welt“ ist die Propagierung eines gemeinsamen sakralen Raums oder im engeren Sinne eines Raums russischer Orthodoxie. Die russisch-orthodoxe Kirche tritt als verlängerte Ideologie-Abteilung dieser entgrenzten Idee des Kremls auf und insistiert auf besondere Rechte für alle „Landsleute“, die sich geistig, kulturell und letztlich auch politisch als Teil mit Russland verbunden sehen.
Dieses Argument wird herangezogen, um mit einer gewissen paternalistischen Selbstverständlichkeit die geopolitische Einflusszone Russlands im postsowjetischen Raum und darüber hinaus zu legitimieren. Die religiös-spirituelle Identität der russischen Zivilisation wird als das konstitutive Merkmal verstanden. Fakt ist aber, dass der Symphonie im 21. Jahrhundert jede Glaubwürdigkeit fehlt. Die Deklarierung christlicher Werte stehen in einer offenkundigen Anomalie zur Alltagsrealität der russischen Bürger und Bürgerinnen bzw. führt die aggressive Außenpolitik Putins in der Ukraine der ROK ihr existentielles Dilemma vor Augen.