Mehr Zeit, mehr Geld, mobile Expertenteams für kleine Krankenhäuser: Um zu mehr lebensrettenden Organspenden in Deutschland zu kommen, sollen Kliniken dafür künftig bessere Bedingungen erhalten. Der Bundestag hat ein entsprechendes Gesetz beschlossen. Das reicht noch nicht, kommentierte die FR (Kommentar online nicht erhältlich, daher hier als pdf-Dokument), und plädierte für die Einführung der Widerspruchslösung, um die Zahl der Organspenden zu erhöhen. Dazu hat der Chirurg und Chefarzt im Ruhestand Peter Oldorf aus Neu-Anspach eine andere Meinung. Sein Leserbrief konnte im Print-Leserforum nur gekürzt erscheinen. Hier kommt die komplette Version.
Wann darf man sterben?
Von Peter Oldorf
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Im Bundestag wird derzeit über die Ablösung der bisher geltenden Zustimmungsregelung durch Einführung einer Widerspruchsregelung wie in vielen anderen europäischen Ländern diskutiert. Bei der Widerspruchslösung gilt automatisch jeder Bürger ab 18 Jahren als Organspender, es sei denn er widerspricht schriftlich, oder seine Angehörigen tun dies. Hintergrund ist die im Vergleich zu anderen Ländern geringe Anzahl von Organspenden, sowie die hohe Anzahl von Patienten die ein Organ benötigen und auf der Warteliste stehen.
In der auch medial sehr stark geführten Debatte steht oft auch die Klage über die mangelnde Organspendebereitschaft der Bürger in Deutschland im Vordergrund. Dies darf allerdings bezweifelt werden, da es mittlerweile erwiesen ist, dass die notwendigen Strukturen und finanziellen Rahmenbedingungen in den Kliniken die über ihre Transplantationsbeauftragten potentielle Organspender melden sollen, mangelhaft sind und hier der Hauptgrund für das Problem zu suchen ist. Aus vielen Gesprächen mit Bürgern lässt sich immer wieder heraushören, dass trotz des Organspendeskandals in den Jahren 2012/2013 die Bereitschaft zur Organspende gar nicht so gering ist! Auch hat die aktuelle Diskussion um das Thema bereits zu einem erstmaligen deutlichen Wiederanstieg der Organspenden im Jahr 2018 geführt. Die Politik hat die Problematik im Bereich der Kliniken auch erkannt und so gibt es ebenfalls weitere gesetzliche Verbesserungen zur Organisation und finanziellen Vergütung der Organspenden, sowie vor allem auch zur besseren Betreuung und Information der Angehörigen von Organspendern.
Aus ethischer Betrachtung ist das Thema Organspende sehr ambivalent zu betrachten. Medizin-technisch gesehen nähern wir uns dem Homo reparandus, bei dem letztlich alles ersetz- oder austauschbar ist. Verunglückte, suizidale, oder sonstige Hirntodpatienten nach Schlaganfällen, Hirnblutungen, etc. werden zum recyclebaren Biomüll erklärt. Dabei ist die Hirntoddefinition als Voraussetzung zur Organspende bioethisch ebenfalls sehr umstritten und im Prinzip nicht haltbar. Oft ertönt der politische und mediale Hinweis „man solle gefälligst spenden“. Wo bleibt da die Würde des Menschen, die angeblich unantastbar sei, oder die vielbeschworene Patientenautonomie?
Verschwiegen wird in den Hochglanzbroschüren und Webseiten der Deutschen Stiftung Organspende auch, dass keineswegs alles immer so erfolgreich abläuft wie von allen Fürsprechern, sowie den Transplantationszentren behauptet. Das Operationsrisiko und die Folgen der fast immer notwendigen Immunsuppression (vermehrte Infektanfälligkeit bis hin zu einem deutlich erhöhten Krebsrisiko) werden praktisch nie thematisiert. Die psychischen Probleme von herztransplantierten oder anderen Patienten nach Empfang eines fremden Organs finden keine Erwähnung. Auch wenn in einigen Fällen bis zu 20 Jahre oder mehr Überlebenszeit nach der Transplantation möglich sind, ist es doch oft so, dass bereits nach einem Jahr schon eine Funktionseinbuße von 10 bis 20 Prozent des Spenderorgans vorliegt und ggf. Zweit- und Drittspenden notwendig werden. Von den immensen gesundheitspolitischen Kosten und den finanziellen Interessen sei hier ganz abgesehen.
Wann darf man denn sterben oder habe ich (unbegrenzt) biologisch-anthropologisch ein Recht auf ein fremdes Organ?
Natürlich bezweifelt niemand die medizinischen Erfolge und die enorme Erweiterung unseres Spielraumes menschliches Leben zu verlängern und es gibt bestimmt auch im Einzelfall gute Gründe ein Organ zu spenden oder auch zu empfangen, es gibt aber aus ethischer Sicht keine Verpflichtung zur Organspende. Es ist in jedem Fall eine sehr individuelle Entscheidung! Insofern ist m.E. die bisherige Zustimmungslösung ausreichend, eventuell ergänzt um eine wiederholte Abfrage und die Widerspruchsregelung ist abzulehnen.
Das Lesen des Beitrages von Peter Oldorf erzeugte unbewußtes Kopfschütteln. Wenn die Widerspruchslösung schon sein muss, dann ist das immerhin ein gangbarer Weg. Aber auch das ist eine Methode, die irgenddwo im Hinterkopf Widerstand auslöst.
Eine Regelung, die dazu noch absolut freiwillig ist aber eine Win – Win Situation herstellt wäre, dass jeder, der sich als Spender registrieren lässt, im Falle des Bedarfs eines Spenderorgans auch eins bekommt, wenn eins verfügbar ist. Der Nicht-Organspender stellt sich hinten an. Ganz emotionslos. Der Spender hat immer Vorrang. (Win-Win).
Die Administration einer solchen Regelung stellt in unserer digitalisierten Welt sicher kein Problem dar.
@Leo Ritz
„Wenn die Widerspruchslösung schon sein muss“
Sie muss nicht sein.
Für mich kommt zuallererst „die Würde des Menschen ist unantastbar“ und dies gilt auch im Sterben.
Jeder der Spender sein möchte, kann dies kundtun. Einen staatlich verordneten Zwang, bzw. einen Automatismus einzuführen, das jeder Spender ist, kann es nicht geben.
Hier ist die Grenze. Ich stehe nicht automatisch als „Biomasse“ zur Verfügung.
Was Peter Oldorf schreibt, ist sehr interessant.
Mir war das so nicht bewusst, 2. und 3.Spenden, psychische Probleme etc. hatte ich so nicht auf dem Schirm. Mir scheint, dass auch hier getan wird was geht, weil es die Möglichkeit dazu gibt und die Probleme unerwähnt bleiben.
Auch über die ethische Seite wird sich ausgeschrieben. Der, wie Herr Oldorf schreibt „Homo reparandus“, ist doch auch eine Seite, über die nachzudenken wichtig wäre und die Frage, wann darf ich Sterben halte ich für überaus wichtig.
Ihre Antwort geht an den tiefgehenden Fragen völlig vorbei.
Wenn natürlich „Win-Win“ alles ist was zählt, wobei die Frage, wer dabei gewinnt noch offen ist, dann wird selbst das Sterben noch zum Geschäft.
Muss heißen, auch über die ethische Seite wird sich ausgeschwiegen!
Im Gespräch mit Waltraud Meints-Stender und Gunzelin Schmid Noerr merkt der Sozialwissenschaftler Oskar Negt an: „Wir leben in einem kapitalistischen System, das nicht darauf aufgebaut ist, dass den Menschen geholfen wird, sondern dass sie vernichtet werden“ (veröffentlicht in: Online-Ausgabe der Frankfurter Rundschau v. 03.11.2017, 18:49 Uhr). Die Frage, wann man sterben darf, könnte angesichts dessen zentraler nicht sein. Ärztliche Eingriffe, welche das Leben verlängern, intensivieren, so betrachtet, zugleich die Qualen, denen man dadurch ohnehin schon ausgesetzt ist, bis ins Unerträgliche hinein. Nicht von ungefähr spricht Bertold Brecht in einem seiner Gedichte von einem „quälbaren Leib“. Die Debatte um eine Widerspruchslösung bei Organ-Transplantationen setzt deshalb an der völlig falschen Stelle an. Solange es der Medizin zu den bestehenden Verhältnissen lediglich ermöglicht ist, ihrerseits den Leib zu quälen, ergibt es keinen Sinn, die dafür zur Verfügung stehende Zeitspanne noch weiter auszudehnen. Politisch steht zwar die Überwindung solcher Bedingungen ganz oben auf der Tagesordnung. Gegenwärtig ist aber kaum zu erwarten, dass in naher Zukunft Anstalten unternommen werden, die grundlegend daran etwas ändern.
@Anna Hartl:
Ich kann bei Leo Ritz‘ Vorschlag nicht erkennen, dass hier Sterben noch zum Geschäft würde.
Prinzipiell finde ich seinen Vorschlag nachvollziehbar.
Ich persönlich stünde dann hintan, da ich unserer Gesellschaft mittlerweile zutraue, demnächst politisch Unliebsame im Zweifelsfall eher als andere sterben zu lassen.
Es geht mir im Grunde darum, mehr über Organspende aufzuklären. Die Widerspruchslösung verzichtet auf Aufklärung und wirklich freiwillige Entscheidung, da man per Order des Gesetzes automatisch Organspender wird! Organempfänger müssen wissen, dass es eben nicht so eindimensional die tolle Lebensverlängerung ist, sondern dass sie sich damit automatisch dem medizinisch-pharmazeutischem Betrieb unterwerfen, bzw. sich in eine bis zum bitteren Ende andauernde Abhängigkeit begeben.
@Peter Oldorf:
Ich kennen nur eine Person persönlich, die ein Spenderorgan empfangen hat (die andere ist leider bald nach der Transplantation gestorben).
Ich habe bei meinem (zum Glück weiterhin lebensfrohen) Freund aber nicht das Gefühl,dass er sich vor der Organtransplantation der weiteren medizinischen Abhängigkeit nicht bewusst war.
Haben Sie diesbezüglich mehrheitlich andere Erfahrungen?
Der immer noch gültige Befund von Neumann/Virchow, dass die Medizin eine soziale Wissenschaft ist, wird hoffentlich hier im Thread nicht (auch nicht unter der Hand) in Abrede gestellt. Ansonsten würde der Naturalismus, der ohnehin schon seit längerem einen bisher nicht gekannten Boom erlebt, wiederholt fröhlich Urständ feiern. Insbesondere eine Organtransplantation vom sozialen Kontext losgelöst zu diskutieren, ist zwar fiktiv möglich, aber niemals realiter. Insofern gilt es in der Tat, einem homo reparandus nicht auch noch nach Kräften Vorschub zu leisten, indem so getan wird, als ob das menschliche Wesen nicht stets untrennbar an die gesellschaftlichen Verhältnisse gebunden wäre. Oder anders gesagt: Erfüllen Mediziner bei einer Organtransplantation nicht die von Natur aus gegebenen Voraussetzungen sozialer Effizienz, üben sie keinen Heilberuf aus, sondern maßen sich lediglich an, Ärzte zu sein. Von den Bürgern angesichts dessen von Amts wegen darüber hinaus zu verlangen, künftig ausdrücklich Widerspruch einzulegen, anstatt sie von vornherein von solchem Unfug zu verschonen, könnte somit aberwitziger nicht sein.
Der Leserbrief vergleicht Organspender mit Biomüll. Das OP-Risiko, mögliche Probleme mit der Immunsuppression oder der psychischen Akzeptanz des Spenderorgans sprechen für ihn gegen die Organspende – dabei wollen die Menschen mit ihrem Platz auf der Warteliste doch einer lebensbedrohlichen Erkrankung entgehen! Also lieber Tod durch Organversagen zwecks Vermeidung der Nachteile einer Transplantation? Wer das (im Einzelfall womöglich durchaus begründet) so sieht, der gehört nicht auf die Warteliste. Am Ende zieht er gar das Fazit, die bisherige Zustimmungsregelung wäre ausreichend.
Solange aber weiterhin schwerkranke Menschen, die bereits vor ihrer Erkrankung Organspender waren, bei äußerst eingeschränkter Lebensqualität jahrelang auf ein Organ warten müssen, solange jeden Tag solche Menschen auf der Warteliste sterben müssen, weil sie kein Organ erhalten, kann man dies nur zynisch nennen. Um also die Titelfrage zu beantworten: Der Autor und die ihm Gleichgesinnten dürfen jederzeit sterben. Und dann auch ganz „menschenwürdig“ und in-Ruhe-gelassen alle ihre Organe mit ins Grab nehmen. Nur sollten sie nicht die Wartelisten verstopfen dürfen zum Nachteil derer, die leben wollen.
Das Individuum als ein Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse stirbt zunächst den sozialen Tod; erst danach tritt ihm der physische ein. Es ergibt angesichts solch einer von Natur aus gegebenen Logik durchaus Sinn, vorrangig daran anzusetzen, den sozialen Tod zu überwinden, damit der physische möglichst ausgeschlossen bleibt. Dass heutzutage mithin keine andere Option mehr offen steht, als Organe zu transplantieren, um den einzelnen Menschen nicht preiszugeben, ist kein Beleg für die Verwerflichkeit des Ansatzes, vorausgehend sich dem „logos von der societas“ (Adorno) zu widmen. Es erschließt sich insofern das Fazit von Kai Differt nicht. Jederzeit sterben zu dürfen, ist in diesem Thread nicht der Gegenstand der Auseinandersetzung.
In einem Interview der FAZ vom 25.02.2019 erklärt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn: „Die Spende ist und bleibt freiwillig. Wir bauen keinen Druck auf zu spenden. aber mir ist bewusst, dass wir einen Druck aufbauen, sich zu entscheiden. Und mir ist es ebenfalls bewusst, dass wir damit in die Freiheit des Einzelnen eingreifen, sich gar nicht entscheiden zu wollen. Trotzdem ist dieser Eingriff gerechtfertigt. Das sind wir den 10000 Patienten schuldig, die auf Spenderorgane warten.“ Da frage ich mich doch, woher kommt diese Schuld mit welcher ethischen Begründung? Es ist nun mal so, dass wir kein grundsätzlichen Recht, bzw. Anspruch auf ein Spenderorgan haben können. Es ist im positiven Fall, wenn ich ein Organ spenden möchte ein Akt der Nächstenliebe, bzw. ein Geschenk. Das hat mit Win-win-Situation nichts zu tun, übrigens auch nicht mit Fairness, wie schon Erich Fromm in seinem Buch „Die Kunst des Liebens“ beschrieben hat. Denn dabei sind merkantile Erwägungen des Tauschhandels ausschlaggebend und keine ethischen. Für die teleologische Ethik der Utilitaristen sind natürlich die transplantationsfähigen Organe die mit ins Grab genommen werden reine Ressourcenverschwendung. Da ist mir der alte Kant mit seiner Prinzipienethik doch lieber. Wir leben allerdings in einer Zeit in der die selbstverschuldete Unmündigkeit, bzw. Abgabe aller individuellen Freiheiten zum großen Credo geworden ist. Schade!
Der Autonomie des Individuums etwas vorzulagern, ist ein Versuch, der scheitern muss. Geht man davon aus, dass der Mensch ohne Psyche lediglich ein Roboter oder Zombie wäre, ist zumindest zu berücksichtigen, wie sehr psychische Phänomene nicht-funktional sind; was bis zur Zerstörung der biologischen Funktionalität reichen kann (Castoriadis). Wird also von Dritten solch ein Zugriff unternommen, entziehen sozioökonomische Mechanismen den Einzelnen unwiederbringlich. Damit ist nichts gewonnen. Im Gegenteil. Alle stehen anschließend mit leeren Händen da. Es bleibt demnach dabei: Eine Widerspruchslösung angesichts offen auf dem Tisch liegender Erkenntnisse wischt dieselben bloß von demselben. Anstatt die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen und gleichsam blind Organe zu transplantieren, könnte schon die praktische Vernunft gebieten, darin innezuhalten.
Die für mich wertvollste Aspekt im Leserbrief von Peter Oldorf ist der, dass die Erfolgsaussichten für den Organempfänger wohl häufig zu positiv eingeschätzt werden (von Teilen der Öffentlichkeit) und auch dargestellt (von Teilen des Systems, die von Transplantationen profitieren).
Warum sollte das hier auch anders sein als bei manch anderen Behandlungen, die – z. B. aufgrund falsch gesetzter Anreize im Gesundheitssystem – sich in manchen Fällen als nicht hilfreich (oder schlimmer) herausstellen.
Als Patient bleibt einem nur, sich möglichst umfassend zu informieren, um dann so aufgeklärt wie möglich zu entscheiden, ob bzw. wie man sich behandeln lässt. Es ist aber letztlich am Patienten selbst, in die jeweilige Behandlung einzuwilligen oder sie zugunsten einer anderen oder keiner Behandlung abzulehnen. Eine verstärkte Aufklärung hierzu kann man also nur begrüßen!
Im besten Fall verringert sich dadurch die Anzahl derjenigen Transplantierten, die von ihrer Entscheidung nicht profitieren oder sie gar bereuen. Auch entlastet es die Wartelisten und verbessert die Aussichten für diejenigen, die sich – möglichst gut informiert und damit hoffentlich richtigerweise – dafür entscheiden.
Noch etwas anderes muss aber gesagt werden: Es fällt schon sehr auf, wie wenig bis gar nicht in den meisten Kommentaren die Nöte der Patienten auf den Wartelisten (und ihrer Angehörigen) überhaupt nur vorkommen.
Ebenfalls auffällig ist, wie wenig – gar nicht! – all die Erklärungen gegen das Transplantationswesen von einem Bekenntnis contra jeden möglichen Organempfang für sich selbst (oder Angehörige) begleitet ist.
Man wird sich kaum auf Adorno oder Kant berufen können, wenn man sich als möglicher Organspender ausschließt, aber gleichzeitig die Option auf einen Organempfang offen hält – auch zu Lasten eines anderen, vorab spende-bereiten Menschen. Dieser ethische Doppelstandard entlarvt sich einfach und schnell in der Ablehnung einer Priorisierung der Wartelisten zugunsten der vorab als spendebereit registrierten Menschen. Wenn jemand das Transplantationswesen ablehnt oder nichts damit zu tun haben will, solange er oder sie gesund ist, gilt das auch im Krankheitsfall.
Auch damit entlasten wir die Wartelisten, womöglich sogar derart, dass kaum noch jemand auf ein Organ warten muss! Die Zustimmungslösung bleibt, alle sind zufrieden. Oder etwa doch nicht? Seien wir gespannt auf die kommenden elaborierten Argumentationen, warum das nicht richtig ist und bei der Organspende Nehmen doch seliger ist als Geben…
@Kai Differt:
Das stimmt so nicht. Ich habe mich durchaus für einen Vorzug für bekennende Selbstspender auf den Wartelisten ausgesprochen. Mit der entsprechenden Konsequenz für mich selbst.
@Kai Differt
Ihren letzten Absatz verstehe ich nicht “ auch damit entlasten wir die Wartelisten, womöglich sogar derart, dass kaum noch jemand auf ein Organ warten muss“. Es werden doch keine Organe „vorgehalten“ (was, wie ich verstanden habe auch gar nicht möglich ist) sondern es geht immer nur um den konkreten Fall und nicht um etwaige mögliche andere Menschen, die evtl. irgendwann ein Organ benötigen. Folglich ändert sich an der Wartesituation dadurch auch nichts.
Ich glaube auch nicht, dass sich alle Menschen die heute ein Organ benötigen, sich vorab als Spender registriert haben.
Sie prangern den ethischen Doppelstandard bei Menschen an, die nicht gezwungen werden wollen, sich entscheiden zu müssen.
In wie vielen Bereichen dieses Lebens gibt es denn noch etische Doppelstandards?
Sie brauchen sich nur in den „Seniorenheimen“ umzusehen.
Ethik in einem Bereich einzufordern und die vielen Notsituationen in anderen Bereichen auszublenden ist dem Thema Ethik nicht dienlich.
Ethik, Verantwortung und Mitgefühl sind in vielen Bereichen des Lebens wünschenswert.
Leider kommen diese selten vor.
Ich arbeite im sozialen Bereich, ich sehe wie dieser grandiose Gesetzgeber die „Daumenschrauben“ über die Dokumentationsflut ansetzt, wo ethische Grundlagen immer mehr ins Hintertreffen geraten. Wo es auch in diesem Bereich nur um die erbrachte und bezahlbare Leistung der Sozialarbeiter geht.
Also erzählen Sie mir nichts über Ethik und schauen sich die Doppelstandards, die in dieser Gesellschaft sonst noch am wirken sind an.
Mir fällt es sehr schwer, mich von dem Druck, den Herr Spahn hier erzeugt zu befreien, um das Thema anders anzugehen. Ich bin nicht der Meinung, dass der Gesetzgeber das Recht hat, derart in meine individuelle Freiheit einzugreifen.
Sie schreiben von den Nöten der Betroffenen und deren Angehörigen.
Haben Sie sich auch Gedanken über die Ängste und Nöte der möglichen Spender gemacht? Haben Sie sich Gedanken über das Thema Hirntod gemacht? Über das fehlende Wissen, was ein Mensch noch fühlt beim nahenden Tod? Ethik Herr Differt muss auch die Sterbenden einbeziehen.
@ Anna Hartl
Ich werde mich nicht weiter in diese Debatte einmischen, aber ich wollte ausdrücken, dass ich Ihnen sehr zustimme, was Sie zu Ethik, Verantwortung und Mitgefühl sagen.
„Mir fällt es schwer, mich von dem Druck, den Herr Spahn hier erzeugt zu befreien, … Ich bin nicht der Meinung, dass der Gesetzgeber das Recht hat, derart in meine individuelle Freiheit einzugreifen.“
So etwas fällt mir auch schwer.
Um auf die von Herrn Oldorf angesprochene Prinzipienethik von Kant zurückzukommen: Dass der Autonomie des Individuums nichts vorgelagert werden kann, ist nicht bloß eine faktische, sondern eine prinzipielle Schranke. Im realen Leben lässt sie sich nicht überschreiten. Sämtliche Bestrebungen, sich dennoch von der natürlichen Gestalt des Menschen zu emanzipieren, enden demnach stets in der Katastrophe. Angesichts dessen von einem „Doppelstandard“ zu reden, so, als ob es doch welche gibt, die davon enthoben sind, verkennt die wirklichen Verhältnisse, die solch eine Ausnahme nicht kennen und auch nicht zulassen. Der Einwand von Kai Differt entpuppt sich somit als blanke Chimäre, die für die Fortführung der Debatte hier nichts weiter austrägt.
@Deutscher Michel: Sie haben vollkommen Recht. Ich bitte um Entschuldigung!
@Anna Hartl: Zu Ihrer Rückfrage nach meinem letzten Absatz: Sie schreiben ja selbst, dass
wahrscheinlich längst nicht alle Patienten auf den Wartelisten vor der eigenen Erkrankung
ihrerseits zur Organspende bereit waren. Das denke ich auch.
Dafür kann es viele Gründe geben, „gute“ oder „schlechte“, je nachdem, wen man fragt.
In jedem Fall aber würde eine zukünftige Priorisierung diese Menschen davor bewahren, entgegen ihrer Ablehnung der Organspende (oder entgegen ihres Wunsches, mit dem Thema in Ruhe gelassen zu werden) auf der Warteliste zu landen. Das verbessert dann die dortige Situation sehr wohl!
Und ich prangere keineswegs an, dass Menschen nicht gezwungen werden wollen, sich entscheiden zu müssen. Das ist ja auch nicht einmal Gegenstand der diskutierten Widerspruchslösung.
Ich prangere noch nicht einmal an, das Menschen sich nicht entscheiden wollen.
Auch das ist nachvollziehbar und legitim.
Was ich als nicht haltbar herausstelle: Menschen, die sich als Gesunde dauerhaft NICHT ALS SPENDER (für den Fall ihres Hirntods) zur Verfügung stellen, die aber im Falle eigener
Bedürftigkeit DOCH EMPFÄNGER sein wollen, und das sogar zu Lasten anderer Bedürftiger, die sehr wohl vorab spendebereit waren.
Und natürlich ein System, was genau diesen Missstand hervorbringt (was sowohl mit der
bisherigen als auch mit der diskutierten möglichen Nachfolgerelung der Fall ist).
Dann schreiben Sir mir noch: „Erzählen Sie mir nichts über Ethik…“.
Am 23.2. (lange vor meinem ersten Beitrag) haben Sie noch beklagt: „…über die ethische Seite wird sich ausgeschwiegen.“
Darf ich das merkwürdig finden?
Sie verweisen dabei auch auf die Missstände und Doppelstandards in allen möglichen anderen
gesellschaftlichen Bereichen: Ja, die gibt es, unbestritten! Aber Sie können diese doch nicht ernstlich dafür heranziehen wollen, dass wir uns dann konsequenterweise auch im Bereich des
Transplantationswesens nicht um Misstände kümmern sollten.
Nein, ich muss nicht erst all die Missstände in anderen Bereichen angegangen sein, um mich hier
zu dem sehr konkreten Bereich Organspende äußern zu dürfen. Sollen wir etwa alle erst auf den Weltfrieden warten müssen, bevor wir uns in einer bestimmten (und gut abgrenzbaren)
Angelegenheit engagieren dürfen?
Zu Ihrem letzten Absatz: „Ethik muss auch die Sterbenden einbeziehen.“ So ist es! Aber wiederum sehen Sie nur oder zumindest überwiegend die eine Seite. Es gibt die sterbenden (oder schon gestorbenen, je nach Sichtweise) „Hirntoten“, auf die Sie sich beziehen. (Anführzeichen, weil sie eben je nach Sichtweise noch nicht „wirklich“ tot sind.) UND es gibt die sterbenden Patienten auf den Wartelisten!
Darum geht es doch gerade: Beide Seiten gleichermaßen im Blick zu haben!
Ob ich mir Gedanken zum Hirntod mache und zu den Ängsten und Nöten eines potenziellen Spenders oder seiner Angehörigen? Was glauben Sie denn? Natürlich! Meinen Sie, mir ist nicht mulmig bei dem Gedanken, dass ich oder ein mir nahestehender Mensch zum Organspender wird?
Zwar habe ich eine rationale Haltung, aufgrund derer ich zur Spendenbereitschaft tendiere. Aber ich bin nicht so abgeklärt oder abgebrüht, dass mir diese Haltung auch emotional leicht fiele. Das tut sie nicht! Es fiele mir durchaus schwer, mich als Spender registrieren zu lassen. Ich kann auch (Stand heute) nicht sicher sagen, ob ich das täte.
Ich kann aber sicher sagen, dass ich eine Regelung grund-falsch finde, unter der es möglich, sogar normal ist, dass ich als Nicht-Spende-Bereiter eher ein passendes Organ bekomme als ein Spende-Bereiter.
@Kai Differt
Bisher habe ich von Ihnen nicht gelesen, dass Sie beide Seiten im Blick haben.
Im Gegensatz zu Ihnen ist sich Herr Spahn durchaus bewusst, dass mit der Widerspruchslösung der Mensch gezwungen wird, sich zu entscheiden.
Ich verstehe, wenn Sie nicht damit einverstanden sind, dass jemand bei Bedarf sich zwar nicht als Spender registriert hat, aber trotzdem ein Organ erhalten möchte. Das gibt dem Staat aber trotzdem nicht das Recht, zunächst einmal alle Menschen zu Spendern zu erklären. Was Sie befürworten empfinde ich als einen Eingriff in etwas, was von Haus aus unveräußerlich ist und bleiben muss.
Ja, ich habe mich missverständlich ausgedrückt und nein, ich wollte nicht sagen, dass man sich nicht im Bereich Transplantationswesen engagieren soll. Sehe nur einen gewaltigen Unterschied zwischen Engagement und einem Eingriff des Staates in meine persönliche Freiheit, in dem dieser mich grundsätzlich zum Spender erklärt und nur wenn ich widerspreche bin ich es nicht. Für mich kommt das einer Unmündigkeitserklaerung schon sehr nahe.
Herr Spahn versucht hier den Weg des vermeintlich geringeren Widerstandes zu gehen in einem hochsensiblen Bereich.
Den ethischen Doppelstandard haben Sie beklagt. Ich spreche von der Ethik des Vorgangs grundsätzlich.
Was ich vermisse ist das gleiche Engagement in vielen, ebenfalls sehr drängenden Bereichen.
Kostet wohl etwas mehr als die Erklärung aller hier lebenden Menschen zum Spender.
Ihren letzten Absatz verstehe ich nicht. Woher stammt das Wissen das ein Nicht-Spendebereiter eher ein Organ erhält als ein Spendebereiter?
Kann ich das so verstehen, dass Ihnen Gerechtigkeit in diesem Bereich am Herzen liegt?
Dafür muss es aber noch einen anderen als den von Herr Spahn favorisierten Weg geben.
Im Endeffekt, wenn ich Ihre Worte richtig verstehe, erwarten Sie, Leid gegen Leid abzuwägen. Oder geht es nur darum zu erklären, wenn ich mir nicht vorstellen kann als Spender zur Verfügung zu stehen, auch kein Organ erhalten zu wollen?
In der Diskussion müssen 2 Missverständnisse ausgeräumt werden.
Erstens ist es nicht so, dass es eine zwanghafte Verbindung von Spendern und Organempfängern gibt. Will heißen man kann nicht eins vom anderen abhängig machen. Der Organspendeausweis wird so als Ticket für ein zukünftig selbst zu empfangendes Organ mißverstanden. Es ist medizinisch nachweislich so, dass viele Organempfänger selbst nicht als Organspender in Frage kommen weil sie zu krank sind, bzw. Ausschlußkriterien wirksam werden. Zweitens blockiert niemand der nicht spenden will die Wartelisten, auch wenn er selbst vielleicht eines Tages ein Organ bräuchte um weiterleben zu können. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, es gibt keinen bindenden Vertragsabschluss wie bei einem Kauf! Im übrigen entscheidet sich die Vergabe der Organe anhand sehr differenzierter Laboranalysen (Prüfung der Human Leukozyten Antigene)etc., d.h. hier entscheidet letztlich die genetische Kompatibilität. Außerdem werden im eigenen Land gespendete Organe durch die Stiftung Eurotransplant auch vorwiegend im eigenen Land vergeben.
@Peter Oldorf:
Die von Ihnen geschilderte Verbindung hat hier – glaube ich – niemand gesehen. Sie wurde hier nur als Vorschlag diskutiert.
Das heißt man kann sogar davon ausgehen, dass man als Bürger des Landes bevorzugt wird. Es spielen eben auch viele andere Faktoren bei der Vergabe eine Rolle. Z.B. die Haltbarkeit eines entnommenen Organes. Es muß dann alles ganz schnell gehen wegen der sogenannten Ischämietoleranz, sprich Sauerstoffmangelzeit. Wenn die entsprechenden Gen- und Blutgruppenmerkmale übereinstimmen und auch ein zum gleichen Zeitpunkt überhaupt transplantationsfähiger! Organempfänger bereitsteht, erfolgt die Vergabe. Das kann dann auch ein Patient sein, der weiter hinten auf der Warteliste steht.
Es gäbe ja eine Lösungsmöglichkeit für die meisten Menschen, unabhängig von ihrer Einstellung zur Organspende. Nur die Fremdbestimmer werden sich damit nicht anfreunden können, denn die wollen ja (auch) für andere entscheiden. Umso wertvoller wäre die Lösung für alle auf Selbstbestimmung bedachten Menschen.
Man gründet einen Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit.
Die Leistung: Spenderorgane werden vorrangig unter den Mitgliedern zugeteilt.
Innerhalb der Mitglieder gelten die bisherigen Vergabekriterien.
Nur wenn ein Organ zu keinem Mitglied passt, darf es an ein Nicht-Mitglied gehen.
Der Beitrag: Die Registrierung als Organspender – natürlich OHNE Änderungs- bzw. Vetorecht durch jemand anderes.
Der Artikel „So geht der Staat an die Nieren“ (FAZ, 17.7.2014) zeigt am Beispiel Israels auf, wie albern in diesem Zusammenhang eine Regelung ist, die Angehörigen ein Vetorecht einräumt.
Die Gegner der Widerspruchsregelung bekommen, was sie (vorgeben zu) wollen:
Niemand ist automatisch Organspender!
Und für die Angehörigen hirntoter Mitglieder gibt es keinerlei Entscheidungsdruck mehr, egal von welcher Seite.
Der Betroffene selbst hat seine Entscheidung verfügt, und die gilt.
Befürworter des Transplantationswesens treten dem Verein bei.
(Missbrauch lässt sich u. a. mit einer Wartezeit verhindern.)
Wer es sich als Mitglied anders überlegt, tritt wieder aus.
Gegner des Transplantationswesens treten dem Verein nicht bei.
Ein dann weiter anhaltender „Organmangel“ bei den Nicht-Mitgliedern ist dann nur noch im medizinischen Sinn ein Organmangel, aber kein ethischer mehr.
Ein weiter anhaltender Organmangel bei den Mitgliedern kann nur durch Vorbeugung, Aufklärung und medizinische Fortschritte gemindert werden.
Und durch ein Gesundheitswesen, das mehr Menschen überzeugen und als Mitglied werben kann.